Warum die Idee, nach einem wünschenswerten Ende der Tolkienforschung zu fragen, gar nicht so abwegig war

Frank Weinreich

Als ich im Sommer des vergangenen Jahres eine Reihe von distinguierten Kolleginnen und Kollegen, die zum Bereich der Erforschung der Werke und des Lebens John Ronald Reuel Tolkiens Wertvolles beigetragen haben, bat, zu der Frage, ob es nicht langsam Zeit sei, das Feld der Tolkienforschung aufzugeben, Stellung zu nehmen, erwartete ich nicht, dass sich jemand dieser Idee anschließen würde. Schon der – natürlich dann auch mehrfach eingeworfene – Grundsatz guter Forschungsarbeit, dass ein Untersuchungsfeld prinzipiell nie als abgeschlossen betrachtet werden kann, da immer zumindest die Möglichkeit besteht, dass neue Erkenntnisse gewonnen werden könnten, war schließlich auch mir nicht vollkommen unbekannt. Und doch stellte sich mir die Frage nach einer gewissen Obsoleszenz der Tolkienforschung schon länger. Und – in Gedanken umformuliert – erschien sie mir doch sinnvoll genug, um eine Betrachtung des Themas in Form des »Forums« der Zeitschrift für Fantastikforschung zu erbitten.

Mit der Formulierung »gewisse Obsoleszenz der Tolkienforschung« meine ich vor allem zwei Dinge. Zum einen die enorme Breite, aber auch Tiefe, der Arbeiten, die sich Tolkiens Schaffen und Leben widmen, und die eine Reihe von Aspekten schon seit Längerem aus sehr vielen und nicht immer ganz neuen Perspektiven betrachten. Einen eindrucksvollen, aber immer noch unvollständigen Überblick gibt die jährliche Bibliography (in English) der Tolkien Studies (Michael C. Drout et al. 2004–2009, David Bratman et al. 2010–2015, David Bratman seit 2016). Die schiere Menge der Werke und ihrer Forschungsthemen wirken auf mich in Hinsicht auf einige Schwerpunkte wie Biographie, Tolkiens Katholizismus, die Bedeutung nordischer und keltischer Mythen oder die Rolle von Sprache in seinem fiktionalen Werk als so gut ausgeleuchtet, dass mir weitere einschlägige Forschung als von weniger dringendem Interesse im weiten Feld der Fantasy im Speziellen wie der Phantastikforschung im Allgemeinen erscheint.

Schon rein mengenmäßig – und das ist der zweite Aspekt, der sich mir in dem Zusammenhang als wichtig aufdrängt – lässt der im Vergleich geringere bis sehr viel geringere Anteil an Arbeiten, die sich mit einzelnen anderen Werken und Autorinnen, Regisseuren und sonstigen Beitragenden des Genres Fantasy befassen, den Verdacht aufkommen, dass Forschungsanstrengungen in diesen vielfältigen Richtungen das Wissen um Rolle und Bedeutung der Phantastik in Kunst und Literatur in einer Weise bereichern könnten, die immer minutiösere Betrachtungen und Gegenbetrachtungen einzelner Aspekte Mittelerdes oder des Lebens dieses bestimmten Oxford-Dons nicht erbringen werden.

Es kann und soll nicht im Geringsten darum gehen, die Freiheit der Tolkienforschung einzuschränken oder Forscher:innen Topoi madig zu machen, obwohl vielleicht eben dieser oder jener – womöglich auch schon vielbeachtete – Aspekt gerade das Interesse auf sich zieht. Forschung lebt vom Herzblut der Forschenden, und wer seines oder ihres an eine Sache verloren hat, soll dieser auch nachgehen. Es besteht aber auch ein gewisser Usus, wohlbegangenen Pfaden zu folgen, auf denen man weniger leicht irrt oder fehlgeht. Insofern ist der doppelte Hinweis auf das gut erforschte Tolkien-Feld und die weniger erforschten anderen Felder der Fantasy (oder der Phantastik im Allgemeinen) als Aufforderung gemeint, sich auch einmal frischere Horizonte zu erschließen. Außerdem mag ein tieferes Wissen um und eine breitere Diskussion der Werke und Vitae anderer Phantast:innen durchaus auf die Betrachtung von Tolkiens Arbeiten rückwirken, denen man sich sodann mit bis dato ungestellten Fragen und auf Basis erweiterten Wissens auf neue Weise widmen kann.

Aber was, so drängte sich mir dann die Frage auf, wenn das alles gar nicht stimmt? Nach mehr als zwei Dutzend eigenen Publikationen zu Tolkien und seinem Werk könnte es sich ja auch um eine ganz persönliche Betriebsmüdigkeit handeln, die dem Thema Tolkien bitter Unrecht tut, wenn ich es als potenziell obsolet bezeichne. Der fünfzigste Todestag erschien angesichts dieser Überlegungen als das perfekte Datum, Meinungen zu meinen Fragen aus berufenem Mund einzuholen. Fragen, die, wie wir uns im Herausgeberteam der ZfF einig waren, von so großem Interesse sind, dass wir das jährliche Forum darüber eröffnen wollen. Es sind Fragen, die wir in einer bewusst provokativen Formulierung bündelten: »Wird es Zeit, mit der Tolkien-Forschung abzuschließen?«

Konkreter wurde im Call for Papers für dieses Forum gefragt:

Tolkiens Werk ist mit großer Wahrscheinlichkeit das Schlüsselwerk des Genres Fantasy und stellt einen der wichtigsten Zugänge zur Phantastik dar. Aber wie oft muss das noch betont werden? Und sollte man wirklich jede einzelne Notiz aus dem umfangreichen Nachlass beschreiben, interpretieren und die Analyse erneut vielfacher peer review unterziehen? Und könnte es sich nicht als ertragreicher erweisen in Zeiten, da zumindest im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl von akademischen Abschlussarbeiten erstellt wird, die sich mit einander nicht ganz unähnlichen Tolkien- und Mittelerde-Fragestellungen beschäftigen, dazu anzuregen, ein anderes Thema zu wählen? Wie wäre es etwa, sich eher der enormen Weite des Genres Phantastik zu widmen, das im letzten Vierteljahrhundert neben Jacksons sechs Filmen und Christopher Tolkiens Drittverwertung der nachgelassenen Fragmente seines Vaters in ästhetischen wie politischen wie sozialen Hinsicht eine ungemein diversifizierte Film-, Buch- und Spielelandschaft entworfen hat, die dringenderer akademischer Aufarbeitung bedürfte als der nächsten Auseinandersetzung mit nordischen Einflüssen in Mittelerde?

Das war natürlich ebenfalls als Provokation gemeint. Wurde dann aber ernsthaft und nachdenklich auf eine Weise beantwortet, die sogar übererfüllte, was ich mir erhofft hatte. Die Fülle vorgeschlagener neuer Perspektiven und Desiderata der Tolkien- sowie der Phantastikforschung, die so skizziert wurden, übertraf bei Weitem, was ich bei der Vorbereitung des Forums antizipiert hatte. Auch deshalb sind wir von der Herausgeberseite den Beiträger:innen sehr dankbar und hoffen nicht zuletzt, auf mittlere Sicht eine ganze Reihe der aufgeworfenen Fragen und vorgeschlagenen Themen realisiert zu sehen.

Friedhelm Schneidewind weist nicht nur auf verschiedene mögliche Forschungsschwerpunkte hin, sondern regt vor allem eine empirische Beschäftigung mit der Rezeptionsweise von Tolkiens Werken an, insbesondere dahingehend, ob sich gesellschaftlich relevante Auswirkungen nachweisen lassen. Zudem betont er die Abhängigkeit jeglicher literarischer Interpretationen von den zeitgenössischen Umständen ihrer Rezeption, was automatisch bedeute, dass eine entsprechende Beschäftigung mit Kulturphänomenen und künstlerischen Erzeugnissen nie an ein Ende kommen könne.

Mariana Rios Maldonado weist die Anregung eines Endes der Tolkienforschung schon durch den Aufweis der Fluidität der Untersuchungsweisen und -methoden selbst in vermeintlich gut ausgeleuchteten Forschungsfeldern zurück. Sie sieht aber besonders hinsichtlich des Popkulturphänomens Tolkien einen Bedarf an Erkenntnisgewinn sowohl hinsichtlich seiner medialen Ausprägungen als auch der unterschiedlichen Publika und ihren jeweiligen Motiven, sich seit Jahrzehnten, ohne darin nachzulassen, dem Werk zuzuwenden.

Thomas Fornet-Ponse gesteht dem Thema Tolkien und seinem Werk eine dominante Stellung in der Phantastikforschung zu, zieht daraus aber den Schluss, dass gerade diese Dominanz als Türöffner für eine Ausweitung der Beschäftigung mit phantastischer Kunst und Literatur allgemein dienen kann, die immer noch nicht in adäquatem Maße Aufmerksamkeit und seriöses Interesse der Forschenden unterschiedlichster Richtungen auf sich ziehe. Tolkien erfülle damit womöglich die Rolle eines typischen Klassikers, deren Bedeutung schon immer darin lag, ständig neu bewertet und in Beziehung gesetzt werden zu müssen.

Auch Tom Emanuel betont den Leuchtturmcharakter Tolkiens und seiner Fantasy, hebt aber dabei besonders auf die Rolle des Mythenerzählers ab, der klassische Topoi menschlicher Erzählkunst aufnahm, weiterspann und so selbst wieder zum Steinbruch moderner Erzählerinnen und Erzähler wird. Emanuel nennt eine Reihe von Autor:innen, die, in Beziehung zu Tolkien gesetzt, als Untersuchungsgegenstand sowohl den Stand der Phantastik als Kunst wie auch ihre Rolle in modernen Kulturen und Subkulturen zu beleuchten vermag. Für Letzteres und als Beispiele kritischer Forschung nennt Emanuel dankenswerterweise einige Beispiele zur weiterführenden Beschäftigung.

Abb. 1:
Abb. 1:

J. R. R. Tolkien, Aufnahme von ca. 1925

Thomas Honegger lehnt ein Ende der Tolkienforschung schon mit Verweis auf die Komplexität des Materials und dem Hinweis ab, dass nicht einmal die Korpusbildung abgeschlossen sei. Er weist aber auch in besonderem Maße auf erstens Tolkiens zentrale Rolle in der Phantastik hin, die allein durch neu geschaffene Werke, die sämtlich ja nicht in Unkenntnis von Tolkien entstehen, einen ständigen Dialog zwischen Alt und Neu bewirke, der wissenschaftliche Begleitung verdient. Zweitens betont er, dass aktuelle Ereignisse der Zeitgeschichte nicht ohne Einfluss auf die Tolkienrezeption bleiben, die immer auch vor dem Hintergrund der sich verändernden Erfahrungen und Sozialisationsweisen seines Publikums neu bewertet werden sollte.

Insofern hat eine freche Frage, die mit »Quatsch!« schon hinreichend beantwortet worden wäre, sich als dennoch berechtigt erwiesen, und das »Forum 2023« hat seinen Sinn, der Phantastik pointierte Denkanstöße zu geben, erfüllt.

Ich selbst beantworte die Frage danach, ob wir mit der Tolkienforschung langsam abschließen sollten, übrigens mit einem entschiedenen »Nein, aber …«

Die Arbeit mit und über Tolkiens Werk war mein Einstieg in die Phantastikforschung. So interessant dies an sich schon war, so hat die Beschäftigung mit dem »Großvater der Fantasy«, wie Tolkiens-Genrekollege Raymond Feist den Professor nannte (Feist 29), mir aber vor allem Horizonte der Phantastik als Großgenre zu erschließen geholfen. Ich habe Tolkiens Bücher deshalb einmal als »Gravitationslinse« bezeichnet, die unsere Perspektive bei der Analyse nachfolgender Genrewerke maßgeblich beeinflusst (Weinreich 148).

Insofern ist die Tolkienforschung einer der gehaltvollsten Ausgangspunkte, um sich mit der Phantastik wissenschaftlich zu beschäftigen. Mindestens aus dem Grund, dass sich jedoch – er ist nun einmal seit fünfzig Jahren nicht mehr unter uns – seit Tolkiens Wirken in der Fantasy im Speziellen wie in der Phantastik im Allgemeinen so viel Neues, Fortentwickeltes und Andersartiges getan hat, kann man jedoch nicht in Mittelerde stehenbleiben. Das ist das Gleiche, als würde ein Historiker seine analytische Arbeit mit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts beenden wollen. Aber so wie der Blick zurück vor die Zeit des Zusammenbruchs historisch fundierte Antworten auf aktuelle Fragestellungen zu liefern vermag, so wird es immer hilfreich bleiben, sich nach Mittelerde oder zu Roverandom (1925) und dem Smith of Wootton Major (1967) zurückzubegeben, um das persönliche wie allgemeine Verständnis der Rolle phantastischer Kunst und Literatur zu vertiefen.

