For Fantasy is true, of course. It isn’t factual, but it is true.

(Ursula K. Le Guin: »Why Are Americans Afraid of Dragons?«)

Der Weltenbau ist vielleicht das wichtigste Element aller Fantasyliteratur. Die Stoffe – wie Liebe, Hass, Freundschaft, Intrigen, Loyalität, Heldentum, Persönlichkeitsentwicklung und Politik – können in aller Art von Literatur, ja aller Art von Kunst und Musik behandelt werden. Und man kann sagen, dass diese Themen einfacher zu entwickeln sind, wenn sie sich auf realem Terrain abspielen, denn Erzählerinnen und Erzähler wie auch das Publikum bewegen sich dort in einem vertrauteren Umfeld, das vielen Genres eine Heimat gibt. Im Krimi, der Liebesgeschichte, dem Militärepos, der Satire und überhaupt realistischer Literatur finden sich wohlbekannte, weil mit der eigenen Erfahrungswelt korrespondierende Bühnen für die genannten Inhalte. Fantasy erzählt von all dem auch, hat aber zudem eine deutlich höhere Hürde zu überwinden, um Samuel T. Coledriges »willing suspension of disbelief« zu erreichen (Coleridge 169). Nicht nur ist die Geschichte – wie alle Fiktion – erlogen, sie spielt auch noch auf einer Bühne, die es nicht gibt. Tolkien nannte als Erfordernis für eine überzeugende »fairy-story«1 die Darstellung einer Welt »which the mind can enter« (Tolkien 52). Erst wenn eine erfundene Welt so nachvollziehbar konstruiert, atmosphärisch überzeugend und detailreich ausgestaltet ist, dass das Publikum sich in sie hineinziehen lassen kann, ist es möglich, die offensichtliche Lüge einer Erzählung über Drachen, Dämonen und Magie zu akzeptieren und den Unglauben2 temporär fahren zu lassen, der die emotionale Beteiligung am Erzählerlebnis und damit den Genuss der Geschichte gefährdet. Die erzählten Stoffe, die sind wahr, wie man mit Ursula Le Guin nicht umhin kommt festzustellen: »Fantasy is true, of course« (Le Guin 44). Aber weil die erzählten Fakten Lügen sind, müssen sie überzeugend erlogen sein. Das wiederum führt zwangsläufig zur Realität zurück, zu echten historischen Ereignissen und jener vorgängigen Literatur, die die kulturellen Weltbilder der Publika bestimmen. Diese Vorbilder seziert und analysiert der Mediävist Thomas Honegger in seiner Doppelstudie der Werke der beiden einflussreichsten Erzähler der Fantasy J. R. R. Tolkien und George R. R. Martin und der Welten ihrer Hauptwerke Mittelerde und Westeros. Damit erklärt er einen Großteil der Faszination dieser beiden Erzählphänomene anhand ihrer Wurzeln.

Abb. 1
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Cover von Tweaking Things a Little

Die eigens erfundene Welt ist sozusagen das Markenzeichen des Fantasygenres, auch wenn es natürlich viele Beispiele von in der realen Welt spielenden Fantasygeschichten und deren phantastischer Protagonistinnen und Protagonisten gibt; man denke nur an die Proliferation von Vampir- und Werwesen-Romanen in den letzten fünfundzwanzig Jahren. Klassisch ist aber seit den Anfängen der genretypischen Werke bei William Morris und dem späten 19. Jahrhundert die von unserer Realität abgetrennte Welt mit eigener Geografie, Geschichte, sie bevölkernder Lebewesen und mehr oder weniger ausgearbeiteter Kosmogonie. Sowohl was die Verkaufszahlen von Büchern als auch die Adaption in andere Medien angeht und nicht zuletzt in punkto wissenschaftlicher Aufmerksamkeit sind Mittelerde und Westeros – oder die »Known World«, wie die Gesamtheit der erzählten Welt bei Martin heißt – als Vertreter der High Fantasy die hervorstechendsten Beispiele von Weltschöpfung. Und der Weltenbau ist auch der Aspekt, auf den Honegger mit Tweaking Things a Little: Essays on the Epic Fantasy of J. R. R. Tolkien and George R. R. Martin sein Hauptaugenmerk legt; anders etwa als eine wenige Jahre vor Honegger erschienene Analyse von George R. R. Martins A Song of Ice and Fire (1996), in der sich Joseph R. Young hauptsächlich mit der Textanalyse im Rahmen formaler für das Genre typischer Merkmale beschäftigt.3

