Wissenschaftliche Bände über die Science Fiction und deren Geschichte gibt es bereits einige; da kann man sich natürlich fragen, ob es eines so gewichtigen Werkes wie der Cambridge History of Science Fiction wirklich noch bedarf. Der oder die interessierte Forscher*in hat schließlich die Wahl zwischen diversen Handbüchern sowie unzähligen Sammelbänden und Monografien, die sich der SF als Genre, Modus oder Kulturform verschrieben haben. Die meisten von ihnen bieten zumindest aufschlussreiche chronologische Überblicke als Teil ihrer Gesamtschau. Hinzu kommt, dass kürzere SF-Geschichtsschreibungen bereits vorhanden sind, so etwa Adam Roberts The History of Science Fiction oder Mark Boulds und Sherryl Vints The Routledge Concise History of Science Fictionvon Brian Aldissoder Edward James’ älteren Studien ganz zu schweigen. Und doch bietet das neue Werk der beiden SF-Forscher Gerry Canavan und Eric Carl Link einige spannende Neuerungen und ungewöhnliche Ansätze, die den Sammelband zu einer wichtigen Ressource für Forscher*innen und Studierende machen wird.

Schwerwiegend ist alleine schon das Format des Bandes, dessen 800 Seiten 46 breit aufgestellte Kapitel zu bieten haben. Mit dem deutlich gewachsenen Umfang (Boulds und Vints Concise History umfasst im Vergleich 250 Seiten) stellt sich den Herausgebern die Frage, wie man eine möglichst umfassende Historie der SF herleitet. Damit einhergehend müssen sie Aspekte der Definition, der Untergliederung, der Auswahl und Präsentation entscheiden – alles Punkte, die in der SF-Forschung seit Jahrzehnten diskutiert und nach wie vor nicht abschließend geklärt worden sind. Zu sehr sind Definitionskriterien von wissenschaftspolitischen oder ökonomischen Faktoren beeinflusst und zu weit hat sich die SF in die verschiedensten Bereiche der Kulturproduktion ausgedehnt. Canavan und Link wählen dann auch »an inclusive approach to science fiction« (3) und orientieren sich an John Rieders 2010 erschienenem Essay »On Defining SF, or Not: Genre Theory, SF, and History« und dessen historisch-wandelbarer Nicht-Definition einer durch verschiedene Praxisgemeinschaften immer wieder neu verhandelten Gruppierung von Texten (6f).

So erklärt sich auch, dass die Essays im Band zwar einer groben Chronologie folgen, dabei aber sehr unterschiedliche Versionen der Geschichte der SF in den Vordergrund stellen, die ein und denselben Zeitabschnitt aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. Beispielsweise wird das Golden Age der SF einerseits literarhistorisch unter Bezug auf die Moderne betrachtet. Dazu ergänzend wird die Epoche aber auch mit einer kulturpraktischen Fokussierung auf die sie rezipierenden Fans sowie aus der Sicht der Macher der Pulp-Fiction-Magazine dargestellt. Schließlich kommt auch die thematische Perspektive zum Zug, wobei der Fokus auf den utopischen Visionen einer besseren Zukunft sowie der ganz realen Bedrohung durch das Atomzeitalter liegt, die sich in Formaten wie Young Adult Novels oder dem neuen Medium des Fernsehens niederschlugen. Das Bild einer historischen Periode wird so mosaikhaft aus vielen Facetten zusammengesetzt, was eine Analyse der Bezüge und Einflüsse in ihrer vollen Tiefe erlaubt, die bislang nur durch eine verbindende Lektüre verschiedener Monografien möglich war – eine Leistung, die die Cambridge History of Science Fiction zum idealen Startpunkt für historische Auseinandersetzungen mit der SF macht.

Bei der Frage der Struktur, also wie man eine solche Geschichte ordnet und in Kapiteln greifbar macht, haben sich Canavan und Link zu einem ungewöhnlichen Schritt entschieden. Statt der üblichen Ordnung, die mehr oder weniger gleichberechtigter Zeitperioden – meist vorgegeben durch definitorische Abgrenzungen etwa in Proto-SF, Golden Age, New Wave und so weiter – folgt, betonen die Herausgeber vor allem den historischen Moment der New Wave, die sie als zentralen »turning point« (8) der SF-Geschichte verstehen. Dies nicht aufgrund sich ändernder ästhetischer Kategorien, sondern vor allem weil diese Zeit mit einem »shift in SF’s reception in culture, particularly in the academy« (8) einhergeht. Die Entstehung der SF-Forschung, die kommerziellen Erfolge der SF im audio-visuellen Bereich, die Nutzung der SF als Vehikel für politische Botschaften der Zeit und die bis heute andauernde Beschäftigung mit Autor*innen der New Wave mache diese Zeit zum Wendepunkt der SF und damit zum zentralen Ordnungsfaktor der History. Mit 19 Kapiteln, die alles abdecken, was »Before the New Wave« passierte, und 17 Kapitel für alles »After the New Wave« verleihen die zehn Kapitel »The New Wave« den Jahren zwischen 1960 und 1979 einen deutlichen Vorrang in der Entwicklung der SF – wichtige Themen sind dabei ganz klar der Einfluss der Bürgerrechtsbewegung, Vietnam, die Anfänge der Umweltbewegung, die sexuelle Revolution oder generell die Counterculture. Die SF ist hier – also insbesondere in den New-Wave-Kapiteln – deutlich mit den progressiven, politisch eher links zu verankernden Strömungen der US-amerikanischen Kultur verbunden und wird als intellektuelles Mittel einer Auseinandersetzung mit und Kritik an bestehenden hegemonialen Strukturen verstanden.

