Former Greek Minister of Finance talks about his utopian novel
Die meisten Leserinnen und Leser der
Einer breiten Öffentlichkeit wurde Varoufakis 2015 bekannt. Nachdem er sich bereits zuvor in Zeitungsartikeln und auf seinem Blog zur Eurokrise geäußert hatte, kandidierte er 2014 auf der Liste der linken SYRIZA-Partei und wurde Anfang 2015 als Finanzminister im Kabinett von Alexis Tsipras vereidigt. Obwohl er schon im Juli des gleichen Jahres wieder von seinem Amt zurücktrat, avancierte er in diesem halben Jahr zum Medienstar und wurde vorübergehend zum Gesicht der griechischen Krise, wozu sicher auch sein unorthodoxes Auftreten beitrug – kaum ein Zeitungsartikel unterließ es damals, Varoufakis’ Lederjacke oder sein Motorrad zu erwähnen.
Zwar ist Varoufakis medial derzeit deutlich weniger präsent als während seiner Zeit als Finanzminister, seine politische Aktivität hat aber nicht nachgelassen. 2018 gründete er die Partei MeRA 25, die mit der paneuropäische Bewegung Demokratie in Europa 2025/Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25) verbunden ist. 2019 wurde er gemeinsam mit acht weiteren MeRA-25-Kandidat_innen erneut ins griechische Parlament gewählt. Seine Kandidatur als Spitzenkandidat von DiEM25 für das Europa-Parlament, die im gleichen Jahr erfolgte, blieb dagegen erfolglos.
Vergangenes Jahr erschien schließlich der Roman
All dies und noch zahlreiche andere Dinge beschreibt Varoufakis ausführlich. Er tut dies allerdings nicht in Form eines Traktats, sondern bettet seinen Gesellschaftsentwurf in ein SF-Szenario ein. Ausgangslage ist eine Erfindung des Computer-Genies Costa. Diesem gelingt es, Kontakt mit einer Parallelwelt, eben dem Other Now, aufzunehmen. Wie sich herausstellt, ist diese alternative Realität 2008 von unserer Welt abgezweigt. Sie ist damit noch nahe genug an unserer Gegenwart, um direkte Vergleiche zu ermöglichen. Costa ruft zwei Freundinnen, die libertäre Ökonomin Eva und die radikal-linke Feministin Iris, herbei, und gemeinsam kommen die drei mit ihren Gegenstücken ins Gespräch. In dem SF-Setup, das Varoufakis entwirft, ist Kommunikation über die Welten hinweg nur mit einem Individuum möglich, das die gleiche Erbinformation besitzt. Da die beiden Welten noch nicht allzu lange getrennte Wege gehen, existiert im Other Now zu jedem Costa ein Kosti respektive zu jeder Eva eine Eve. In der Folge tauschen sich die drei Figuren mit ihren Alter Egos aus und diskutieren untereinander, was sie erfahren haben.
Indem er seine Gesellschaftsskizze in einen erzählerischen Rahmen kleidet, folgt Varoufakis dem etablierten Genremuster. Bereits Thomas Morus bediente sich in seiner
Im klassischen Utopie-Modell, das beginnend mit
Dass Varoufakis ein Faible für fantastische Genres hat, zeigte sich bereits in dem 2017 erschienenen
Yanis Varoufakis: Ich würde mich selbst nicht als SF-Experten oder -Fan bezeichnen, aber ich war immer an dem Genre interessiert. Für mich war SF nie etwas von der übrigen Literatur Abgesondertes – oder vom allgemeinen Denken überhaupt. Platos
Ich bin wie alle Angehörigen meiner Generation mit S
Yanis Varoufakis
Yanis Varoufakis: Leider ist fast alles, was ich heute lese, zweckgebunden. In den vergangenen Jahren wurde mir mein Leben regelrecht weggenommen. Ich lebe mit einer konstanten Deadline; alles, was ich tue, wird von Fristen und Abgabeterminen diktiert. Aber in meinem früheren Leben war ich ein sehr fleißiger Kinogänger. Ich ging nicht selten fünfmal in der Woche ins Kino, manchmal sah ich zwei Filme an einem Tag. Heute komme ich kaum noch dazu, Filme zu schauen. Ein Umstand, unter dem ich sehr leide.