Autor

Frank Weinreich studierte Philosophie, Politikwissenschaften und Publizistik an der Ruhr-Universität Bochum, promovierte in Philosophie an der Universität Vechta und arbeitete als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent an den Universitäten Bochum, Dortmund und Vechta. Er lebt mittlerweile als freier Lektor und Publizist in Bochum und veröffentlichte über einhundert Bücher und Artikel zu verschiedensten Themen der Phantastik. Seit 2023 ist er auch als Mitherausgeber der Zeitschrift für Fantastikforschung tätig. Berufliche Homepage: www.textarbeiten.com, private Homepage (inkl. einiger Artikel): www.polyoinos.de.

Forschen mit Relevanz und Aufwand

Friedhelm Schneidewind

Dass noch viel zu Tolkiens Werk und insbesondere zu dessen Rezeption und Wirkung zu forschen ist, steht für mich außer Frage.

Forschung zu einem Thema abschließen zu wollen, widerspricht von vornherein den Grundsätzen seriöser Wissenschaft. Solange noch etwas herauszufinden ist, sollte daran gearbeitet werden. Schließlich gilt auch für die Tolkienforschung die berühmte Metapher von Blaise Pascal: Wächst das Wissen, das wie eine Kugel im All des Nichtwissens schwimmt, wächst damit auch immer das Nichtwissen. Denn es vergrößert sich die Oberfläche der Wissenskugel, und die Berührungspunkte mit dem Nichtwissen nehmen zu. Es wird also zwangsläufig immer etwas zu forschen geben!

Wie sinnvoll dies sein kann, zeigen auf einem ganz anderen Gebiet die Forschungen von Katalin Karikó und Drew Weissman, die Jahrzehnte lang Grundlagenforschung betrieben, die von vielen ihrer Kolleg:innen für unsinnig gehalten wurde. In diesem Jahr wurden sie dafür mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet, weil ohne ihre Forschung eine mRNA-Corona-Impfung nicht möglich gewesen wäre.

Aber auch unabhängig von solchen prinzipiell die Wissenschaft betreffenden Überlegungen gibt es Gründe, weiter zu Tolkiens Werk und auch seinem Leben zu forschen.

I

»Gute Literatur zeichnet sich dadurch aus, dass sie in unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich gelesen wird – und so immer wieder neue Anknüpfungspunkte für neue Probleme bietet« (Horatschek). Was Anna-Margaretha Horatschek in ihrem Vortrag beim Kongress der Karl-May-Gesellschaft im Oktober 2023 in Dortmund zu Karl May sagte, gilt genauso für Tolkien. Allein deswegen sollte zu dessen Werk und Leben weiterhin geforscht werden.

Noch notwendiger ist dies, weil sich nicht nur die Zeiten und Probleme ändern, sondern auch die Rezeption unter anderen Gesichtspunkten und Bedingungen erfolgt – sei es durch ein wissenschaftliches Fachpublikum oder durch interessierte Laien. Wer heute Tolkien einigermaßen informiert liest, tut dies, während in zumindest unserer Gesellschaft über zahlreiche Themen diskutiert wird, die Mitte des letzten Jahrhunderts keine oder kaum eine Rolle spielten: (Post-)Kolonialismus, Rassismus, Ableismus, Sexismus, Genderfragen, #MeToo, Homophobie, Transphobie, Cancel Culture … In der Fachwelt wird geforscht und geschrieben über Subjektivität, Identität, Alterität und Ethnizität, es gibt Postcolonial und Transcultural Studies …

Kurz und gut: Über einen Autor von der Bedeutung Tolkiens und dessen Werk muss unter diesen stets sich ändernden Bedingungen und stets neuen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Aspekten immer wieder und immer wieder neu geforscht werden!

II

Ein Schwerpunkt der Tolkienforschung sollte natürlich der Einfluss von Tolkiens Werk auf die Leser:innen sein – und im Weiteren auch der verschiedenen Bearbeitungen und auf transmediale Ausprägungen wie Filme, Games etc. Diese können wiederum nach unterschiedlichen Kriterien wie Alter, sozialer Stellung, Bildung, durchaus auch politischer Einstellung und Religion spezifisch aufgeschlüsselt werden. Und das betrifft nicht nur das Leseempfinden und damit verbundene Emotionen, sondern auch Einflüsse auf Haltungen und Handlungen.

Eine Frage, die es immer wieder zu beantworten gilt: Kann Tolkiens Werk etwas bewirken (ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es das kann), und wenn ja: was, beim wem, unter welchen Umständen und in welche Richtung? Das Spektrum reicht hier von handlungsleitenden Überzeugungen bis hin zu psychologischen Wirkungen etwa auf Resilienz und Lebenseinstellung.

Hierbei gilt zu berücksichtigen, dass heute kaum jemand Tolkiens Werk so lesen kann wie dies zu seiner Entstehungszeit möglich war. Denn mit dem Werk unlösbar verbunden ist natürlich seine Rezeptionsgeschichte. Noch einmal Horatschek: »Leser wissen im Rückblick anderes und in manchen Bereichen mehr als die Autoren z. B. über die Wirkmächtigkeit ihrer Texte

III

Aktuell spielt der Themenkomplex Glauben, Spiritualität und Religion(en) in der Tolkienforschung eine wesentliche Rolle. Dies wird beispielsweise deutlich an der Liste der Vorträge für das Tolkien Society Online Seminar 2023, das am 26. November 2023 an der University of Glasgow stattfand – Thema: »Tolkien and Religion in the Twenty-first Century«. Dabei ging es um Einflüsse auf Tolkiens Werk ebenso wie um verschiedene Lesarten von Tolkiens Werk, je nach religiöser Prägung. Ein paar ausgewählte Vortragsthemen:

  • – On Some Esoteric Motifs in The Silmarillion

  • – Pagan Magic and the Marvelous: Songs of Enchantment in J. R. R. Tolkien’s The Silmarillion

  • – Tolkien and Roth: The Legendarium Meets Jewish History

  • – »With Furious Speed« – Tolkien, Revelation, and the Tibetan Treasure Tradition

  • – »Borne away like smoke«: Unpacking J. R. R. Tolkien’s Depiction of Cremation in Middle-earth in the Context of Catholic Canon Law

  • – Ilúvatar as a Reader/Listener-God: A Barthesian Interpretation of Sub-creation in Tolkien

  • – Baruk Khazad! Antisemitism, Jewish Joy, and Dwarven Contexts

  • – The Tao of Tom Bombadil

  • – Finrod the Mensch: A Jewish Perspective

Ich denke, in diesem Zusammenhang gäbe es noch einiges mehr zu erforschen; zwei konkrete Vorschläge unterbreite ich weiter unten.

IV

Es gibt eine Art der Tolkienforschung, auf die nach meiner Auffassung verzichtet werden könnte: Ich bezeichne es mal als das »Kochen im eigenen Saft«. Damit meine ich »Forschungen« und Untersuchungen, die sich nur mit Themen innerhalb des Werkes beschäftigen, ohne nach außen Relevanz zu entwickeln. Sicher könnte man sich auch Gedanken machen über die Art von Lobelias Regenschirm im Lichte der zu Tolkiens Zeit und speziell von ihm verwendeten Regenschirme – die wissenschaftliche und gesellschaftliche Relevanz einer solchen Untersuchung wage ich zu bezweifeln.

Damit will ich dergleichen »Forschungen« niemandem vermiesen; sie können eine Menge Spaß machen, aber sie sind nicht notwendig. Ich plädiere nur dafür, in Derartiges keine Forschungsgelder oder andere wertvolle Ressourcen zu investieren. Außer vielleicht, so eine Untersuchung dient im Einzelfall als Übung, als Lernfeld, für den wissenschaftlichen Nachwuchs.

Was ich auch für wenig sinnvoll halte, sind umfangreiche Untersuchungen über das zu Tolkiens Lebzeiten veröffentlichte Werk hinaus. Zu den für die Forschung wichtigen Werken, die Tolkien selbst für die Veröffentlichung autorisierte, zähle ich neben The Lord of the Rings (1954–1955) inklusive der Anhänge und The Hobbit (1937) auch Tolkiens Geschichten und seine Briefe. Letztere gingen, wenn auch damals nicht in Buchform, »nach außen«; Tolkiens Aussagen darin konnten also prinzipiell bekannt sein. Das gilt zumindest für diejenigen Briefe, die er abgeschickt hat. Auch das posthum veröffentlichte Silmarillion (1977) halte ich für eine Quelle, mit der und über die zu forschen sich lohnt, obwohl das veröffentlichte Buch nicht von Tolkien selbst stammt. Aber mit dem Silmarillion versuchte sein Sohn und vom Vater als literarischer Verwalter eingesetzter Erbe Christopher Tolkien, das »Buch der verlorenen (oder verschollenen) Geschichten« in lesbare Form zu bringen, das sein Vater mit 25 Jahren Anfang 1917 zu schreiben begonnen hatte, und an dem er zeitlebens weiterarbeitete und das er gerne zusammen mit The Lord of the Rings veröffentlicht hätte.

Posthum von Christopher Tolkien veröffentlichte literarische Werke wie The Fall of Arthur (2013) oder The Legend of Sigurd and Gudrún (2009) können durchaus Gegenstand relevanter Forschung im Rahmen eines Fachgebietes sein, wenn auch selten darüber hinaus.

Abb. 2:
Abb. 2:

The Silmarillion, Cover der Erstausgabe von 1977

Die große Zettelsammlung History of Middle-Earth (1983–1996) als Forschungsgegenstand zu nutzen ist für mich hingegen ein Paradebeispiel für »Kochen im eigenen Saft«. Man muss wirklich nicht der Bedeutung jeder Notiz auf der Rückseite eines Einkaufszettel nachgehen … Ähnliches gilt für Kompilationen wie The Children of Húrin (2007) sowie Beren and Lúthien (2017).

V

Am anderen Ende des Spektrums befindet sich die Forschung, die ich vermisse – wahrscheinlich, weil sie zu viel Aufwand bedeutet, sei es in zeitlicher, personeller oder finanzieller Hinsicht.

Ich will zwei Beispiele dafür anführen.

Seit über zwanzig Jahren rege ich immer wieder an, zu untersuchen, wie sehr die religiöse Prägung und/oder Vorbildung eines Menschen dessen Rezeption von The Lord of the Rings und noch eher des Silmarillion beeinflusst. Dass dies häufig so ist, weiß ich aus zahlreichen Gesprächen: dass beispielsweise die Maia unterschiedlich wahrgenommen werden können und zwar als »Heilige« von Menschen mit katholischer Prägung, im Gegensatz zu denen evangelisch-lutherischen Glaubens, in dem es keine Heiligen gibt. Wie nehmen Muslime das Silmarillion beim ersten Lesen wahr? Wie Jüd:innen, Buddhist:innen, Taoist:innen etc.?

Leider habe ich noch niemanden gefunden, der die Mühe einer soliden wissenschaftlichen Untersuchung in dieser Hinsicht auf sich nehmen wollte. Das ist Tolkienforschung, wie ich sie mir wünschen würde!

Mein zweites Beispiel: 2010 habe ich für die Gründungskonferenz der Gesellschaft für Fantastikforschung (GFF) einen Vortrag geschrieben, den ich im Anschluss noch mehrfach gehalten und 2011 publiziert habe: »Fantastik als Friedensstifter? Die Fantastik und insbesondere die Fantasy als Vermittler kultureller Kenntnisse und kulturübergreifenden Verständnisses, aufgezeigt am Bild der Drachen und von Tolkien« (Schneidewind 135).

Meine Hauptthese steckt schon im Titel: Die Fantastik im weitesten Sinne und insbesondere die Fantasy können, da sie kulturelle Kenntnisse vermitteln und zu kulturübergreifendem Verständnis beitragen, friedensstiftend wirken. Die Beschäftigung mit verschiedenen (Sub-)Kulturen und Mythologien, Weltanschauungen und Ethiken kann zu einer positiv(er)en Einstellung gegenüber »fremden« Kulturen und/oder Wesen führen, zum Verständnis des Fremden und/oder Anderen, und damit zur Vermeidung von Konflikten beitragen. Ob dies stimmt, würde ich zu gerne solide wissenschaftlich untersucht sehen.

Dies wären natürlich Forschungen, die weit über die literaturwissenschaftliche Untersuchung von Texten hinausgehen, deshalb werde ich sie wohl so schnell nicht erleben.

Aber solche Forschung und welche von gesellschaftlicher Relevanz, wie unter Punkt II ausgeführt, sollte, nein muss, es unbedingt weiterhin geben. Es gibt sie zu Shakespeare und Goethe, Joseph Conrad und Thomas Mann – Tolkien ist nicht weniger relevant.