Und damit wären wir auch schon beim letzten Merkmal der History, denn die Auswahl der einzelnen Themengebiete ist keineswegs zufällig. Gerade auch im letzten Teil, der sich mit der Zeit nach der New Wave beschäftigt wird deutlich, dass die Herausgeber die SF maßgeblich als ein kulturkritisches Genre begreifen, das sich in die politischen Belange einer jeweiligen Zeit einmischt. Eine eigene politische Agenda ist durchaus zu vermuten, denn es gibt beispielsweise keinen Abschnitt zu rechtskonservativer Military SF (im Gegensatz zur durchaus vertretenen Antikriegs-SF wie Joe Haldemans The Forever War (1974), der im Vietnam-Kapitel besprochen wird) oder zu neoliberalen Utopien. Dem Band geht es nicht (oder nur am Rande) um die Pulp-Freuden und Abenteuergeschichten der Space Opera oder die klischeebeladenen neoliberalen Auswüchse des Superhelden-Genres im aktuellen Kino. Diese Themen werden zwar behandelt, aber durch eine kulturkritische Linse gebrochen, etwa in der Betrachtung der SF als Franchise-Welten oder durch Ausführungen zur Fan Culture. Auffallend ist dabei, dass im letzten Abschnitt die enger gefassten und spezifischen Kapitel, wie etwa zum Krieg gegen den Terror, in geringerer Zahl vorhanden sind, dagegen überwiegen große Überblicke zum Comic der 1980er- bis 2010er-Jahre oder zum Fernsehen der 1980er- und 1990er-Jahre. Nach den aufschlussreichen und sich gegenseitig gut ergänzenden Mosaiksteinen der ersten Kapitel ist die Zusammenstellung hier gröber und nicht ganz so gut gelungen.

Zudem fällt auf, dass bestimmte Themen den Herausgebern offensichtlich besonders am Herzen liegen, andere jedoch nur sporadisch vertreten sind. So gibt es in jedem der drei Hauptabschnitte ein Kapitel zum Afrofuturismus und je eines zum Thema Gender. Internationale Perspektiven sind dagegen nur sehr ausgewählt vertreten: Vor der New Wave muss ein Kapitel zum kontinentalen Europa ausreichen, in der New Wave ein Blick nach Osteuropa, und im Abschnitt nach der New Wave erhalten China, der globale Süden und Lateinamerika jeweils eigene Kapitel.

Hier liegt vermutlich die größte Herausforderung für die Zusammenstellung eines solchen Buchprojekts, denn die immer weiter voranschreitende Internationalisierung der SF-Forschung fordert einfach auch, das Genre globaler zu betrachten. Gerade die Konzentration auf die New Wave, die vornehmlich anglo-amerikanisch dominiert war, verdeutlicht hier die Orientierung der Herausgeber auf den englischen Sprachraum. Das ist nicht zuletzt an der Zusammenstellung der einzelnen Autor*innen und deren Institutionen spürbar. Von den 46 Kapiteln stammen lediglich fünf aus der Feder von Wissenschaftlern an nicht englisch-sprachigen Universitäten – ein Umstand, den es zu kritisieren gilt und der sich in Zukunft ändern muss. Gerade die Forschung zur SF in Europa, aber auch an asiatischen Universitäten, muss stärker in den internationalen Austausch gelangen. Dabei sei aber noch einmal betont, dass der Band mit hervorragenden Essays aufwarten kann, die von einer hinsichtlich Gender und Statusgruppe durchaus diversen Gruppe relevanter SF-Forscher*innen geschrieben wurden. Damit muss die Cambridge History of Science Fiction als ein zentrales Handbuch der SF-Forschung gelten und – der leicht anglozentrischen Perspektive zum Trotz – für jede und jeden Interessierte*n ein wichtiger Anlaufpunkt sein.

Autor

Dr. Lars Schmeink ist Projektleiter im Unterprojekt »Science Fiction« des BMBF-geförderten »FutureWork«-Netzwerks und arbeitet im Bereich Digitalisierung an der HafenCity Universität Hamburg. Er war Vorsitzender der Gesellschaft für Fantastikforschung von 2010–2019. Seine wichtigsten Veröffentlichungen sind Biopunk Dystopias (2016), Cyberpunk and Visual Culture (Hg., 2018), The Routledge Companion to Cyberpunk Culture (Hg., 2020).

Konkurrierende Interessen

Der Autor hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

References

Zitierte Werke

Aldiss, Brian und David Wingrove. Trillion Year Spree. The History of Science Fiction. House of Stratus, 2001.

Bould, Mark und Sherryl Vint. The Routledge Concise History of Science Fiction. Routledge, 2011. DOI: [doi: 10.4324/9780203830161]

James, Edward. Science Fiction in the Twentieth Century. Oxford UP, 1994.

Rieder, John. »On Defining SF, or Not: Genre Theory, SF, and History«. Science Fiction Studies 37.2 (2010): 191–209.

Roberts, Adam. The History of Science Fiction. Palgrave, 2005. DOI: [doi: 10.1057/9780230554658]