Yanis Varoufakis: Ich habe mir fast alles angeschaut – vom obskursten Kurosawa-Film bis zu D
Beim Lesen ist es ähnlich. Ich habe mich nie nur auf SF konzentriert. Sie war für mich einfach ein Teil all der Genres und Milieus, die mich beeinflusst haben. Was mich schon sehr früh fasziniert hat, war der philosophische Aspekt des Genres, etwa die Psychohistorie in Isaac Asimovs
Yanis Varoufakis: Ich entstamme einer linken, marxistischen Tradition, und Marx und Engels nehmen im
Yanis Varoufakis:
Als ich mit dem Schreiben begann, wurde mir allerdings schnell klar, dass ich einen ganz anderen Ansatz wählen musste als bei
Yanis Varoufakis: Genau. Es war mir schlicht unmöglich, einen Satz wie »Ich glaube, die Banken müssen so und so organisiert sein, Firmen dagegen auf diese und jene Weise« zu schreiben. Bereits die Vorstellung, einen solchen Text zu verfassen, erschien mir schrecklich langweilig. Vor allem aber bin ich mir bei vielen Dingen nicht sicher, wie sie am besten organisiert sein sollten. Ich habe mehrere Stimmen in meinem Kopf, die mir unterschiedliche Antworten geben, wie man ein bestimmtes Problem lösen soll. Die Strategie, auf die ich mich dann verlegt habe, war, aus diesen Stimmen Figuren zu machen und das Buch mit ihnen zu bevölkern. Und so habe ich auf einmal einen Roman geschrieben – oder wohl eher einen Pseudo-Roman.
Another Now
Yanis Varoufakis: Es kommt sehr darauf an, welche Ebene Sie meinen. Wenn es darum geht, wie Politiker öffentlich miteinander sprechen, haben Sie leider recht. Ich bin ja erst seit sechs Jahren Politiker, vorher war ich jahrzehntelang Wissenschaftler. Wenn es etwas gibt, was ich am Beruf des Politikers zutiefst verabscheue, dann ist es die Tatsache, dass man seine Meinung nicht ändern darf. Gute Wissenschaftler_innen lassen sich überzeugen, sie sind jederzeit bereit, ihre Meinung zu ändern. Diejenigen, die dazu nicht imstande sind, sind entweder sehr jung oder Fanatiker. Alle, die sich ihres eigenen intellektuellen Werts sicher sind, lassen sich dagegen gerne eines Besseren belehren. Ich habe das immer wieder erlebt, und es waren stets wunderbare Momente. In der Politik ist so etwas ganz unmöglich.
Nehmen wir zum Beispiel eine Fernsehdiskussion: Selbst, wenn ich mit göttlichen Überzeugungskräften ausgestattet und deshalb in der Lage wäre, meinem Gegenüber klarzumachen, dass ich recht habe und er sich irrt, würde er das nie zugeben. Denn wenn er es täte, wäre er seinen Job los.
Ich bin allerdings davon überzeugt, dass sich die Sache ganz anders verhält, wenn es um die Kommunikation mit potenziellen Wähler_innen geht. Eines meiner erklärten Ziele als Politiker ist es, den Leuten klarzumachen, dass Demokratie ein System für Menschen ist, die nicht glauben, auf alles bereits eine Antwort zu haben. Es ist ein System, bei dem wir alle zusammen Lösungen »crowdsourcen«. Weil niemand in der Tiefe seines Herzens wirklich glaubt, alle Antworten zu kennen.
Man muss den Menschen zwei Dinge klar machen. Da wäre erstens Ambivalenz. Es ist wichtig, dass man zu seinen Selbstzweifeln steht. Wer das nicht tut, ist letztlich ein Fanatiker. Zweitens muss man die Fähigkeit besitzen, offen zu sagen, dass alles nur vorläufig ist. »Ausgehend von den wenigen Dingen, die wir wissen, scheint uns diese Vorgehensweise am erfolgversprechendsten. Also versuchen wir es. Und wenn wir fertig sind, überprüfen wir, was wir gemacht haben, und diskutieren dann weiter.« In meiner Erfahrung reagieren die Menschen sehr positiv auf diese Haltung. Wir haben alle genug von diesen Politikern – es sind meistens Männer –, die so hochtrabend daherkommen und sich gebärden, als seien sie die Hüter aller Weisheit.