Autor

Friedhelm Schneidewind, Jahrgang 1958, studierte Biologie und einige Semester Informatik und lebt als freier Dozent, Musiker, Journalist und Autor in Mannheim. Zu Mythologie und Phantastik publiziert er seit 1989, u. a. Das große Tolkien-Lexikon (2001), Mythologie und phantastische Literatur (2008), Mein Mittelerde (2011), Das neue große Tolkien-Lexikon (2021) und Das Quiz der Ringe (2023). Er veröffentlichte Story- und Essaybände, Liederhefte, zwei Romane und das Vampirtheaterstück Carmilla. Lexika über Drachen, Harry Potter, Jenseitswelten und Vampire sowie mehrere Sachbücher und zahlreiche Artikel weisen ihn als Experten für phantastische Literatur und Mythologie aus. Schneidewind ist Mitglied u. a. in der Deutschen Tolkien Gesellschaft (DTG), in der Tolkien-Society, im Phantastik-Autor*innen-Netzwerk (PAN), im Verband Deutscher Schriftsteller*innen (VS), in der Gesellschaft für Fantastikforschung (GfF) und im Deutschen Fachjournalistenverband (DFJV).

Das Ende der Tolkien-Forschung, wie wir sie zu kennen glauben

Mariana Rios Maldonado

Als praktizierende Tolkienistin möchte ich die Ausgangsfrage dieses Forums, ob es an der Zeit ist, mit der Tolkienforschung Schluss zu machen, gerne umformulieren: »Ist es an der Zeit, mit der Tolkien-Forschung, wie wir sie zu kennen glauben, Schluss zu machen?« Und dann lautet meine Antwort zweifelsfrei: Ja.

Zunächst ist es wichtig, die Elemente meiner Neuformulierung zu präzisieren: Wen meine ich mit »wir«? Damit meine ich die Leser, Kritiker, Forscher und Fans, die glauben zu wissen, worum es in Werken Tolkiens geht. Und was meine ich mit »wie wir die Tolkien-Forschung zu kennen glauben”? Ich habe den Eindruck gewonnen, dass insbesondere außerhalb der Tolkien-Studien die Meinung weit verbreitet ist, dass nur wenige Aspekte von J. R. R. Tolkiens Werk unerforscht geblieben sind. Darüber hinaus sind die fruchtbarsten Wege zum Verständnis von Tolkiens literarischem Schaffen – womit ich die mythischen und mittelalterlichen Einflüsse und Inspirationsquellen des Autors sowie den Einfluss von Tolkiens spiritueller Weltanschauung und seiner Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg auf sein Werk meine – mittlerweile möglicherweise tatsächlich übererforscht. Diese Wege wurden als wesentliche Säulen der Tolkien-Studien betrachtet, weil ein bedeutender Teil der Untersuchungen und Kommentare zu Beginn der Erforschung des Feldes diese Zugänge nutzte, um die Qualitäten zu verteidigen und hervorzuheben, die den Hobbit, The Lord of the Rings und das Silmarillion einer kritischen Untersuchung würdig machten – jenseits und unabhängig von ihrer offensichtlichen Popularität. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass, so etabliert Tolkien und seine Welt Mittelerde heute auch sind, diese literarische Gattung und ihre Bedeutung für einige Kritiker einst gleichbedeutend waren mit dem Urteil, dass sie einer ernsthaften, professionellen akademischen Beschäftigung unwürdig seien.

Damit kommen wir zu der Frage des Forums, die für den gegenwärtigen Stand der Tolkien-Studien unterstellt, dass sie das meiste oder alles ausgesagt habe, was sie aus allen möglichen Blickwinkeln sagen könnte. Dieser Eindruck ist meiner Meinung nach aus zwei Gründen unzutreffend: Erstens sind alle Disziplinen, die ich zuvor erwähnt habe oder die in irgendeiner Weise zur Tolkien-Forschung beigetragen haben, weder statisch noch monolithisch. Ähnlich wie die Tolkien-Forschung selbst entwickeln Fächer von der Theologie bis zur Mediävistik immer wieder alternative Rahmenkonzepte und liefern neue Erkenntnisse über ihre Studienobjekte. Wie jeder andere Forschungszweig sind auch sie daher in der Lage, neue Erkenntnisse über Tolkiens Werk zu produzieren. Zweitens hat sich seit Beginn des neuen Jahrtausends die Vielfalt der Blickwinkel und Perspektiven, aus denen sich die Tolkien-Forschung zusammensetzt, vervielfacht, unter anderem durch die Einbeziehung von Disziplinen wie der critical race theory, der Genderforschung, der postcolonial theory, der postmodernen Philosophie und der queer studies, die zur weiteren Untersuchung von Aspekten von Tolkiens Texten herangezogen werden. Es ist jedoch gleichzeitig wahr, dass diese eher zeitgenössischen Rahmenwerke im Vergleich zu dem, was bis jetzt den Großteil der Tolkien-Studien ausmacht, unterrepräsentiert bleiben. Für einen Autor, der im 20. Jahrhundert schrieb, publizierte und berühmt wurde, ist dies ein außergewöhnlicher Zustand. Daher sehe ich mit Blick auf diese unterschiedlichen Aspekte die Möglichkeit, zu hinterfragen, was wir unter Tolkien-Forschung verstehen, und für diejenigen, die Teil des Feldes sind, zu artikulieren, wie wir uns die Zukunft unseres Forschungsgebietes vorstellen können.

Es wäre kaum sinnvoll, leugnen zu wollen, dass Tolkiens Texte und die Multimediaprodukte, die sie in den Jahrzehnten nach der Veröffentlichung von The Lord of the Rings inspiriert haben – Filme, Fernsehserien, Videospiele, Kartenspiele, Rollenspiele, YouTube-Kanäle, Influencer-Accounts und manches mehr – in kultureller wie finanzieller Hinsicht sehr erfolgreiche Unternehmungen sind. Unabhängig davon, was man beruflich oder persönlich von Tolkien und seinen literarischen Werken hält, könnte man argumentieren, dass der Status von Mittelerde als globales Pop-Phänomen bedeutet, dass nicht nur Tolkiens Werke und ihr Vermächtnis untersucht werden sollten, sondern dass es ebenso notwendig ist, die äußeren Qualitäten zu analysieren, die eine solch anhaltende Anziehungskraft garantierten. Welche Kräfte und Strukturen sind dafür verantwortlich, dass Tolkien einer der wenigen Fantasy-Autoren ist, die kontinuierlich in die Lehrpläne von Hochschulstudiengängen aufgenommen werden?

Als Fantastik-Forscherinnen und -Forscher glauben wir gerne, dass sich die Dinge in unserem Interessenfeld geändert haben. Doch in Wahrheit wird die Fantasy-Literatur in vielen akademischen Kreisen trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer populären Leserschaft weiterhin als unbedeutendes, niederes oder peripheres Genre angesehen. In ähnlicher Weise lohnt es sich zu fragen, warum der Verlags- und Redaktionsmarkt heute einen so großen Raum für Tolkien und Tolkien-bezogene Inhalte zur Verfügung stellt. Und warum Medienunternehmen weiterhin Milliarden von Dollar in die Adaption und Entwicklung von Produkten investieren, die von seiner Sekundärwelt inspiriert sind. Mit diesen vielleicht offensichtlichen Fragen – oder sogar Plattitüden – möchte ich darauf hinweisen, dass die Antwort nicht nur vom Bekanntheitsgrad oder der Qualität von Tolkien, seinen Werken und deren Verfilmungen abhängt. Vielmehr möchte ich die Aufforderung formulieren, aus der Perspektive der Konsumierenden, der Leser:innen und der Verleger:innen zu hinterfragen, warum sie im Jahr 2024 weiterhin die von Tolkien geschaffene Fantasie suchen – im Gegensatz zum Beispiel zu den Werken zeitgenössischerer Autorinnen und Autoren. Ich spreche hier von der Untersuchung eines Wandels, der die Beziehung zwischen einem Individuum oder einer Gruppe von Menschen zu einem bestimmten Kunstwerk in den Vordergrund stellt und sich mit den Bedürfnissen, Wünschen und Sehnsüchten beschäftigt, die durch ein bestimmtes Medienwerk erfüllt werden. Dies würde eine Methodik erfordern, die nicht nur über den Inhalt der Bücher und ihrer Adaptionen sowie das Leben des Autors hinausgeht, sondern auch in der Lage ist, die Gemeinschaften zu untersuchen, die sich heute in Mittelerde tummeln. Eine solche methodische Perspektive müsste daher Beiträge aus den Theorien der Lesenden-Rezeption und -Reaktion, der Fan Studies und der Kulturwissenschaften berücksichtigen. Denn obwohl bereits Arbeiten zur Erforschung der kulturellen Wirkung von Tolkiens literarischer Produktion durchgeführt wurden, sind die Orte und Gefäße, in denen sich diese Wirkung manifestiert, einem stetigen Wandel unterworfen und verändern und diversifizieren sich in Form und Reichweite, während wir sprechen.

Abb. 3:
Abb. 3:

The Fellowship oft he Ring, Cover der Erstausgabe von 1954

Darüber hinaus muss sich die Tolkien-Forschung weiterhin mit den Überschneidungen zwischen den Gemeinschaften beschäftigen, die sich um Tolkiens Werke und die dazugehörigen Medien drehen. Auch mit den Aspekten und Perspektiven, die in der Geschichte der Tolkien-Forschung vernachlässigt, wenn nicht sogar von einigen verachtet wurden – insbesondere jene, die mit Klasse, Geschlecht und Race zu tun haben –, sollte sich die Forschung nachhaltig befassen. Wir sollten als Wissenschaftler:innen und Leser:innen nicht nur die Vorliebe für bestimmte Interpretationsansätze innerhalb der Tolkien-Forschung oder das, was wir mit diesem wissenschaftlichen Feld verbinden, in Frage stellen, sondern vor allem den Zusammenhang von Themen wie critical race theory, Rassismus sowie der Art und Weise, wie Tolkien heute noch gelesen wird, problematisieren: Von wem geht das Interesse für Tolkien aus und welche Absichten stehen dahinter? Ich beziehe mich hier konkret auf die Art und Weise, wie rechtsextreme, weiß-suprematistische Gruppen und Bewegungen in Ländern wie Italien, den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich ihre Interpretationen von Tolkiens Texten instrumentalisiert haben, um ihre Weltanschauung zu verbreiten und mehr Anhänger für ihre Sache zu gewinnen. Dies ist nichts Neues und geht bis auf die Jahre unmittelbar nach der Veröffentlichung von The Lord of the Rings zurück. Die akademische Welt und breitere Kreise des Fandoms müssen diese Erscheinungen als das erkennen, was sie sind, nämlich ebenfalls als Teil der Geschichte der Tolkien-Leserschaft. Wenn wir keine entscheidende, nuancierte Diskussion darüber führen, wie Tolkiens literarisches Werk weiterhin von der rechtsextremen Ideologie (vor allem im Internet) als Waffe eingesetzt wird, und wir dann auch noch mit der Tolkien-Forschung Schluss machen, geben wir der aktuellen Welle des Faschismus nach, die durch die Vereinnahmung kultureller Produkte, die ihren Zwecken und Bedürfnissen dienen, weiter an Schwung gewinnt. Wenn sich die Tolkien-Forschung auf ausgetretene Pfade beschränkt, anstatt neue und innovative Lesarten zu fördern, die stets von Neuem zeigen, wie Tolkiens Texte zwar Teil und Spiegelbild unterdrückerischer Machtstrukturen sind, aber auch in der Lage sind, ihnen zu trotzen oder zu entkommen, dann lassen wir die Tolkien-Forschung im Stich. Insbesondere lassen wir Leserinnen und Fans aus marginalisierten Gemeinschaften im Stich, die in Mittelerde Freude und ein Gefühl der Zugehörigkeit gefunden haben.