Dementsprechend geht es auch nur in eher geringem Umfang um Analysen von Inhalt und Dramaturgie der jeweils mehrbändigen und äußerst komplexen Geschichten, die Tolkien und Martin erzählen, als vielmehr um die Welten, in denen sie spielen, und zwar mit dem Fokus auf ihre Entstehung und die realweltlichen wie literarischen Wurzeln, denen sie entspringen. Und auch wenn Honeggers Buch als aus einem Guss erscheint, besteht es doch aus fünf Teilen, die zuvor schon in reduzierter Form unabhängig voneinander publiziert wurden. Die Originalaufsätze und Essays wurden komplett überarbeitet und spiegeln somit auch den aktuellen Forschungsstand wider. Dazu wurden sie um frische Aspekte ergänzt und um Verbindungen und eine inhaltliche Klammer erweitert. Nichtsdestotrotz empfiehlt der Autor, das Buch nicht als traditionelle Monographie zu lesen, sondern eher als »a collection of essays on shared themes which can, in theory, also be read independently from each other«, was er zudem in einem architektonischen Vergleich als »a Gothic castle in the tradition of Gormenghast rather than a classicist townhouse« beschreibt (Honegger XIV). Dem möchte der Rezensent widersprechen, der das Buch als argumentativ zusammenhängende Analyse der untersuchten Werke empfand, an deren Ende sich ein umfassendes Bild der Hauptwerke Martins und Tolkiens hinsichtlich der behandelten Fragen ergibt.

Die fünf Teile des Vergleichs umfassen erstens den Umfang der Historie der erfundenen Welten, zweitens die Namensgebung als Hilfsmittel des Weltenbaus, darauf aufbauend drittens die Rolle der in Westeros und Mittelerde aufzufindenden Sprachen, viertens die gänzlich unterschiedliche Rolle von Ritterschaft bei beiden Autoren und schließlich die ihren Welten, ja Universen (zumindest im Falle Tolkiens) unterliegende Ethik und was daraus für die Moralität der Handlungen der Protagonistinnen und Protagonisten folgt. Letztlich lassen sich die genannten fünf Teile jeweils als Baustein der Fantasywelten beschreiben, die zusammengenommen das Bühnenbild der epischen Geschichten erklären. Besonders mit dem Abschnitt über die Ethik beweist Honegger aber, dass das überaus komplexe Bühnenbild beider Autoren viel mehr als eine mehr oder weniger sichtbare Kulisse ist, vor der Wesen aller Art agieren, sondern als grundlegende Erklärung für die Handlung und die Motive der Handelnden dient. In einer Abwandlung des Marxschen Diktums ließe sich forsch sagen: Das Sein bestimmt das Geschehen. Und diese Erkenntnis gibt einen Hinweis darauf, dass Worldbuilding in der Fantasy bedeutend mehr sein kann, als nur ein exotisches Setting zu skizzieren.

Eine mehr oder weniger, jedenfalls nie völlig sichtbare Kulisse ist laut Honegger der bewusst gewählte Kern der Historie von Westeros und Mittelerde. Unter Bezug auf Hemingways Erkenntnis – »If you leave out important things or events that you know about, the story is strengthened« (Hemingway 3) – führt Honegger das »Iceberg Model« ein (Honegger 4); als Bild von einer der Erzählung unterliegenden Inhalten, von denen wie bei dem im Salzwasser schwimmenden natürlichen Eisberg gerade einmal zehn Prozent sichtbar sind. Die fehlenden neunzig Prozent ans Licht zu holen und in ihrer Signifikanz zu erklären, dem widmet der Autor im Folgenden die sich anschließenden Analysen. Überhaupt ist die Darstellung des historischen Unterbaus der Welten Tolkiens und Martins als Eisberge beispielgebend für das Vorgehen auch in den Kapiteln über Namen, Sprachen, Ritterschaft und Ethik.