Yanis Varoufakis: Ich liebe Technologie und bin fasziniert von Geräten wie Computern und Mobiltelefonen. Als Student habe ich auch Kurse in Informatik belegt. Ich lernte, in Sprachen wie C, Fortran oder Pascal zu programmieren, und schrieb meine eigenen Algorithmen. Heute kann ich das freilich nicht mehr, ich habe zu viel vergessen. Trotz meiner Begeisterung für Computer würde ich mich aber nicht als Geek bezeichnen. Ich denke, für einen Geek ist mir das destruktive Potenzial dieser Technologien zu sehr bewusst.
Yanis Varoufakis: In dieser Hinsicht hat mich mein Vater ganz wesentlich beeinflusst; ein Mensch, der übrigens keine Ahnung von SF hatte und sich auch nie dafür interessiert hätte. Mein Vater war Chemiker und der Chef der Qualitätskontrolle in der griechischen Stahlindustrie. Er liebte Metall – er war ein regelrechter Metall-Freak – und lehrte mich schon als kleiner Junge, dass Geschichte von technischen Neuerungen angetrieben wird. Er nahm mich auch in die Fabrik mit; ich kann mich gut daran erinnern, wie ich mit großer Ehrfurcht zusah, wie das flüssige Metall aus dem Hochofen floss.
Mein Vater war zudem sehr an Geschichte interessiert. Er liebte es, mir zu erklären, wie Neuerungen in der Metallverarbeitung den Gang der Geschichte verändert hatten. Die Menschheit machte den Übergang von Kupfer zu Eisen, und mit einem Schlag wurde Geschichte nicht mehr in Jahrtausenden, sondern in Jahrhunderten gemessen. Mit der Industriellen Revolution kam dann der Stahl, und nun war das Jahrzehnt die entscheidende Maßeinheit. Später, mit dem Elektromagnetismus und der Maxwell’schen Gleichung, wurde alles in Jahren gezählt. Ich kann mich erinnern, wie er prophezeite, dass sich die Geschichte im Minutentakt ändern würde, wenn wir erst einmal Computer in unseren Wohnungen und Häusern hätten. Das war in den 1960er-Jahren!
Mein Vater war aber alles andere als ein naiver Techno-Optimist. Er betonte immer, dass die gleichen technischen Verfahren, die den Bau des Parthenon ermöglichten, auch Zivilisationen zerstörten und das Leben unzähliger Menschen ruinierten. Kernenergie hat in der Medizin unglaubliche Dinge möglich gemacht, aber sie hat uns auch Hiroshima gebracht. Gleichzeitig ein Technik-Optimist und technophob zu sein, stellte für mich nie einen Widerspruch dar. Ich bin vielmehr davon überzeugt, dass dies die einzige vernünftige Haltung ist.
Yanis Varoufakis: Ganz und gar nicht. Technik stellt Werkzeuge bereit, diese sind aber nicht in einem Vakuum wirksam. Technik kann Prozesse beschleunigen, aber sie ändert nichts an den Grundlagen. Der Glaube, dass sich politische Probleme alleine mit technischen Neuerungen lösen lassen, ist im besten Fall naiv. In meinem Buch steht die Figur von Costa für diese Haltung. Allerdings verlässt er Silicon Valley schließlich völlig desillusioniert.
Yanis Varoufakis: Den Titel habe ich mir selbst gegeben. Ursprünglich wurde ich als
Yanis Varoufakis: Die Games von Valve sind riesige Multi-Player-Universen, und in diesen virtuellen Welten sind gewisse Güter knapp. Es gibt Zubehör wie Waffen oder Kleidungsstücke, die man nicht einfach kaufen kann, sondern die man zufällig entdeckt, sogenannte Drops. Ursprünglich gab es kein Konzept hinter diesen Drops, und manche Objekte waren nur deshalb rar, weil die Macher das Design eines bestimmten Hutes oder Schwerts nicht mehr interessant fanden und es aufgaben. Bei Valve beobachtete man aber, dass sich um diese Drops Märkte bildeten. Die User begannen zu handeln – mit echtem Geld. Man traf sich im Spiel und einigte sich auf einen Preis, der dann außerhalb des Spiels überwiesen wurde, zum Beispiel per Paypal. Es konnte als vorkommen, dass eine Spielerin aus Illinois einem Teenager aus Shanghai, den sie nur als Avatar im Spiel kannte, für einen besonders schönen Schild 2’000 Dollar überwies.