Wenn ich diesen Beitrag für das Forum schreibe, spreche ich auch als Pädagogin. Ich habe aus erster Hand erfahren, mit welcher Leidenschaft sich Schülerinnen und Schüler sowie Studierende mit literarischen Werken auseinandersetzen und wie diese Leidenschaft ein erster Schritt sein kann, um Texte, die wir für bekannt halten, auf neue und kreative Weise zu lesen. Dieses aufrichtige Interesse an der Analyse eines bestimmten Textes sollte nicht entmutigt werden, bloß weil wir als Wissenschaftler, Lehrer oder Ältere der Meinung sind, dass die Wahl unseres Studienobjekts Teil einer langen und nur zu bekannten Spur vergangener Forschung ist. Eine solche Haltung bedeutet, dass wir unsere eigenen Erfahrungen und Vorurteile auf künftige Forschende projizieren und gleichzeitig eine Haltung einnehmen, die der Hybris gleichkommt. Diese Haltung setzt in gewisser Weise voraus, dass die Bedeutungen und Interpretationsmöglichkeiten eines bestimmten Textes längst ausgeschöpft wurden. Wäre dies tatsächlich der Fall, dann wäre die Literaturwissenschaft als solche letztlich sinnlos. Vielmehr sollten Studierende, die sich mit Tolkiens Texten auseinandersetzen wollen, dazu ermutigt werden, ihre eigene Beziehung zu diesen zu reflektieren. Sie sollten offen und ehrlich darüber diskutieren können, wie und warum sie sich von den Koordinaten ihrer eigenen Realität und ihres Wissens aus mit Mittelerde verbunden fühlen. Dies wäre dann eine Gelegenheit, den Schülerinnen und Schülern zu zeigen, dass Mittelerde nicht das Endziel ist: Es stellt vielmehr einen Ausgangspunkt dar. Derselbe Weg, der nach Hobbiton führt, führt auch durch die Geschichte der Fantasyliteratur. Er durchquert nicht nur die Texte und kulturellen Produkte, die Tolkiens Werk inspirierten und von ihm inspiriert wurden, sondern auch die Fantasiewelten, die geschaffen wurden, um die Tradition, die Tolkien unwissentlich angestoßen hat, anzufechten und herauszufordern. Aus dieser Perspektive ist es kaum an der Zeit, Feierabend zu machen. Es ist eine Berufung, zu sehen, wie die Tolkien-Forschung Teil der neuen Horizonte sein kann, die vor uns auftauchen.

Aus dem Englischen übersetzt von Frank Weinreich.

Autor

Mariana Rios Maldonado absolvierte ihr Grundstudium in Literatur und spanischer Linguistik an der Autonomen Universität von Zacatecas, Mexiko, und ihr Masterstudium in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft am Peter Szondi-Institut der Freien Universität Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der Einfluss der germanischen Mythologie und Kultur in der zeitgenössischen Literatur, die deutschsprachige phantastische Literatur zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert sowie die literarische Produktion von J. R. R. Tolkien. Sie hat Artikel und Rezensionen in Fantastika, dem Journal of Tolkien Research, postmedieval und in dem Sammelband The Romantic Spirit in the Works of J. R. R. Tolkien (2024) veröffentlicht. Mariana hat vor kurzem ihre Promotion an der Universität Glasgow mit einer Arbeit über Ethik und Andersartigkeit in J. R. R. Tolkiens Erzählungen aus Mittelerde abgeschlossen. Ihre Doktorarbeit wurde vom mexikanischen Nationalen Rat für Geisteswissenschaften, Wissenschaft und Technologie (CONAHCYT) sowie von der mexikanischen Nationalen Stiftung für Schöne Künste und Literatur (Fundación INBA) finanziert. Sie ist Beauftragte für Gleichstellung und Vielfalt am Centre for Fantasy and the Fantastic der Universität Glasgow und Mitglied des Redaktionsausschusses von Mallorn, der wissenschaftlichen Zeitschrift der Tolkien Society.

Wird es Zeit, mit der Tolkien-Forschung abzuschließen?

Thomas Fornet-Ponse

Als ich vor zwanzig Jahren vom Vorstand der Deutschen Tolkien Gesellschaft gebeten wurde, mich um die geplante wissenschaftliche Tagung und das daraus hervorgehende Jahrbuch zu kümmern, habe ich nicht damit gerechnet, auch heute noch im Board of Editors für Hither Shore verantwortlich zu sein. Wovon wir damals allerdings ziemlich sicher ausgegangen sind, war die Notwendigkeit einer baldigen thematischen Öffnung. Denn in den ersten Notizen findet sich der Passus, das Seminar beschäftige sich »mit der modernen ›fantasy literature‹ im Besonderen als Phänomen der Moderne«. Dementsprechend lautet der vollständige Titel des Jahrbuchs der Deutschen Tolkien Gesellschaft Hither Shore – Interdisciplinary Journal on Modern Fantasy Literature, »um deutlich zu machen, dass uns auch an der Beschäftigung mit anderen Autoren der Fantasy und Phantastik als John Ronald Reuel Tolkien gelegen ist« (Bülles und Fornet-Ponse 7). Tatsächlich hat es jedoch bis 2017 gedauert, bis ein Seminar jenseits von Beiträgen zu »Tolkien und xy« in größerem Ausmaß andere Autor:innen und Texte berücksichtigte. Auch danach wurde dies nicht zum Standard – was schlicht und einfach daran lag, dass uns im Gegensatz zu unseren ersten Vermutungen die tolkienspezifischen Themen nicht so schnell ausgegangen sind. Dies wiederum war auch der Öffnung für andere Medien zu verdanken, die sich beispielsweise im Seminar 2013, das Adaptionen von Tolkiens The Lord of the Rings behandelte, in einem Beitrag zu Adaptionen im Live-Rollenspiel zeigte und in diesem Jahr das Thema »Visualisierungen Tolkiens« ermöglichte, in dem es um Buchcover, Illustrationen etc. ging. Auch für die nächsten Jahre stehen noch genügend Themen auf unserer Liste mit Vorschlägen für künftige Seminare – und wer weiß, welche Themen sich uns in der Zwischenzeit durch externe Faktoren wie Jubiläen, neue Forschungsfelder oder interne Faktoren wie Erstveröffentlichungen aus dem Nachlass noch aufdrängen …

Tolkien im Wissenschaftsbetrieb

Vor diesem Hintergrund läge es nahe, die bewusst provokant formulierte Frage dieses Forums, ob es nicht Zeit werde, mit der Tolkienforschung abzuschließen, einfach zu verneinen und den Beitrag damit zu beenden. So einfach will ich es mir aber nicht machen, sondern zunächst vielmehr die Frage selbst infrage stellen: Wann kann in der wissenschaftlichen Forschung schon etwas als abgeschlossen gelten? Es werden zwar zur Genüge einzelne Projekte wie Qualifikationsarbeiten, wissenschaftliche Aufsätze etc. abgeschlossen, dies geschieht jedoch kaum ohne den Ausblick darauf, wie viele Fragen im entsprechenden Forschungsfeld noch offengeblieben sind und wie wichtig die weitere Forschung daran ist. Selbst wenn dies – wie kritisch eingewandt werden kann – primär dazu dienen sollte, sich die Möglichkeit für den nächsten Drittmittelantrag offenzuhalten, werden diese offenen Fragen in den meisten Fällen jedoch nicht kontrafaktisch behauptet. Die Forschung zu manchen Fragen mag als irrelevant erscheinen oder nicht viele andere Forschende interessieren, aber sie ist nicht in dem Sinne abgeschlossen, dass alle Fragen geklärt wären. Es geht bei der Frage dieses Forums also eher darum, ob die weitere Auseinandersetzung mit Tolkien noch lohnend ist, ob es also noch relevante und weiterführende Forschungsfragen und Ansätze gibt oder die bestehenden Ressourcen woanders besser eingesetzt werden sollten. Aber auch so gestellt, führt sie zu jenem bereits im Call for Papers für dieses Forum genannten Einwand: Wer hätte denn die Kompetenz und Autorität, solche Entscheidungen zu treffen und Forschenden Themen zu verweigern? Denn selbst wenn Drittmittel nicht bewilligt oder Themen von Qualifikationsarbeiten nicht angenommen werden, wird die Forschung an ihnen nicht verboten, sondern lediglich nicht materiell gefördert oder nicht als im Universitätsbetrieb einsetzbar angesehen – so gravierend das in den konkreten Fällen auch sein mag.

Auf der anderen Seite kann die Dominanz mancher Autor:innen und Themen im Wissenschaftsbetrieb dazu führen, andere zu vernachlässigen oder gar nicht erst zu entdecken. Gesteht man der Auseinandersetzung mit Tolkien eine gewisse Dominanz im Bereich der Fantasy- und Phantastikforschung zu, ginge es dann darum, eine in diesem Sinne möglicherweise bestehende faktische Hegemonie der Tolkienforschung aufzudecken und die Pluralität zu fördern. Dabei dürfte aber weniger das Anliegen kontrovers sein – schließlich wurde (und wird in manchen Disziplinen immer noch) auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Tolkien längere Zeit eher belächelt denn als seriös anerkannt – als vielmehr die Frage, ob der Tolkienforschung eine solche dominante und faktisch erdrückende Stellung zukommt. Doch zum einen ist eine solche Stellung in der Wissenschaft schwer zu belegen, weil von hinreichend vielen Wissenschaftler:innen nachgewiesen werden müsste, dass sie sich zugunsten der Tolkienforschung nicht mit anderen Autor:innen beschäftigt haben. Zum anderen setzen sich auch einige der bedeutendsten und produktivsten Tolkienforscher:innen mit anderen Autor:innen auseinander – ich verweise nur auf die jüngst erschienene Monographie von Thomas Honegger, die Tolkien dem Werk George R. R. Martins gegenüberstellt und dabei auch weitere Autor:innen der Phantastik berücksichtigt. Durchaus plausibel ist jedoch die These, die Bekanntheit Tolkiens und die mittlerweile zu ihm verfügbare Sekundärliteratur begünstige ihn, wenn Forschungsthemen ausgewählt und gefunden werden. Das kann durch die bestehenden Anknüpfungspunkte oder in Ausblicken genannten offenen Forschungsfelder ebenso geschehen wie dadurch, dass keine Ersterschließung mehr erfolgen muss.

Genau dies hat Tolkien jedoch mit anderen Autor:innen wie William Shakespeare, Johann Wolfgang von Goethe oder Annette von Droste-Hülshoff gemeinsam, die noch weit länger nach ihrem Tod analysiert werden als dies bei Tolkien bislang der Fall ist (und dies nicht nur im Schulunterricht oder als akademische Fingerübung) – ganz zu schweigen von der auch literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit religiösen oder philosophischen Texten, die zum Teil Jahrtausende nach ihrer Entstehung intensiv und mit höchst unterschiedlichen Methodiken untersucht werden. Mit diesen Texten und Autor:innen teilt Tolkien (mittlerweile) auch den Umstand, dass aufgrund der Fülle der zu ihnen existierenden Sekundärliteratur nicht nur, aber gerade studienbedingte Arbeiten nicht immer sonderlich originell, inspirierend oder weiterführend sind. Dies spricht in meinen Augen allerdings weniger gegen das Forschungsobjekt und führt vielmehr zu Fragen an das Universitätssystem sowie die dort bestehenden Prüfungsmodalitäten. Solche akademischen Fingerübungen sind durchaus vergleichbar mit Fingerübungen, wenn man lernt, Klavier zu spielen: Sie sind nicht (zwingend) originell, aber notwendig, um das Handwerkszeug zu erlernen, können manchmal ermüdend zu lesen sein und sind sowohl inhaltlich als auch methodisch oft kein guter Indikator für die gegenwärtige Forschung.

Wenn also die hohe Bekanntheit Tolkiens die Auseinandersetzung mit anderen Autor:innen und Themen insofern erschweren kann, als dass diese weniger leicht als lohnende Forschungsobjekte wahrgenommen werden, kann sie aber auch genau den gegenteiligen Effekt zeitigen: In je mehr Disziplinen die Tolkienforschung als wissenschaftlich satisfaktionsfähig angesehen wird und dementsprechend von einem sich immer weiter verbreiternden Kreis betrieben wird (und nicht mehr auf eine kleine, notgedrungen stark auf sich bezogene Gemeinschaft beschränkt bleibt), desto stärker wird auch die Bereitschaft wachsen, sich mit anderen Autor:innen, Texten und Themen der Phantastik zu beschäftigen und deren Reichtum wissenschaftlich zu erschließen. Die Tolkienforschung kann diesbezüglich eine türöffnende Funktion ausüben, indem beispielsweise in klassisch-komparativer Methodik die Bezüge Tolkiens zu der höchst diversifizierten und verschiedenste Medien umspannenden Landschaft der Phantastik aufgezeigt werden. Gerade auf diese Weise kann sie nämlich für einen immer weiteren Kreis von Werken Aufmerksamkeit im wissenschaftlichen Diskurs wecken und fällt dadurch gerade nicht in einen hegemonialen Habitus, der mit den im Wissenschaftsbetrieb zur Verfügung stehenden Mitteln versucht, andere Forschungen zu diskreditieren, um eine dominante Stellung zu behalten.