Die Geschichte Mittelerdes ist demzufolge komponiert aus den zu Lebenszeiten unveröffentlichten Materialien, die der Professor über die Dauer seines Lebens hinweg erdichtet hat, sowie aus archetypischen, mythischen und Volkssagen-Elementen vorgängiger Autoren und Erzählerinnen. Sichtbar (zu Lebzeiten Tolkiens4) waren von Mittelerde nur The Hobbit (1937) und The Lord of the Rings (1954–55), beide gründen aber auf einem reichen Mythen- und Erzählteppich sowohl aus des Autors Hand wie aus dem Erzählerbe der Menschheit. Dieser Erzählteppich verleiht den beiden Mittelerde-Romanen ein Gefühl von enormer Tiefe und den Anschein echter Geschichte, den Honegger als »Beowulfian depth« (8) bezeichnet und damit auf Tolkiens eigene Analyse des Beowulf-Gedichts verweist, dessen dichterische Überzeugungskraft auch darauf beruht, »because the author uses encyclopeadic […] information« (8), und zwar wohldosiert und im Dienste des Fortgangs der Erzählung. Ein Rezept, das Tolkien sehr erfolgreich für seine Romane genutzt hat, die an dramaturgisch passenden Stellen ebenfalls pseudohistorisches Material bereitstellen, das Leitplanken für die Entwicklung der Geschichte zur Verfügung stellt.

Für Martin konstatiert Honegger ebenfalls einen mythologischen und vor allem motivgeschichtlich archetypischen Hintergrund, der sich aus verschiedensten Quellen speist. Ebenfalls wie bei Tolkien gibt es auch einen selbst- beziehungsweise eigens erdichteten Hintergrund Westeros’, der allerdings im Entstehungsprozess der ersten vier Bücher des Zyklus nicht als Basis von Ice and Fire diente, sondern zu größeren Teilen im Nachhinein verfasst wurde und zusätzliche Informationen auch für die mediale Weiterverwertung in Game of Thrones (US 2011–2019, Idee: David Benioff, D. B. Weiss) und dem Spin-off House of the Dragon (US 2022–, Idee: Ryan Condal, George R. R. Martin) sowie eventueller noch kommender Erweiterungen des Martinversums liefert. Anders als bei Tolkien ist ein Ansatz zu konstatieren, der sich hauptsächlich auf Gedichte und Lieder stützt, also einer vorgeblich oralen Tradition folgt, und, wie erwähnt, im Nachhinein entwickelt wurde. Vor allem greift Martin aber auf die realweltliche Geschichte und Literatur zurück – es seien beispielhaft die Tudors und das Werk Shakespeares genannt, Honegger führt jedoch viel mehr Vorlagen auf –, um seiner Welt Tiefe und Relevanz zu verleihen. Honegger spricht von »a plethora of parallels and analogues from different eras of primary-world history« (Honegger 26). Was jedoch nicht heißt, dass Martin nicht auch auf Mythen und Sagen zurückgreift, etwa das Motiv des Goldenen Zeitalters oder Troja, nur eben nicht in dem Ausmaß, wie Tolkien es tut, der sogar die Genese seines Universums letztlich auf den christlichen Ursprungsmythos gründet.