Valve hatte ohne jede Absicht oder Plan ein Wirtschaftssystem erschaffen. Ich wurde engagiert, um diese Wirtschaft zu regulieren. Dabei ging es einerseits darum, die User zu schützen; vor Blasenbildung, aber ebenso vor Betrug. Natürlich wollte Valve auch von dieser Wirtschaft profitieren und den Gewinn nicht anderen Firmen überlassen.
Yanis Varoufakis: Es war einfach großartig! Man sagt ja, dass Gott keine Statistiken braucht, weil sie ohnehin alles weiß. Genau so war es auch bei mir. Bis dahin musste ich Labor-Experimente durchführen, was eine mühsame Angelegenheit ist. Man muss Anträge für die Finanzierung stellen, bei der Ethikkommission vorstellig werden und die ganze Sache dann aufbauen. Von der Idee bis zur Durchführung des Experiments dauert es gut ein Jahr. Bei Valve benötigen meine Experimente lediglich zehn Sekunden. Dabei standen mir 100 Millionen Spielerinnen und Spieler zu Verfügung.
Yanis Varoufakis: Ich muss gestehen, dass ich mit Games nie viel anfangen konnte. Als junger Mann habe ich Games wie
Yanis Varoufakis: Man muss zwischen der Blockchain als grundlegender Technologie und Kryptowährungen wie Bitcoin unterscheiden, die sich dieser Technologie bedienen. Mich hat Bitcoin schon sehr früh fasziniert, ich habe damals sogar den Code gelesen, der als Open Source verfügbar ist. Wie ich bereits
Yanis Varoufakis: Das ist vollkommen richtig. Die Leute, die hinter Bitcoin stehen, haben ein grundlegend falsches Verständnis von Geld. Sie sind der Überzeugung, dass Geld seinen Wert durch Knappheit erhält. Aber das ist schlicht und ergreifend falsch. Der Wert von Geld gründet in dem Umstand, dass ich damit meine Steuern bezahlen kann. Geld ist inhärent politisch, und das muss auch so sein. Insbesondere, wenn kapitalistische Produktionsbedingungen herrschen, denn in einem solchen System muss die Möglichkeit bestehen, die Geldmenge zu regulieren. Bitcoin ist im Grunde nichts anderes als eine digitale Version des Goldstandards. Der Goldstandard war aber bereits in den 1920er-Jahren eine schlechte Idee, und daran hat sich bis heute nichts geändert.
Was die Blockchain in meinen Augen interessant macht, ist, dass sie dezentral, transparent und anonym funktioniert. Es gibt keinen einzelnen Punkt, von dem aus sich das System manipulieren ließe. Alles ist über ein Netzwerk verteilt. Und obwohl man jede Transaktion nachverfolgen kann, bleiben die einzelnen Benutzerinnen und Benutzer anonym.
Yanis Varoufakis: In meiner Zeit als griechischer Finanzminister habe ich eine Parallelwährung entwickelt, die auf der Blockchain basierte. Die Idee dahinter war, der Regierung mehr Freiheit, einen größeren finanzpolitischen Spielraum zu verschaffen. Der Nennwert dieser Währung war an den Euro gekoppelt, sie wäre aber nicht exportierbar gewesen, hätte das Land also nicht verlassen können. Alles war bereit, das Projekt wurde aber nicht umgesetzt. Premierminister Alexis Tsipras gab mir nie grünes Licht, was letztlich auch der Grund war, warum ich von meinem Amt zurücktrat.
Das Hauptproblem einer solchen Parallelwährung war in meinen Augen das mangelnde Vertrauen. Wie hätten die Leute angesichts der allseits bekannten Korruption des griechischen Staates dieser neuen digitalen Währung vertrauen können? Wie könnten sie sicher sein, dass die Politiker nicht einfach beliebig viele Einheiten dieser Währung produzieren würden? Dieses Problem haben im Grunde alle Währungen. Niemand weiß mit letzter Sicherheit, wie viel Geld die Fed druckt, wir müssen den offiziellen Aussagen vertrauen. Bei einer auf der Blockchain basierenden Währung ist aber jederzeit bekannt, wie viele Einheiten im Umlauf sind. Diesbezüglich herrscht volle Transparenz, zugleich ist bei privaten Transaktionen aber nach wie vor Anonymität gewährleistet.