Lebendigkeit der Tolkienforschung

Spricht dies dafür, mit der Tolkienforschung schon allein deshalb nicht abzuschließen, weil sie für die zweifelsfrei als lohnend angesehene wissenschaftliche Auseinandersetzung mit anderen Autor:innen, Texten, Medien etc. diese wichtige Hilfestellung ausüben kann, so lässt auch eine aktuelle Bestandsaufnahme der Tolkienforschung eher eine weitere Zunahme als ein Abflauen vermuten. So sind laut Tolkien Studies XIX (2022) im Jahr 2020 allein in englischer Sprache 14 Bücher (Monographien und Aufsatzbände) und 182 Aufsätze erschienen, letztere nicht nur in den aufgeführten Sammelbänden und einschlägigen Zeitschriften, sondern auch in Periodika wie dem Journal of Business Ethics oder Feminist Media Histories, der renommierten theologischen Zeitschrift Heythrop Journal oder dem The Wiley Blackwell Companion to Karl Barth. Mit Tolkien Studies, Hither Shore und dem online im Open Access erscheinenden Journal of Tolkien Research gibt es zudem drei im deutsch- und englischsprachigen Raum gut zugängliche wissenschaftliche Periodika, die (fast) ausschließlich der Tolkienforschung dienen und gut rezipiert werden. Sie befinden sich zum Teil im zwanzigsten Jahrgang und allen werden nach wie vor ausreichend qualitativ hochwertige Beiträge eingereicht. Ferner zeigt der Blick in ihre Rezensionsteile eine weiterhin hohe Frequenz an wissenschaftlichen Monographien weit über den englischsprachigen Raum hinaus. Ohne zu behaupten, jegliche dieser Arbeiten sei ein wirklich bedeutender Beitrag, bieten gerade Forschungen aus bislang weniger stark vertretenen Disziplinen oder Zugänge, die vor einigen Jahrzehnten noch gar nicht im Blick waren, starke Anregungen.

Hinzu kommen besondere Bemühungen wie diejenigen des Verlags Walking Tree Publishers, der in diesem Jahr die Nummer 50 seiner Cormarë-Series veröffentlicht hat, in der Monographien und Aufsatzbände mit eindeutigem Tolkien-Schwerpunkt erscheinen. Dort hat man es sich nämlich zur Aufgabe gemacht, auch Einblicke in die Tolkienforschung jenseits des englischsprachigen Raumes zu bieten. So lassen sich beispielsweise die Eigenheiten und Schwerpunkte italienischer, iberischer oder polnischer Tolkienforschung wahrnehmen. Zwar ist auch hier nicht jeder Aufsatz von höchster Originalität (wahrscheinlich auch, weil sprachliche Barrieren die Rezeption existierender Sekundärliteratur erschweren können), jedoch erweisen sich die Unterschiede zwischen bestehenden nationalen Wissenschaftstraditionen immer wieder als anregend. Als Beispiel sei die produktive italienische Szene genannt, die einen stark philosophischen Schwerpunkt in der Tradition der christlichen Philosophie aufweist, und damit in der internationalen Forschungslandschaft eine wertvolle Ergänzung sowohl zu zahlreichen theologischen Beiträgen evangelikaler Provenienz aus dem angelsächsischen Raum als auch zu den sehr präsenten literatur- und sprachwissenschaftlichen Ansätzen bietet (vgl. u. a. Arduini und Testi).

Mit Blick auf die Primärliteratur der letzten Jahre ergibt sich ein ambivalentes Bild: In der Tat handelt es sich bei Veröffentlichungen wie zuletzt The Fall of Númenor um eine leser:innenfreundliche Aufbereitung der schon verstreut verfügbaren Texte, die der Forschung höchstens insofern dienen können, als dass sie den Zugang zu dieser Geschichte erleichtern. Auch nicht jede Erstveröffentlichung bietet hohen Erkenntnisgewinn für die Wissenschaft, sondern dient eher der Vervollständigung der zur Verfügung stehenden Texte und Textvarianten sowie mancher Detailklärung. Auf der anderen Seite bietet beispielsweise das 2021 veröffentlichte The Nature of Middle-earth viele spannende Einblicke nicht nur in die philosophisch-metaphysischen Hintergründe (vgl. Fornet-Ponse, »Of Houses«), sondern auch in die konkrete Praxis der Tolkien’schen Weltenschöpfung. Ähnlich aufschlussreich für das Studium der verflochtenen Struktur von Lord of the Rings und des von Tolkien erzeugten »Eindrucks von Tiefe« durch die Synchronizität von Ereignissen ist die im Supplement-Band zu Tolkien Studies XIX von William Cloud Hicklin edierte und kommentierte »The Chronology of The Lord of the Rings« aus den Manuskripten Tolkiens im Bestand der Marquette University. Diese beiden Beispiele jüngerer Erstveröffentlichungen zeigen, dass durchaus noch mit bislang unveröffentlichtem Material zu rechnen ist, welches nicht bloß eine weitere Textvariante mit marginalen Unterschieden zu den bereits bekannten Quellen darstellt, sondern signifikante neue Erkenntnisse bereithalten kann. Auch bei der für November dieses Jahres angekündigten erweiterten Ausgabe der Briefe Tolkiens, die 150 zusätzliche und ursprünglich zur Veröffentlichung vorgesehene, aber aus Platzgründen wieder herausgenommene Briefe enthält, bietet durchaus noch weitere Einblicke in Biographie und Selbstverständnis des Autoren J. R. R. Tolkien sowie in seine Zugänge zum eigenen Legendarium.

Abb. 4:
Abb. 4:

The Fall of Númenor

Tolkien – ein Klassiker?

Erweist sich die Tolkienforschung somit als höchst lebendig und produktiv, stellt sich die Frage, ob dies nur an der Bekanntheit und Verbreitung Tolkiens und dem Stellenwert seines Werkes für Fantasy und Phantastik liegt. Oder schlägt sich darin etwas nieder, was auch von den anderen oben genannten Autor:innen und Texten angenommen wird, die zum Teil Jahrtausende nach ihrer Entstehung nicht nur mit Gewinn gelesen, sondern auch erforscht werden? Und zwar, dass auf lange Sicht eben doch – von der einen oder anderen Ausnahme abgesehen, die möglicherweise mehr oder weniger Aufmerksamkeit erhält als »objektiv« berechtigt wäre – weitgehend jene Autor:innen und Texte weiterhin gelesen und bearbeitet werden, die auch über lange Zeit etwas zu sagen haben. Anders formuliert: Vielleicht ist Tolkiens Werk ähnlich wie Werke, die über Jahrhunderte hinweg eine hohe Leser:innenschaft in ihren Bann ziehen, »gut gealtert«. Das könnte dann mit jenem Unterschied zwischen Allegorie und Anwendbarkeit zu tun haben, von dem Tolkien im Vorwort von Lord of the Rings schreibt:

I cordially dislike allegory in all its manifestations, and always have done so since I grew old and wary enough to detect its presence. I much prefer history, true or feigned, with its varied applicability to the thought and experience of readers. I think that many confuse ‘applicability’ with ‘allegory’: but the one resides in the freedom of the reader, and the other in the purposed domination of the author. (LotR xvii)

Die hohe Zahl und Bandbreite der unterschiedlichen Interpretationsansätze insbesondere zu Lord of the Rings, aber auch zu The Hobbit, gibt starke Hinweise darauf, dass diese Werke tatsächlich von vielen Leser:innen auf ihre persönliche Situation und Erfahrungen angewendet werden können. Sie besitzen in diesem Sinne eine hohe Offenheit und damit das Potential zu einem »Klassiker«. Das wiederum ist ein weiteres Argument dafür, mit der Tolkienforschung weiterzumachen, da dann auch durch heute noch gar nicht absehbare künftige Forschungsansätze und Entwicklungen in den verschiedenen Disziplinen, die sich mit Tolkien beschäftigen, eine hohe Wahrscheinlichkeit für neue und überraschende Einsichten besteht. Diese könnten weitere Mosaiksteinchen für die Antwort auf eine Grundfrage der Literatur liefern: Was macht einen Klassiker zu einem Klassiker? Um über die Frage aus dem Call for Papers entscheiden zu können, wäre zu klären, ob Tolkien mittlerweile schon ein Klassiker ist oder zumindest auf dem Weg dazu, einer zu sein. Ist also zumindest The Lord of the Rings mit einigen der Definitionsvorschläge Italo Calvinos ein Buch, von dem man sagt, »Ich lese gerade wieder …«., oder »ein Buch, das unablässig eine Staubwolke kritischer Reden über sich selbst hervorruft, diese aber auch unablässig wieder abschüttelt« (Calvino 214)?

Mit Blick darauf, wie zahlreiche der Bücher, die als Klassiker gelten, gewöhnlich gelesen werden, könnte das Klassikersein oder Klassikerwerden Tolkiens zu der oben genannten Funktion als Wegbereiterin oder Türöffnerin für die Forschung zu anderen Autor:innen und Themen der Phantastik beitragen: Es würde einen möglicherweise bestehenden Sonderstatus verändern und ihn zu einem Klassiker neben anderen werden lassen. Klassiker indes werden nach wie vor gelesen und erforscht, besitzen aber weit weniger den Reiz neuer Forschungsfelder als andere. Man kann wenig falsch machen, wenn man sich ihnen mit bewährten Ansätzen nähert, es ist aber auch nicht einfach, durch originelle und innovative Einsichten viel zu gewinnen. Dies führt dann jene, die sich um Originalität bemühen und kaum ausgetretene Pfade begehen wollen, leicht dazu, sich weniger oder zumindest nicht primär mit Klassikern zu beschäftigen und vielmehr nach anderen, in dieser Hinsicht lohnenderen Perspektiven Ausschau zu halten.

Schlussplädoyer

Ohne abschließend klären zu können – aber auch nicht zu müssen –, ob Tolkien die Kriterien für einen Klassiker erfüllt, also im Laufe der Zeit zu einem wird, wenn er denn nicht schon einer ist, spricht doch aus meiner Sicht einiges dafür. Gerade deswegen bin ich zuversichtlich, auch in weiteren zwanzig Jahren noch eine lebendige, produktive und vielfältige Tolkienforschung vorzufinden – ganz unabhängig davon, wie lange ich noch für Konferenz und Jahrbuch der Deutschen Tolkien Gesellschaft zuständig sein werde. Dann zeichnet sich vielleicht auch ab, welche anderen Werke der Phantastik und Fantasy im ähnlichen Sinne »gut altern« und ausreichend Material für die dann aktuellen und innovativen Forschungsfragen und -ansätze bieten.

Autor

Thomas Fornet-Ponse promovierte in Katholischer Theologie an der Universität Salzburg sowie in Philosophie an der Universität Bonn und habilitierte in Fundamentaltheologie an der Universität Salzburg. Er arbeitet als Direktor des Missionswissenschaftlichen Instituts im missio e. V. in Aachen, war 2003–2009 Vorstandsmitglied der Deutschen Tolkiengesellschaft und ist Sprecher des Board of Editors von Hither Shore. Er hat zahlreiche Aufsätze zu philosophischen und theologischen Fragestellungen bei Tolkien und anderen Fantasy-Autoren publiziert.

Tolkien entkanonisieren

Rev. Tom Emanuel

Ich bin nicht allein Tolkien-Forscher, sondern auch Theologe und Pfarrer der United Church of Christ, einer progressiven christlichen Konfession in den USA. Ich denke, deshalb ist es passend, dass ich mich auf die reiche biblische Tradition der Gleichnisse stütze, wenn ich die Frage “Wird es Zeit, mit der Tolkien-Forschung abzuschließen?” mit einer Geschichte beantworte.

Es ist Sonntag, der 3. September 2023, und wir haben uns mit mehreren Mitgliedern der britischen Tolkien-Gesellschaft auf dem Wolvercote-Friedhof in Oxford versammelt. Den ganzen Nachmittag über sind Tolkien-Fans und -Forschende in Scharen mit Bussen angereist und haben sich in Anzügen, Krawatten, Herr-der-Ringe-T-Shirts und mehr als nur ein paar handbestickten Elbenmänteln auf dem Friedhof eingefunden. Pünktlich um 14 Uhr ertönt ein tragbarer Lautsprecher, und der Vorsitzende der Gesellschaft bittet uns, keinesfalls die Gräber zu betreten und unsere Handys auszuschalten. Fast auf den Tag genau vor fünfzig Jahren, am 2. September 1973, verließ J. R. R. Tolkien diese Welt. Seitdem erweist die Tolkien Society ihm jedes Jahr an diesem Grabmal die Ehre; es ist der Höhepunkt ihres jährlichen Oxonmoot-Treffens: Enyalië, das Wort für »Erinnerung« in Tolkiens erfundener Sprache Quenya.