Die Eisberge sind zu groß und der »ocean of archetypes« (25) ist zu weitläufig, um alle literarischen wie historischen Bezüge bei Tolkien und Martin zu berücksichtigen, und so stellt Honegger einige Kernpunkte heraus, die beleuchten, wie das hemingwaysche strengthening in beiden Geschichten respektive Welten funktioniert. Dabei werden in der nicht nur akademischen Diskussion der Werke oft genannte Anknüpfungspunkte wie beispielsweise der Einfluss Shakespeares auf Martin und der nordischer Mythen auf Tolkien zwar erwähnt, aber hauptsächlich stützt Honegger sich auf weniger bekannte Exempel, an denen sich die Expertise des Anglisten und Lehrstuhlinhabers für englische Mediävistik an der Friedrich-Schiller-Universität zu Jena klar zeigt. Ob es sich um den Aufweis von Motiven alt- und mittelenglischer Epen und Dichtung bei beiden Autoren handelt, um realweltlich fundierte Heraldik, die Übernahme des Motivs der Translatio imperii5 als Rechtfertigung des Eroberungszugs der Targaryens, eine Amalgamierung des Atlantis-Mythos in der Nachfolge Platos und Vergils als Erklärung des Falls von Númenor oder um andere Quellen handelt – der Rückgriff auf klassische Motive und damit der Einsatz von Tolkiens »cauldron of story«6 wird evident: »Martin skillfully imparts all this information indirectly and refrains from spelling out their connections«, schreibt Honegger explizit (35), meint damit aber Tolkien sicherlich mit.

In der gleichen komparativen Art und Weise stellt Honegger Namen und Sprachen, die besondere, bei beiden vom klassisch kolportierten Bild des edlen Ritters abweichende Rolle von Ritterschaft und schließlich die Ethik bei Tolkien und Martin in den Mittelpunkt der folgenden ausführlichen Kapitel. Dabei zeigt sich erstens ein deutliches Muster der Zusammenhänge zwischen Mittelerde und Westeros. Zweitens wird aber auch erkennbar, welche Rolle solcherart sorgfältig eingebundene Elemente für die Glaubwürdigkeit einer erfundenen Welt und damit für das Worldbuilding einnehmen.

In Bezug auf die Namensgebung arbeitet Honegger die kulturellen Assoziationen sowie die ästhetischen Qualitäten beider Autoren heraus. Dabei betont er die generative Rolle von Namen und Namensgebung für Tolkien als Startpunkt für Mittelerde (vgl. das Unterkapitel »Inspiration By Names«, 110 ff.). Die findet sich so bei Martin nicht, für den die Vision einer Geschichte in die später so breit ausgearbeitete Story und Weltentwicklung mündete, die letztlich mit Blick auf beide Autoren zu einer »difference between the logocentric and the imagocentric genesis of the works« führt (130, meine Hervorhebung). In Verbindung mit der Rolle von Sprache – dies natürlich besonders bei dem Philologen Tolkien7 – ergibt sich als Zusammenfassung beider Kapitel, das sie »vital to the secondary worlds« (166) beider Autoren dahingehend sind, dass sie ein Gerüst bilden, anhand dessen sich Denken und Empfinden der Protagonistinnen und Protagonisten beider Geschichten nachvollziehen lässt, auch wenn das zu identifizieren ein gerütteltes Maß an linguistischer Bildung auf Seiten des Publikums voraussetzt.

Ritterschaft (»chivalry«; 167) und Ethik hängen eng miteinander zusammen, schon weil sich Ritterschaft ohne Ethik (oder eben deren Missachtung, das aber hauptsächlich bei Martin) nicht verstehen lässt. Ritterschaft in ihrer tatsächlichen realweltlichen Erscheinung – ob nun der europäische Begriff von Ritterschaft, den sich Tolkien und Martin zum Vorbild nehmen oder deren außereuropäische Äquivalente wie etwa die Samurai Japans – ist untrennbar mit einem ehrenhaften Verhaltenskodex verbunden, der in der literarisch-romantischen Fiktionalisierung meist nochmals stark überhöht wird. Weder Martin noch Tolkien hängen jedoch dem Bild des klassischen Ritters in strahlender Rüstung bruchlos an, wie Honegger im vierten Kapitel von Tweaking überzeugend herausarbeitet.