Yanis Varoufakis: 2008 ist ein historischer Wendepunkt. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass der Kapitalismus 2008 zu seinem Ende gekommen ist. Kapitalismus ist eine Bestie, die von Rentabilität oder – in marxistischer Terminologie – von Kapitalakkumulation angetrieben wird: Profit wird in neue Kapitalgüter investiert, was neuen Profit bringt, der wieder investiert wird, und so weiter. Das ist eine der Säulen des Kapitalismus und wird von niemandem bestritten, unabhängig von der jeweiligen politischen Position. Die zweite Säule ist ein Mindestmaß an Wettbewerb. Dieser garantiert, dass auch große Konzerne im Zaum gehalten werden. Darum ging es auch Adam Smith, als er über die Macht des Wettbewerbs schrieb.
Beide Säulen existieren heute nicht mehr. Die Nationalbanken haben 2008 den Finanzsektor gerettet, indem sie ihn mit Geld überschwemmten, mussten in der Folge aber feststellen, dass sie sich nicht mehr zurückziehen konnten. Offiziell wurde Quantitative Easing, wie diese Strategie genannt wird, zwar beendet, tatsächlich haben die Notenbanken aber nie damit aufgehört. Sie reinvestieren weiterhin in Obligationen und Aktien und halten so das System am Laufen. Bei den kleinsten Anzeichen von Schwierigkeiten, sei es 2018 oder zu Beginn der Pandemie, begannen sie sofort wieder mit dem Drucken von Geld. Die Bestie ist nun vollständig von staatlichem Geld abhängig, was dazu führt, dass der Profit, den große Konzerne erwirtschaften, komplett vom Reichtum, den sie schaffen, abgekoppelt ist. Firmen wie Tesla, Facebook oder Amazon machen kleine oder sogar gar keine Gewinne, ihr Wert steigt aber dennoch in absurde Höhen. Und jene Firmen, die einen Gewinn machen, legen diesen auf die Seite, anstatt ihn zu investieren, wie es die Regeln des Kapitalismus eigentlich vorschreiben würden. Firmen wie Volkswagen oder Apple horten Milliarden, was aus kapitalistischer Perspektive völlig sinnlos ist. Vom Standpunkt eines feudalistischen Systems aus gesehen ergibt es aber sehr wohl einen Sinn.
Zur zweiten Säule ist zu sagen, dass wir bei digitalen Plattformen wie Airbnb, Uber, Facebook oder Amazon längst jenseits dessen sind, was normalerweise als Monopol bezeichnet wird. Wenn ich mich auf die Website von Amazon begebe, verlasse ich faktisch den Kapitalismus – hier gibt es keinen Markt mehr. Man kann es mit einem Dorf vergleichen, in dem ein Mann – es ist meistens ein Mann – nicht nur die einzige Hamburgerbude besitzt, sondern auch alle anderen Läden und Gebäude, alle Gehsteige und das Straßenpflaster, alle Kirchen sowie die Luft, die wir atmen. Darüber hinaus kann er unsere Blicke lenken und auf diese Weise steuern, was wir sehen. Das ist nicht mehr Kapitalismus, sondern Feudalismus. Gestützt durch den König, der in diesem Fall staatliches Geld ist. Ich nenne dieses System Technofeudalismus, angelehnt an das von John Kenneth Galbraith geprägte Konzept der Technostruktur (»technostructure«).
Yanis Varoufakis: Das ist kein Zufall. Keynes hat mich in der Tat sehr stark beeinflusst. Man hat mir immer wieder eine zu stark keynesianische Ausrichtung vorgeworfen. Allerdings ist das Wirtschaftssystem, das ich in
Der Hauptgrund, warum ich jemanden wie Keynes nicht erwähne, ist aber wohl, dass ich meinen Figuren treu bleiben wollte. Eva ist eine libertäre Ökonomin, für die Leute wie Adam Smith oder Friedrich Hayek von Bedeutung sind, aber sicher nicht Keynes. Sie würde lieber sterben, als ihn zu erwähnen. Eine marxistische Feministin wie Iris wiederum lehnt das Projekt der Sozialdemokratie in Bausch und Bogen ab; für sie ist jemand wie Keynes nicht mehr als eine Ablenkung. Ein Computer-Geek wie Costa schließlich steht Galbraiths Technostruktur deutlich näher.