Abb. 5:
Abb. 5:

Das Grab von J. R. R. und Edith Mary Tolkien

Einige einleitende Worte erinnern uns daran, dass wir heute hier versammelt sind, um nicht nur den Mann und seine Werke zu ehren, sondern auch der Art und Weise zu gedenken, wie diese Bücher und Geschichten unser Leben berührt haben. Wir ehren die Beziehungen, die sie hervorgebracht haben, und die Freude, die sie in unseren Herzen erwecken: »Joy beyond the walls of the world, poignant as grief«, wie Tolkien in seinem bahnbrechenden Essay On Fairy-Stories (75) schreibt. Dem folgt jeweils eine passende Lesung aus Tolkiens Schriften. In diesem Jahr ist es der Teil aus Die Rückkehr des Königs, in dem der Eine Ring zerstört wird und Gandalf die Hobbits Sam und Frodo vom untergehenden Schicksalsberg rettet. Während sich die Lektüre zu einem eukatastrophischen Crescendo steigert – Tolkiens Wort für die plötzliche glückliche Wendung, die er als das Markenzeichen eines echten Märchens bezeichnet (»Eucatastrophy« 75 f.) –, laufen mir Tränen in den Augenwinkeln zusammen. Ich blicke um mich herum und sehe, wie auch andere Taschentücher hervorholen, die Hände von geliebten Menschen drücken oder ganz offen weinen. Als die Lesung zu Ende ist, treten Vertreter von Tolkien-Organisationen aus der ganzen Welt – darunter auch eine große Delegation der Deutschen Tolkien Gesellschaft – schweigend vor und legen Gedenkkränze auf dem Grab nieder, das Tolkien mit seiner Frau Edith teilt. Das Ritual endet mit einer einzigen Stimme, die »Namarië« («Abschied») anstimmt, das Lied, mit dem die Elbenkönigin Galadriel die Gemeinschaft des Rings in Lothlórien auf ihre Reise schickt. Als die letzten Echos verklungen sind und die Sonne auf das Gras scheint und nur noch der Wind in den Bäumen zu hören ist, löst sich die Menge unter Tränen, aber auch Lachen auf. Es ist ein großartiges, kathartisches Ende einer tagelangen Feier für Tolkien und die Gemeinschaft, die im Kielwasser seines Schaffens entstanden ist.

Für diejenigen, die nicht aus der Welt der Tolkien-Fans und -Forschenden kommen, mag die ganze Angelegenheit übertrieben klingen, ja die Züge eines Kults annehmen. In meiner Eigenschaft als Theologe kann ich meinen Lesern versichern, dass die Anhänger, die sich auf dem Friedhof von Wolvercote versammelten, nicht etwa Tolkien angebetet haben. Enyalië ist, wie der Name schon sagt, eine Gedenkfeier: die Gelegenheit, die Erinnerung an eine säkulare Figur und einen säkularen, aber für uns sinnstiftenden Text in den Mittelpunkt zu rücken und zu feiern, unabhängig davon, ob wir religiöse Verpflichtungen verspüren oder nicht. Die Feier selbst befindet sich damit an einer faszinierenden Schnittstelle zwischen dem Religiösen und dem Nicht-Religiösen und lässt sich gut in den vierfachen Rahmen des christlichen Gottesdiensts der amerikanischen Liturgiewissenschaftlerin Constance Cherry (2010) einordnen, wobei der gesprochene Auszug aus The Lord of the Rings die Rolle einer Bibellesung oder Predigt in einer typischen Liturgie erfüllt. Auch wenn die Teilnehmer den Roman nicht als Alternative zur Heiligen Schrift verehren, so besteht doch kein Zweifel daran, dass wir ihm – und Tolkiens Werk im Allgemeinen – in unseren Leben einen gewissen kanonischen Status zugestehen.

Wir sind auch nicht die Einzigen, die sich so verhalten. Fantasy-Literatur ist, wie die Leserinnen und Leser dieser Publikation wohl besser als die meisten anderen wissen, keine leicht zu definierende Kategorie. Wie Tolkien einmal über Fäerie, das gefährliche Reich, in dem die Fantasie lebt und sich bewegt, schrieb: »[ Fäerie] cannot be caught in a net of words; for it is one of its qualities to be indescribable, though not imperceptible« (On Fairy-Stories 32). Nichtsdestotrotz benötigen Buchhändler Kategorien, um ihre Waren zu klassifizieren und vermarkten zu können, und das Publikum braucht Genres, um seinen Leseerwartungen folgen zu können und – wenn das Werk gut und der Leser aufnahmefähig ist – diese vielleicht sogar zu erfüllen. Auch Wissenschaftler brauchen ihre Definitionen, selbst wenn sie nur vorläufig sind. Der amerikanische Theoretiker der Phantastik und des Phantastischen Brian Attebery definiert ein Genre als ein »fuzzy set«, ein Begriff, den er der Mathematik entlehnt: »categories defined not by a clear boundary or any defining characteristics but by resemblance to a single core example or groups of examples« (Attebery 33). The Lord of the Rings steht für ihn in dem Zusammenhang stabil im Zentrum des Fantasy-Genres. Natürlich ist nicht sämtliche Fantasy von Tolkien abhängig oder nach seinem Vorbild geschrieben. Im 21. Jahrhundert hat sich der Mainstream der englischsprachigen phantastischen Literatur dankenswerterweise um so unterschiedliche Autoren wie N. K. Jemisin, Tomi Adeyami, Tamsyn Muir und viele andere erweitert. Aber es gilt eben auch, wie der britische Phantast Terry Pratchett einmal schrieb:

Tolkien has become a sort of mountain, appearing in all subsequent fantasy in the way that Mt. Fuji appears so often in Japanese prints. Sometimes it’s big and up close. Sometimes it’s a shape on the horizon. Sometimes it’s not there at all, which means that the artist either has made a deliberate decision against the mountain, which is interesting in itself, or is in fact standing on Mt. Fuji. (86)

Dies ist die Art und Weise, wie ein Geschichtenerzähler dasselbe aussagt, was Attebery in der Sprache der Literaturwissenschaft und der Enyalië am Grab in der Sprache der Liturgie äußert. In den fünfzig Jahren seit Tolkiens Tod haben sein Werk und sein Vermächtnis unser Verständnis davon, was Fantasy überhaupt ist, unwiderruflich geprägt. Dieser Oxford-Don, dessen scheinbar anachronistische, unklassifizierbare, aber äußerst populäre Geschichten über Elben, Hobbits und magische Ringe einst von den selbsternannten Hütern der westlichen Literatur abgetan wurden, ist zu einer ihrer kanonischen Figuren geworden.

Ob das nun gut oder schlecht ist, hängt sehr davon ab, wen man fragt. Als lebenslanger Tolkien-Fan lautet meine Antwort: ein bisschen von beidem. So oder so könnten wir bei der Bibelwissenschaft genauso gut das Handtuch werfen wie bei der Tolkien-Forschung. So wie die Bibel einen ebenso tiefgreifenden wie unausweichlichen Einfluss auf die westliche Kultur hat, selbst für diejenigen, die sie nicht als Heilige Schrift anerkennen, so hat Tolkien einen unausweichlichen Einfluss auf die moderne Phantastik und damit auch auf das Studium des Phantastischen. Dieser kanonische Status ist der Grund, warum wir ihn noch nicht abschreiben können; er bedeutet zu vielen Menschen zu viel, hat aber auch eine zu große Anziehungskraft auf unser Forschungsgebiet ausgeübt. Genau dieser kanonische Status ist aber auch der Grund, warum die Tolkien-Forschung neue Horizonte der Rezeption und Anwendbarkeit erkunden und sich verantwortungsvoll mit Tolkiens kompliziertem Erbe auseinandersetzen muss, weil es sowohl literarisch als auch kulturell wirkt, einerseits historisch andererseits auch zeitgenössisch ist. Was ein weiteres Merkmal darstellt, das sein Werk mit der Bibel teilt. Ich muss meinen Kolleginnen und Kollegen zugutehalten, dass viele herausragende Forschende, sowohl etablierte als auch aufstrebende, aktiv neue Wege in der Tolkienforschung beschreiten. Es ist jedoch noch mehr vonnöten, darunter vor allem ein aktives Überdenken von Ansätzen, die in unserem Bereich zu lange die Oberhand hatten.

Tolkiens eigenes Bild eines Kessels der Geschichten (»cauldron of story«) aus dem Essay On Fairy-Stories führt zu einem tieferen Verständnis der Veränderungen, für die ich plädiere. Als Reaktion auf die europäische Manie des Neunzehnten und frühen Zwanzigsten Jahrhunderts, Volksmärchen zu sammeln, zu kategorisieren und zu analysieren, schreibt Tolkien über die zeitgenössischen Volkskundler im Großen und Ganzen: »[they are] using the stories not as they were meant to be used, but as a quarry from which to dig evidence, or information, about matters in which they are interested« (On Fairy-Stories 38). Die Mehrheit der Anthropologen, Mythologen und Volkskundler nutzten antike Erzählungen, um eine (größtenteils imaginäre, deshalb aber nicht immer falsch dargestellte) Vormoderne zu rekonstruieren, oder sie versuchten, die Genese eines Erzähltyps oder einer Trope auf einen einzelnen, diskreten historischen Vorfahren zurückzuführen. Tolkien räumt ein, dass er als Philologe, der sich sowohl beruflich als auch schöpferisch mit Wörtern und ihrer Geschichte beschäftigt, ebenfalls diesen Drang nach Ursprüngen verspürt. Er beeilt sich jedoch, hinzuzufügen:

[E]ven with regard to language it seems to me that the essential quality and aptitudes of a given language in a living moment is both more important to seize and far more difficult to make explicit than its linear history. So with regard to fairy-stories, I feel that it is more interesting, and also in its way more difficult, to consider what they are, what they have become for us, and what values the long alchemic processes of time have produced in them. (39)

In Anlehnung an ein Bild des britischen Volkskundlers George Webb Dasent schreibt Tolkien, dass im Kessel der Geschichten zum einen Knochen, also die vielfältigen Quellen einer bestimmten Erzählung, und zum anderen die Suppe, die »story as it is served up by its author or teller« (40), zu finden sind. In seinem berühmten Essay über Beowulf verwendet Tolkien eine Metapher aus der Architektur, um einen ähnlichen Punkt zu verdeutlichen: Er beschreibt einen Mann, der das verfallene Mauerwerk alter Gebäude zusammenträgt, um sich einen Turm zu bauen. Als der Mann stirbt, stellen seine Nachbarn fest, dass er seine Baumaterialien verschiedenen antiken Quellen entnahm. Sie reißen den Turm ab, um herauszufinden, woher die Steine ursprünglich stammten. Was diese Quellensucher nicht bemerken, ist: »from the top of that tower the man had been able to look out upon the sea« (Tolkien, The Monsters 8). In beiden Fällen geht es Tolkien weniger um die Ursprünge einer Geschichte, wobei sich sowieso die Frage stellt, inwieweit sich diese überhaupt mit Sicherheit feststellen lassen, als vielmehr um die Wirkung: »the effect produced now by these old things in the stories as they are« (On Fairy-Stories 48). Die Tolkien-Forschung könnte hieraus durchaus eine Lehre ziehen. Diejenigen von uns, die sich mit dem Mann beschäftigen, werden es immer erbaulich (möglicherweise) und unterhaltsam (ganz sicher sogar) finden, »jede einzelne Notiz, die Tolkien einmal auf eine Serviette geschrieben hat, zu interpretieren und diese Analyse einer mehrfachen Peer Review zu unterziehen«, wie es im Call for Papers zu diesem Forum hieß. Wenn wir jedoch im Sinne Tolkiens weitermachen wollen, täten wir gut daran, die Auswirkungen von Tolkiens Fiktion auf seine Leser und die breitere Kultur, in die diese Auswirkungen eingebunden sind, eingehender und sorgfältiger zu betrachten.