Die Ablehnung des klassischen Ritterbildes, das uns heute etwa aus der Artussage bekannt ist, hat erstens damit zu tun, dass Tolkien sein »fundamentally religious and Catholic work«, von offensichtlicher christlicher Symbolik freihalten wollte, denn »the religious element is absorbed into the story« (Tolkien, Letters 172). Christliche Symbolik ist aber nun einmal ein kennzeichnendes, ja wahrscheinlich das bezeichnendste Element europäischer Ritterschaft überhaupt. Zweitens sind das Ehrgefühl und die Art von Ritterlichkeit, die zu porträtieren Tolkien wichtig waren, eher in frühmittelalterlicher Zeit und in den Kämpfen der Angelsachsen und nicht im Hochmittelalter zu finden, wie beispielsweise Tom Shippey in The Road to Middle-earth ausführt.8

Martins Ritter entsprechen in Beschreibung und Auftreten zwar sehr viel mehr dem bekannten Ritter des Hochmittelalters und Minnegesangs, ihr Verhalten deckt jedoch von verräterisch über grausam, feige, strategisch bis zu heldenhaft und vorbildlich alles ab, was mittelalterliche Kämpfer in der realen Welt wahrscheinlich auch zeigten, weicht damit jedoch ebenfalls vom überhöhten klassischen Bild der Sagen und Ritterromanzen deutlich ab. Honegger identifiziert »flawed«, »ideal« und »new knights« (Honegger 204 f.). Anhand des Rittertums bei Martin zeigt sich die besondere Nähe seiner Erzählung zu unserer Realität. Martins ethisch ambivalente Ritter sieht Honegger als »equivalent to the political elite in our world« an (242), und seine Welt »shares […] the problems of our world« und »provides a contemporary mirror to our problems to a much greater degree than Tolkien’s timeless classic« (285). Das ist eine interessante Beobachtung dahingehend, dass es eben nicht nur die Quellen sind, die Fantasy mit der Realität verbinden, sondern dass ihre Geschichten eben diese unsere Realität auch kommentieren, ungeachtet aller möglicherweise auftretenden Magie und Dämonen.

Das abschließende Kapitel bietet einen Parforceritt durch die Ethik beider Weltentwürfe, der ein eigenes Buch gerechtfertigt hätte – allerdings ist die Basis des Kapitels ja auch ein vorgängig publizierter, in sich abgeschlossener Aufsatz. Im Wesentlichen läuft die Analyse der Ethiken auf eine Gegenüberstellung der teleologischen Verfasstheit Mittelerdes mit der moralisch offenen, weil von keinem Gott oder Schicksal regierten Welt von Westeros hinaus. Der Weltenlauf bei Tolkien ist in Stein gemeißelt, nach Schöpfung und vier Zeitaltern wird die Welt – ganz christlich – in der Erlösung durch Gott/Ilúvatar enden. Dementsprechend konzentriert sich Ethik bei Tolkien auf den als gegeben angenommenen freien Willen (vgl. Weinreich »It was«, »Ethos«) und lässt sich in zwei Fragen zusammenfassen: »How shall I behave? What shall I do?« (Honegger 333). Honegger zieht sich aber nicht auf diese Punkte zurück, sondern entwickelt sie in detaillierter Weise und textgetreu, so dass sich ein äußerst ausführliches Kapitel über Ethik ergibt. Denn auch die Ethik bei Martin wird auf komplexe Weise hergeleitet. Dabei offenbart sich eine grundlegende Tragik, die wiederum sehr an die soeben erwähnten »problems of our world« erinnert: »This is what Martin shows to his readers in different variations: the tragedy of (mostly good) men and women failing to be good rulers« (364).