Yanis Varoufakis: Das hängt natürlich davon ab, wie man Utopie definiert, aber für mich beschreibt eine Utopie eine Welt, die nicht existieren kann. Und falls sie doch existieren würde, dann gäbe es keine Verbindung, keinen Pfad, der von da, wo wir heute stehen, zu dieser Welt führen würde. Utopien entstehen aus dem Nichts. Ich habe dagegen versucht, die Dinge so zu beschreiben, wie sie tatsächlich hätten eintreten können; unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Wie, auf welchem Weg, hätten wir, im Jahr 2008 beginnend, 2020 in einer solchen Welt ankommen können? Es gibt bei mir einen Übergang, ein ganzes Kapitel widmet sich der Frage, wie aus der Krise von 2008 das Other Now hervorgegangen ist. In diesem Sinne ist
Ich hatte dabei nie vor, eine perfekte Welt zu beschreiben. Deshalb gibt es auch ein eigenes Kapitel mit Einwänden zu dem von mir entworfenen System. Ich habe versucht, einen realistischen Zugang zur Utopie zu finden, und das bedeutet, dass es Unzufriedene geben muss.
Yanis Varoufakis: Es war etwas ganz Neues. Das Einzige was ich bisher geschrieben hatte, das in Richtung Fiktion geht, waren eine Art pseudoplatonischer Dialoge, die ich im Unterricht verwendete. Sie waren als Hilfe für meine Studierenden gedacht, um bestimmte Debatten plastischer darzustellen. Ich hatte aber nie vor, einen Roman zu schreiben. Wenn ich ganz ehrlich bin, hatte ich sogar Angst, als ich damit begann.
Yanis Varoufakis: Im Grunde geht es in den Sozial- und Geisteswissenschaften immer um die verschiedenen Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählen. Manche dieser Geschichten sind nützlicher als andere, manche sind progressiver, manche sind toxischer. Wir brauchen diese Geschichten, wir können mit dem Erzählen nicht aufhören; wir müssen uns aber stets bewusst sein, dass wir Geschichten erzählen. Vor allem aber müssen wir die Annahmen offenlegen, auf denen die Geschichten beruhen.
Yanis Varoufakis: Was die Wirtschaftswissenschaften verstanden haben, ist, dass Monopole eine lukrative Sache sind. Sie wissen außerdem ganz genau, dass sich viele Menschen durch Mathematik einschüchtern lassen. Deshalb sind die Wirtschaftswissenschaften heute so stark mathematisiert. Niemand, der die Mathematik dahinter nicht versteht, wird es wagen, die dominanten Modelle anzuzweifeln. Also halten die meisten Leute ihren Mund und nehmen nicht an der Debatte teil. Wenn man die Mathematik durchschaut, erkennt man aber auf einmal, dass die Axiome 3a und 4c in einem bestimmten Modell auf die Abschaffung von Zeit und Raum hinauslaufen. Was am Ende übrig bleibt, ist ein wunderschönes Modell ohne jeglichen praktischen Nutzen. Mathematisch ist alles korrekt, aber die Prämissen haben keine Grundlage in der Realität. Solche versteckten Grundannahmen aufzudecken, ist eminent wichtig.
Ich gebe Ihnen hierfür ein besonders faszinierendes Beispiel: Das wichtigste wirtschaftswissenschaftliche Modell, das bis heute als Höhepunkt ökonomischer Theorie gilt, das in Harvard, Yale und am MIT gelehrt wird, ist das sogenannte Allgemeine Gleichgewichtsmodell. Seine Ursprünge liegen im Paris des 19. Jahrhunderts, insbesondere bei einem Mann namens Léon Walras (
Léon Walras
Wenn Sie heute einen promovierten Ökonomen, der bei Goldman Sachs arbeitet, fragen, mit welchem Modell er den Kapitalismus erklärt, dann wird er Ihnen die Walras-Geschichte erzählen. Ein Konzept eines utopischen Sozialisten! Ist das nicht großartig?
Yanis Varoufakis: Sobald ich die Zeit dafür finde, will ich auf jeden Fall wieder einen Roman schreiben. Ich mache nach einem Buch immer ein Jahr Pause, um meinen Kopf zu lüften. Mein nächstes Projekt steht zudem schon fest – es wird wieder ein Sachbuch. Danach werde ich aber wieder etwas Fiktionales schreiben. Ich weiß noch nicht, was es werden wird, aber das Schreiben von
Siehe Donohoe.
Siehe Varoufakis, »Bitcoin«.
PD Dr. Simon Spiegel ist Scientific Research Manager am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich im Forschungsprojekt ERC Advanced Grant
Der Autor hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.