Der Schlüssel zu diesem Unterfangen liegt darin, den Einfluss der sogenannten »Autorenintention« auf weite Teile der Tolkien-Fangemeinde und -Wissenschaft zu lockern. Um ein aktuelles Beispiel zu nennen: Die jüngste Veröffentlichung der Amazon-Prime-Serie The Lord of the Rings: The Rings of Power (Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht, US/NZ 2022–, Idee: Patrick McKay, J. D. Payne) hat, zumindest in der englischsprachigen Welt, zu einer Überfülle galliger Reaktionen seitens Fans geführt, die sich selbst zu wahren Verteidigern von Tolkiens Erbe ernannt haben. Tolkien hat nie explizit schwarze Elben oder schwarze Zwerge beschrieben; daher, so die Argumentation, sei eine diverse Besetzung ein Affront gegen Tolkiens Absichten. Diejenigen, die die Serie mögen, insbesondere Frauen und POCs, wurden im Internet beschimpft, wobei die Anschuldigungen von falschen Fans und Amazon-Shills bis hin zu rassistischen Beleidigungen und Hassreden reichen. Ich persönlich habe zahlreiche Probleme mit Amazons Adaption des Zweiten Zeitalters von Mittelerde, aber eine vielfältige Besetzung gehört nun wirklich nicht dazu. Der giftige Diskurs über eine Serie, die meiner Meinung nach weder so gut noch so schlecht ist, um derart extreme Meinungen zu rechtfertigen, hat sich auch unter Forschenden widergespiegelt. Das Seminar »Tolkien und die Vielfalt« der britischen Tolkien-Gesellschaft im Jahr 2021 wurde von politisch und theologisch konservativen Fans und Gelehrten gleichermaßen angefeindet. Einige meiner Kollegen haben Morddrohungen erhalten, weil sie Frauen und/oder POCs sind, die über Tolkien aus ihrer einzigartigen und wertvollen sozialen Position heraus schreiben (Reid). Meine Leserinnen und Leser werden besser als ich über Tolkiens Status bei deutschen rechtsextremen Organisationen Bescheid wissen; aber in meinem Heimatland, den Vereinigten Staaten, verteidigen rechtsgerichtete Publikationen wie die National Review Tolkien gegen »wokeness« (Birzer), während kryptofaschistische ›Intellektuelle‹ sich die Bilder von Elben und Hobbits aneignen, um für eine Minderheitenherrschaft zu argumentieren (Yarvin). Auch für die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihre Partei Fratelli d‘Italia ist Tolkien seit langem eine faszinierende Figur; so veranstaltete die ultrakonservative Italienische Jugendfront schon 1977 ein Hobbit-Camp, in dessen Rahmen eine neofaschistische Zukunft erträumt wurde (Horowitz).

Diese abscheulichen Aneignungen kommen nicht aus dem Nirgendwo. In der gleichen Passage aus The Lord of the Rings, die wir auf der Enyalië 2023 lasen, ruft Gandalf laut: »Stand, Men of the West! Stand and wait! This is the hour of doom!«, woraufhin kurz darauf dies folgt:

But the Men of Rhûn and of Harad, Easterling and Southron, saw the ruin of their war and the great majesty and glory of the Captains of the West. And those that were deepest and longest in evil servitude, hating the West, and yet were men proud and bold, in their turn now gathered themselves for a last stand of desperate battle. But the most part fled eastward as they could; and some cast their weapons down and sued for mercy. (949)

Die Worte ließen mich inmitten meiner Rührung erröten. Tolkiens beunruhigende Tendenz, nicht-weiße Völker in die Rolle des bösen Anderen zu pressen, drängt sich unangenehm in den Höhepunkt seines Meisterwerks (vgl. Mills). Es ist nicht schwer, zu erkennen, wie zeitgenössische Faschisten in The Lord of the Rings Unterstützung für ihre schädliche Ideologie finden, wenn sie nur danach suchen. Fadenscheinige Argumente über Tolkiens schriftstellerische Absicht und die Kanonizität von Adaptionen und Interpretationen dienen daher häufig dazu, weiße Überlegenheitsinterpretationen seines Werks zu untermauern – Interpretationen, die sich auf echte und tatsächlich problematische Merkmale des Textes stützen, um einen ›Tolkien‹ zu konstruieren, der die faschistische Apologetik stützt.

So töricht es wäre, zu leugnen, dass es solche Lesarten Tolkiens gibt, so töricht wäre es, zu behaupten, dass dies die einzig möglichen Lesarten sind, oder gar solche, denen die große Mehrheit der Leser Tolkiens zustimmt. Meine derzeitige Forschungsarbeit an der Universität Glasgow untersucht die Rezeption von The Lord of the Rings unter nicht-religiösen Tolkien-Fans als Teil einer größeren Studie über die Rolle scheinbar säkularer populärer Erzählungen im Zusammenhang mit der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse nach Identität, Gemeinschaft und Sinn in einer post-christlichen spirituellen Landschaft. Die Tatsache, dass Tolkien jenen Menschen so viel bedeutet, die ausdrücklich nicht seinen römisch-katholischen Glauben teilen, widerlegt theologisch exklusive Behauptungen, dass Tolkiens Werk einzig als das wesentlich christliche Werk eines wesentlich christlichen Autors verstanden werden kann (vgl. Pearce ix). Wegweisende Rezeptionsstudien von Wissenschaftlern wie Martin Barker und Ernest Mathijs, Luke Shelton und Robin Anne Reid (»How Queer Atheists«) reihen sich ein in konstruktive Neubetrachtungen von Tolkiens vielschichtigem Erbe aus schwarzer (Thomas), queerer (Driggers), feministischer (Croft und Donovan) und ökokritischer (Conrad-O’Briain und Hynes) Perspektive. Ungeachtet des Gejammers reaktionärer Kräfte innerhalb der Tolkien-Gemeinschaft brauchen wir mehr davon, nicht weniger. Schließlich wurde bei dem Enyalië-Treffen, das ich in Oxford besuchte, der religiöse Status der Fans nicht an der Tür überprüft. Es gab keine Trennung nach Race, Geschlecht, Klasse oder sexueller Orientierung, wobei die ›wahren Fans‹ ganz vorne in der Schlange standen und die ›Weckrufer‹ nach hinten gedrängt würden. Die einzige Voraussetzung für die Teilnahme war die Liebe zu Tolkiens Werk und der Wunsch, diese Liebe mit anderen zu teilen. Hier sehen wir den »effect produced now by these old things in the stories as they are« (Tolkien, On Fairy-Stories 48), in ihrer umfassendsten, ja sogar einer befreienden Form.

In der ersten Ausgabe der deutschsprachigen Tolkien-Zeitschrift Hither Shore schreibt Thomas Fornet-Ponse, dass wir scharf zwischen der christlichen Instrumentalisierung von Tolkiens Fiktion und der theologischen Rezeption der religiösen Themen, die darin zu finden sind, unterscheiden müssen (»Lord of the Rings« 53). Dies mag Forschenden aus anderen Bereichen, in denen feministische, poststrukturalistische und postkoloniale Methoden seit langem die eiserne Herrschaft des Autors untergraben haben und Multivokalität und Leserreaktionen als gültige theoretische Perspektiven anerkennen, völlig klar erscheinen. Im Rahmen der Tolkien-Studien bleibt Fornet-Ponses Warnung jedoch so aktuell wie eh und je. In der Tat muss man in der Tolkien-Forschung die Unterscheidung über den Bereich des Religiösen hinaus ausdehnen, um seinen Einfluss auf das Gebiet der Fantasy-Studien, das Fantasy-Genre selbst und die erweiterte Welt der Kultur und Politik so weit wie möglich zu berücksichtigen. In einem demnächst erscheinenden Artikel in der englischsprachigen Zeitschrift Mythlore argumentiere ich, dass wir eine Hermeneutik der Tolkien‘schen Autorität durch eine Hermeneutik der Tolkien‘schen Inspiration ersetzen können und sollten, indem wir den Schöpfer von Mittelerde als Gesprächspartner im Bedeutungsdialog betrachten und nicht als eine Foucault‘sche (oder, wie man auch sagen könnte, biblische) Autorität, vor der wir das literaturkritische Knie beugen müssen (Emanuel). Eine solche Abkehr von der Konzentration auf Tolkiens Quellen, geschweige denn seine Absichten, ermöglicht es uns, Interpretationen seiner Fiktion als ebensolche Interpretationen und nicht als Qualitäten zu betrachten, die den Werken selbst innewohnen. Sie untergräbt die disziplinierende Funktion religiöser und literarischer Kanons (Aichele 62) und macht Tolkiens Geschichtenwelt zu einer gemeinsamen symbolischen Sprache und nicht zu einer Reihe von Vorschriften – allgemeiner, politischer oder anderer Art. Die eukatastrophische Freude, die wir in seiner Fiktion erblicken, muss zu einer kritischen Freude werden, wobei diese Freude »entails the transparent discussion of how a text reflects systemic issues whilst also potentially celebrating its affordances and nuances« (Lavezzo und Rios Maldonado 243 f., Hervorhebung im Original).

Kurzum, wir müssen Tolkien entkanonisieren. Nur dann können wir seine Werke mit größerer Ehrlichkeit, Tiefe und Integrität studieren und lieben.

(Übersetzt aus dem Englischen von Frank Weinreich)

Autor

Rev. Tom Emanuel ist ordinierter Pfarrer der theologisch progressiven United Church of Christ und Doktorand der englischen Literatur an der Universität Glasgow. Tom Emanuels Forschungen verbinden Fanstudien, Theologie und Fantasy-Literatur, hier insbesondere die Werke von J. R. R. Tolkien. Sein aktuelles Projekt »The Tale We‘ve Fallen Into: J. R. R. Tolkien’s The Lord of the Rings, Fandom, and the Post-Christian Quest for Meaning« untersucht Tolkiens Rezeption unter nicht-religiösen Fans in der sich verändernden spirituellen Landschaft des 21. Jahrhunderts und wird von einer Arts and Humanities Research Council (AHRC) Promotionspartnerschaft mit der Scottish Graduate School of Arts and Humanities (SGSAH) finanziert. Er veröffentlicht demnächst in Mythlore und den Tolkien Studies und ist Mitglied des Redaktionsausschusses von Mallorn, der Zeitschrift der Tolkien Society (Großbritannien). Tom ist in seinem akademischen Blog »Queer and Back Again« (queerandback.substack.com) und per E-Mail unter thomas.emanuel@glasgow.ac.uk zu erreichen.

»Und was machen Sie, wenn Sie mit Tolkien durch sind?«

Thomas Honegger

Von den unzähligen Interviews, die ich mittlerweile zu Tolkien und seinem Werk gegeben habe, blieb mir besonders eines in Erinnerung. Dies vor allem, weil der Journalist am Ende des Gesprächs fragte: »Und was machen Sie, wenn Sie mit Tolkien durch sind?« Ich war sowohl verblüfft als auch belustigt, dass man auf die Idee kommen könnte, es sei möglich, Tolkien erschöpfend und endgültig zu erforschen, abzuhaken und sodann weiterzuziehen. Diese Einstellung erinnerte mich doch sehr an die satirisch-humorvolle Charakterisierung des Literaturdoyen Morris Zapp in David Lodges unvergleichlichem Campus-Roman Changing Places:

Some years ago he [Professor Morris Zapp] had embarked with great enthusiasm on an ambitious critical project: a series of commentaries on Jane Austen which would work through the whole canon, one novel at a time, saying absolutely everything that could possibly be said about them. The idea was to be utterly exhaustive, to examine the novels from every conceivable angle, historical, biographical, rhetorical, mythical, Freudian, Jungian, existentialist, Marxist, structuralist, Christian-allegorical, ethical, exponential, linguistic, phenomenological, archetypal, you name it; so that when each commentary was written there would be simply nothing further to say about the novel in question. (35)

Nun leide ich glücklicherweise nicht in dem Maß an akademischer Selbstüberschätzung wie Morris Zapp, auch wenn eines meiner nie vollendeten Traumprojekte die definitive kommentierte Ausgabe von The Lord of the Rings war. Mit dem Dahinschwinden des jugendlichen ofermods wurde mir klar, dass dies aus mehreren Gründen nicht möglich sein würde.

Erstens hatte ich anfänglich die Komplexität und Vielschichtigkeit von Tolkiens literarischem Universum massiv unterschätzt. Dies wurde mir zum ersten Mal bewusst, als ich in den späten 1990er-Jahren so etwas wie eine Fußnote zur Figur des Mannes im Mond in Frodos Lied im Tänzelnden Pony verfassen wollte. Die ›Fußnote‹ wurde schließlich 2005 als der Aufsatz »The Man in the Moon: Structural Depth in Tolkien« von stolzen 65 Seiten Umfang in Root and Branch veröffentlicht, flankiert von einer zweiseitigen »Note« in Notes and Queries. Die Nachforschungen zum Thema führten mich nicht nur in die naheliegenden Gefilde der mittelalterlichen englischen Literatur, Geschichte und Volksüberlieferung, sondern auch zu exotischeren Mythologien und Legenden, die sich um diese Figur ranken. Mit zunehmendem Erstaunen stellte ich fest, dass Tolkien in seinem umfangreichen Werk die realweltliche Vielschichtigkeit der Figur des Mannes im Mond für seine Sekundärwelt in zahlreichen, sehr unterschiedlichen Textgattungen nachempfunden hatte. Die Nennung des Mannes im Mond in Frodos Lied war gerade mal die Spitze der Spitze des Eisbergs.

Mein »Mann-im-Mond«-Erlebnis illustriert ein Phänomen, das in Tolkien Studies ziemlich weit verbreitet ist: Man kann ein unscheinbares Detail in Tolkiens Werk nehmen und sich über dessen Hintergrund und Funktion Gedanken machen – und entdeckt oftmals, dass es eine Tür zu einer komplexen und vielschichtigen Sekundärwelt öffnet, die ihrerseits wieder mit den Mythen, Sagen und Erzählungen unserer Welt verknüpft ist. Faszinierend, aber für jemanden, der Tolkien »durcharbeiten und abhaken« möchte, eine schlechte Nachricht.