Während Honegger in seiner Konklusion des Buches noch einmal eng an die beiden untersuchten Werke anschließt, drängt sich dem Rezensenten der – ich denke zumindest in Teilen intendierte – Eindruck auf, dass diese wertvolle Studie der beiden wichtigsten Werke der Fantasyliteratur besonders darauf abzielt, den engen Zusammenhang der Realität mit den vermeintlichen Wolkenkuckucksheimen des Genres hervorzuheben. Die Wurzeln des Weltenbaus und die ganz besondere Wahl von Namen und Sprachen stellen Mittelerde und die »Known World« in die Erzähltradition seit Anbeginn der ersten oral tradierten Geschichten und damit – denn fiktionale Geschichten waren und sind stets ein Ausfluss der Conditio humana – in direkten Bezug zu unserem echten Leben. »Secondary worlds« stellen damit immer auch eine Verhandlung der Realität dar, und in manchen Fällen sind die so überzeugend gebaut, dass sie Millionen von Menschen ansprechen. Bei der Darstellung der Moralität in The Lord of the Rings und A Song of Ice and Fire zeigt sich, dass beide Ansätze von unverminderter Aktualität und ebenfalls fest in der Realität verwurzelt sind. Sowohl die Frage, was man mit seinem freien Willen anstellen soll, wie auch das Mitdenken bei der Beobachtung des Verhaltens von Menschen in einer Welt, in der wirklich fast jeder des anderen Wolf ist, aber nur sehr wenige des anderen Gott sind, sind geeignet, das Publikum zum Beziehen persönlicher Stellungen anzuregen. Und auch das wird einen Teil des Erfolgs der Werke erklären, auch wenn einem manches Detail vielleicht erst durch Honegger klar vor Augen geführt wird.

Doch der Rezensent ist nicht nur Kritiker, sondern in seinem Hauptberuf Lektor und schaut deshalb auch mit diesem Auge auf Tweaking Things a Little. Und da ist der vielfach und geschmackvoll illustrierten Studie – fast unabhängig – von ihrem wissenschaftlichen Wert zu konstatieren, dass sie eine exzellente Analyse von Worldbuilding darstellt, die jeder Genreautorin und jedem Genreregisseur schon deshalb ans Herz gelegt werden sollte, weil man bei Honegger lernen kann, wie und warum Weltenbau funktioniert (oder nicht funktioniert); nämlich vor allem, weil es auf das richtige Gleichgewicht an Realität und Phantasie ankommt.

Notes

  1. Das Zitat entstammt dem für das Genre Fantasy grundlegenden Essay »On Fairy-stories«, den Tolkien 1947 zu einer Zeit veröffentlichte, als der Genrebegriff Fantasy noch nicht existierte (vgl. zur Einführung des Genrebegriffs Fantasy in den Sechziger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts Weinreich 63), sonst hätte der Professor seinen Essay möglicherweise On Fantasy genannt, weshalb ich »fairy-story« und Fantasy in diesem Text gleichsetzen möchte (denn das klassische Volks- oder Kunstmärchen meint er damit nicht). [^]
  2. An das Erzählte/Erdichtete glauben zu können ist für Coleridge das Ziel der willentlichen Aussetzung des Unglaubens, wie das vervollständigte Zitat aus Biographia Literaria zeigt, in dem er den Zweck von William Wordworths Lyrical Ballads wie folgt beschreibt: »as to transfer from our inward nature an human interest and a semblance of truth sufficient to procure from these shadows of imagination that willing suspension of diebelief for the moment, which constitues poetic faith« (Coleridge 169; meine Hervorhebungen). [^]
  3. Wie schon Youngs programmatischer Titel aussagt: George R. R. Martin and the Fantasy Form. [^]
  4. Sämtliche über den Hobbit und die Ring-Geschichte hinausgehenden Erzählungen und sonstige Fragmente Mittelerdes – das sogenannte »Legendarium« – wurden posthum veröffentlicht, waren also ehedem nicht ›sichtbar‹. [^]
  5. Die Annahme einer Translatio imperii legitimierte den Übergang von Herrschaft bis hin zur Abfolge ganzer Reiche – etwa der Sukzession des Römischen Imperiums durch das Karolingerreich (vgl. Honegger 55 ff.). [^]
  6. Der »cauldron of story« (Tolkien 2008, 44) ist eine Metapher Tolkiens aus »On Fairy-stories«, die beschreibt, dass phantastische Geschichten ihre Inhalte einer oft nicht eindeutig zu identifizierenden Melange von Motiven und vorgängigen Erzählungen, Sagen und Märchen entnehmen (vgl. die Ausführungen dazu ebd. 44 ff.) [^]
  7. Honegger zitiert zu diesem Aspekt ein illustratives Bonmot Martins: Bei Tolkien, so Martin, habe es sich schließlich um einen Sprachwissenschaftler und Professor gehandelt, der sich über Jahrzehnte mit Sprachentwicklung habe beschäftigen können. Er aber »alas, am only a hardworking SF and Fantasy novel[ist]« (Honegger 159). [^]
  8. Vgl. die Unterkapitel »The Horses of the Mark« und »The Edges of the Mark« in Shippey 122–131. [^]