Ein zweiter Grund, weshalb wir nicht so schnell an ein Ende kommen werden, liegt in der bereits vorhandenen sowie noch zu erwartenden Materialfülle. Tolkien ist einer jener Autoren, von denen mehr Texte nach seinem Tod veröffentlicht worden sind als zu Lebzeiten. Und wie ich aus eigener Erfahrung und Anschauung weiß: Es gibt noch einiges, was in den Archiven und Nachlässen einer wissenschaftlichen Aufarbeitung harrt.

Aber bereits jetzt haben die Tolkien-Forscher:innen exzellente Instrumente zur Verfügung, die die Analyse des Schreibprozesses und die Entwicklung seiner Sekundärwelt erleichtern. So besitzen wir durch die Arbeiten von Wayne G. Hammond, Christina Scull und John Garth eine minutiöse biographische Erfassung von Tolkiens Leben. Dazu kommt die Veröffentlichung vieler seiner Entwürfe und Textskizzen im Rahmen der zwölf Bände der History of Middle-Earth was uns erlaubt, seinen künstlerischen Schaffensprozess schrittweise nachzuverfolgen. Auch die noch anhaltende Publikation weiterer literarischer und wissenschaftlicher Texte Tolkiens bietet immer wieder neue Einblicke in die Entstehung und Transformation von Motiven, die uns aus seinen literarischen Hauptwerken bekannt sind. So bin ich beim Lesen von Tolkiens The Battle of Maldon together with The Homecoming of Beorhtnoth (2023) auf Dinge gestoßen, die wohl früher oder später ihren Niederschlag in einer ›Fußnote‹ finden werden.

Wie diese wenigen Beispiele zeigen, ist selbst die Korpusbildung von Tolkiens Werk noch nicht endgültig abgeschlossen. Dies ist gerade auch in Hinblick auf die Rolle seines jüngsten Sohns und literarischen Erben Christopher (1924–2020) wichtig. Denn Tolkiens Testament machte ihn zum »literary executor« mit »full power to publish edit alter rewrite or complete any work of mine which may be unpublished at my death or to destroy the whole or any part or parts of any such unpublished works as he in his absolute discretion may think fit and subject thereto« (offizielle Kopie von Tolkiens Testament, 23. Juli 1973, Abb. 6). Christopher Tolkien hat somit über beinahe fünf Jahrzehnte eine zentrale Rolle in der Auswahl, Aufbereitung, Kommentierung und Publikation der posthumen Texte gespielt, und sein eigener Nachlass beherbergt sicher das eine oder andere Fundstück, das uns noch tieferen Einblick in das Werk seines Vaters geben könnte und somit die Tolkien-Forschung für ein paar weitere Jahre beschäftigen wird.

Abb. 6:
Abb. 6:

Tolkiens Testament

Ein dritter Grund für die andauernde Relevanz von Tolkiens Werk ist sein Status als Referenzpunkt innerhalb des Fantasy-Genres. Natürlich existierte Fantasy – unter welchem Namen auch immer – vor Tolkien und es gibt auch nicht von Tolkien inspirierte Fantasy nach der Veröffentlichung von The Lord of the Rings. Aber aufgrund seines Erfolgs bei den Leser:innen und der Verbreitung durch andere Medien, gilt Tolkiens Epos als das prototypische, zentrale und das Genre prägende Werk der High Fantasy. Oftmals werden Autor:innen in der Fantasy – ob nun zu Recht oder Unrecht – explizit mit Tolkien verglichen. So hat die Zeitschrift TIME den Artikel von Lev Grossman über den Fantasy-Autor George R. R. Martin mit der Überschrift »An American Tolkien« versehen. Wie viele Schlagzeilen war auch diese wohl eher als Provokation gedacht, denn im Artikel selbst argumentiert Lev Grossman durchaus differenziert und weist auf die beträchtlichen Unterschiede zwischen den beiden Autoren hin, und ich hatte den Eindruck, dass der oder die für die Überschrift verantwortliche Herausgeber:in sich eher von den gemeinsamen Mittelinitialen der beiden Autoren als vom Inhalt des Beitrags hat leiten lassen. Dennoch zeigt gerade der Fall von Lev Grossmans TIME-Artikel, wieso Tolkien so dominant ist: Martins literarische Leistung wird daran gemessen, inwiefern er in gewissen Aspekten (z. B. der moralischen Komplexität seiner Charaktere) im Kontrast zu Tolkien steht und eine für ein zeitgenössisches Publikum zugänglichere Charakterisierung der Protagonist:innen gibt.

Grossmans Artikel ist ein Beispiel dafür, dass es für Literaturkritiker:innen und deren Leser:innen oftmals einfacher ist, eine:n neue:n Autor:in einzuordnen und zu verstehen, wenn man denjenigen mit einem/einer Referenzautor:in vergleicht. So wie man eine Nuss ohne Hilfsmittel einfacher mittels einer zweiten Nuss knacken kann, erschließen sich die besonderen Qualitäten und Charakteristiken von Werken der Fantasy oftmals erst, wenn man sie mit anderen Fantasy-Texten vergleicht und kontrastiert. Aus diesem Grund habe auch ich Tolkien als Ausgangs- und Bezugspunkt für meine Interpretation von Martins Werk genommen. Es gibt natürlich Themenbereiche, die bei dem einen Autor prominent vertreten sind – bei Martin wären das Sex und Gewalt –, aber beim anderen keine Rolle spielen und sich somit keine echte Vergleichsgrundlage finden lässt. Allerdings sagt auch diese Feststellung etwas über den Charakter des jeweiligen Werks aus. Ich fand auf jeden Fall die kontrastierenden Analysen gemeinsamer Themen bei Tolkien und Martin sehr aufschlussreich (siehe Honegger, »Tweaking«), und sie haben mich nicht nur viel über Martins Weltenschöpfungsstrategien gelehrt, sondern auch dazu gebracht, Tolkien mit neuen Augen zu lesen.

Neben den High-Fantasy Autor:innen, bei denen der Bezug zu Tolkien auf der Hand liegt, gibt es aber auch Schriftsteller:innen wie Philip Pullman, die sich in ihren Weltschöpfungen nicht auf die prätechnologische, pseudo-mittelalterliche Standardwelt beziehen. Dennoch kann selbst Pullmans Serie His Dark Materials als Reaktion auf Tolkien gesehen werden, da er sich absichtlich in Opposition zu Tolkiens christlich-katholischer Weltsicht positioniert. Etwas überspitzt könnte man deshalb sagen: Als Fantasy-Autor:in arbeitet man entweder in der (hauptsächlich) von Tolkien begründeten Tradition – oder man versucht bewusst, sich davon abzusetzen. Ignorieren kann man Tolkiens Werk und dessen Einfluss auf das Genre indes nicht.

Ein weiteres Beispiel für den Einfluss von Tolkiens Werk und seine Funktion als Referenzpunkt ist das von ihm geprägte Bild der Fantasy-Elben (siehe dazu Honegger, »Beautiful and sublime«). Die noch in der viktorianischen und edwardischen Epoche vorherrschende Vorstellung von »fairies« und »elves« als kleiner geflügelter Wesen wurde maßgeblich durch die Darstellung der »elves« in Tolkiens Werk als großgewachsener, schlanker, langhaariger, hellhäutiger, grauäugiger, edler und weiser menschenähnlicher Wesen abgelöst. Zwar finden wir zeitgleich alternative Vorstellungen von Elben in Poul Andersons Fantasy-Roman The Broken Sword (1954), doch es sind Tolkiens Eldar, die, nicht zuletzt dank Peter Jacksons Filmen, zu den dominanten Verkörperungen der Elben wurden und für die ich die Bezeichnung Albi Jacsonienses geprägt habe. Später gibt es auch hier wieder Abweichungen und Rückgriffe auf alternative Traditionen (siehe z. B. die Elben in Susanne Clarkes Jonathan Strange & Mr Norrell [2004] oder die ethnischen Elben in der TV-Serie Rings of Power), aber dies geschieht meist in Abgrenzung von und als Reaktion auf die hegemonialen Albi Jacsonienses.

Der vierte und letzte Grund, der für ein Weiterleben der Tolkienforschung spricht, ist die Tatsache, dass jede Forscher:innen- und Leser:innengeneration immer wieder andere Themen, Fragen und Antworten in Tolkiens Epos entdeckt. The Lord of the Rings ist, wie jedes große literarische Werk, offen für vielfältige Interpretationen, die oftmals jenseits der ursprünglichen Intention des Autors liegen können. Tolkien hat zwar im Idiom seiner Zeit und Kultur geschrieben, die Zugänge zu seinem Werk jedoch bewusst ›durchlässig‹ gestaltet, so dass immer wieder neue Anwendungen gefunden werden (er prägte dafür den Begriff applicability). Ich ignoriere hier die politische Vereinnahmung von Tolkiens Werk, die von den Anti-Establishment-Hippies der 1960er-Jahre über die Ökologiebewegung bis hin zu den italienischen Rechtspopulisten reicht (Georgia Meloni ist ein großer Tolkien-Fan) und konzentriere mich auf den akademischen Diskurs.

Ein Blick auf die Themen der auf 50 Bände angewachsenen Cormarë-Series (Walking Tree Publishers) vermittelt einen ersten Eindruck von der Themenvielfalt in den Tolkien Studies. Neben Untersuchungen zu Tolkiens Inspirationsquellen in der Literatur der Antike und des Mittelalters finden sich Studien zur Übersetzungsproblematik und der Rezeption seiner Werke in verschiedenen Kulturen, zu spezifisch biographischen Aspekten, zur Einordnung in die verschiedenen literarischen Strömungen, zur Funktion der Musik und Tolkiens Verhältnis zu Richard Wagner, zu Tolkien und den Inklings, zu seiner Bedeutung in der Ökokritik, zu theologischen Fragen, zur Sprachästhetik, zu philosophischen Themen, zu den juristischen und politischen Strukturen Mittelerdes und und und … Die Liste ließe sich weiter fortführen, und es mangelt sowohl Walking Tree Publishers wie auch anderen Verlagen nicht an Vorschlägen von Autor:innen für weitere Monographien und Sammelbände zu Tolkiens Werk.

Oftmals entstehen neue Interpretationsansätze aus der Gunst oder Ungunst der Stunde. So liefert der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ein jüngstes Beispiel für die applicability von Tolkiens fiktionalen Texten. Wie die ukrainische Inklings-Forscherin Dr. Alexandra Filonenko in mehreren ihrer Konferenzvorträge ausgeführt hat, bezeichnen die Ukrainer die russischen Invasoren oft als Orks und identifizieren sich mit den heldenhaften Gondorianern und Rohirrim. Dabei wird auch die Karte Mittelerdes auf die realweltlichen Länder projiziert, was automatisch zu einer ethisch-moralischen Verortung der Kriegsparteien führt und den russischen Angriffskrieg in den gewünschten Diskurs einordnet.

Zu guter Letzt sei noch darauf hingewiesen, dass mein Beitrag zwar als ein Plädoyer für die Sinnhaftigkeit einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Tolkiens Werk gedacht ist, wir jedoch nicht vergessen sollten: Tolkiens Bücher sprechen immer noch am eloquentesten für sich selbst. Deshalb gilt der Rat, den der (damals noch nicht heilige) Augustinus einst aus Kindermund vernommen hat: Tolle, lege! Nimm, lies! Und wenn Leser:innen daraufhin mehr über die von Tolkien erschaffenen Welt herausfinden möchten, so finden sie Tür und Tor zu einem lebendigen wissenschaftlichen Diskurs weit offen.

Autor

Thomas Honegger promovierte an der Universität Zürich, wo er Alt- und Mittelenglisch unterrichtete. Er ist Autor von From Phoenix to Chauntecleer: Medieval English Animal Poetry (1996), Introducing the Medieval Dragon (2019) und Tweaking Things a Little. Essays on the Epic Fantasy of J. R. R. Tolkien and G. R. R. Martin (2023). Seine Habilitationsschrift (2001) behandelte die Interaktion zwischen höfischen Liebenden in der mittelalterlichen erzählenden Literatur. Er betreute mehrere Sammelbände mit Aufsätzen zur alt- und mittelenglischen Literatur sowie zum Werk von Prof. Tolkien als Herausgeber und hat darüber hinaus zu Chaucer, Shakespeare und den mittelalterlichen Romanzen publiziert. Seit 2002 ist er Professor für anglistische Mediävistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Homepage: www.iaa.uni-jena.de/mitarbeiter-innen/honegger-thomas.

Konkurrierende Interessen

Frank Weinreich ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Fantastikforschung. Die übrigen Autor:innen haben keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Filmografie

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