Autor

Frank Weinreich studierte Philosophie, Politikwissenschaften und Publizistik an der Ruhr-Universität Bochum, promovierte in Philosophie an der Universität Vechta und arbeitete als Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Dozent an den Universitäten Bochum, Dortmund und Vechta. Er lebt als freier Lektor und Publizist in Bochum und veröffentlichte über einhundert Bücher und Artikel zu verschiedensten Themen der Phantastik. Seit 2023 ist er auch als Mitherausgeber der Zeitschrift für Fantastikforschung tätig. Berufliche Homepage: www.textarbeiten.com, private Homepage (inkl. einiger Artikel): www.polyoinos.de.

Konkurrierende Interessen

Frank Weinreich ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Fantastikforschung.

Filmografie

Game of Thrones. Idee: D. Benioff, D. B. Weiss. US, 2011–2019.

House of the Dragon. Idee: Ryan Condal, George R. R. Martin. US, 2022– .

Zitierte Werke

Coleridge, Samuel T. Biographia Literaria. J. M. Dent & Sons, 1975.

Hemingway, Ernest. »The Art of the Story«. New Critical Approaches to the Short Stories of Ernest Hemingway, Hg. Jackson J. Benson. Duke University Press, 1990. 1–13. DOI:  http://doi.org/10.2307/j.ctv123x676.5.

Honegger, Thomas. Tweaking Things a Little. Essays on the Epic Fantasy of J. R. R. Tolkien and George R.R. Martin. Walking Tree Publishers, 2023.

Le Guin, Ursula K. »Why Are Americans Afraid of Dragons?«. The Language of the Night. Essays on Fantasy and Science Fiction by Ursula Le Guin, Hg. Susan Wood. G.P. Putnam’s Sons, 1979. 39–45.

Martin, George R. R. A Song of Ice and Fire. Bantam Books, 1996.

Shippey, Tom. The Road to Middle-earth. How J. R. R. Tolkien Created a New Mythology. Houghton Mifflin, 2003.

Tolkien, J. R. R. The Hobbit or There and Back Again. George Allen & Unwin, 1937.

Tolkien, J. R. R. The Lord of the Rings. George Allen & Unwin, 1954–55.

Tolkien, J. R. R.. The Letters of J. R. R. Tolkien, Hg. Humphrey Carpenter. HarperCollins, 1995.

Tolkien, J. R. R.. On Fairy Stories. Expanded Edition with Commentary and Notes by Verlyn Flieger & Douglas A. Anderson. HarperCollins, 2008.

Weinreich, Frank. »›It was always open to one to reject.‹ Zur Möglichkeit philosophischer Interpretationen Tolkiens fiktionaler Werke am Beispiel der Willensfreiheit«. Hither Shore 1 (2004): 71–83.

Weinreich, Frank. »Ethos in Arda. Charakteristika der Ethik in Mittelerde«. Eine Grammatik der Ethik, Hg. Thomas Honegger et al. Edition Stein und Baum, 2005. 111–134.

Weinreich, Frank. Fantasy. Einführung. Essen 2007.

Wordsworth, William. Lyrical Ballads with Pastoral and Other Poems. Vol I. London, 1802.

Young, Joseph Rex. George R. R. Martin and the Fantasy Form. London, 2019. DOI:  http://doi.org/10.4324/9781315144795.