Der vorliegende Band ist der erste deutschsprachige Sammelband zu Pen&Paper-Rollenspielen im Allgemeinen und zu Das Schwarze Auge (DSA) im Besonderen. Dabei ist er darüber hinaus vor allem motivgeschichtlich und damit kultur- und geisteswissenschaftlich statt wie sonst in der Forschung primär soziologisch ausgerichtet, wie die Herausgeber_innen ausführen. Doch nicht nur hier versucht der Band Neuland zu betreten: Auch in seiner Orientierung sowohl auf ein wissenschaftliches als auch ein nichtwissenschaftliches Publikum beschreitet er einen für Sammelbände ungewohnten Weg, der an manchen Stellen aber auch der Forschungsrelevanz mancher Aufsätze im Wege steht. Gleichzeitig wird auch immer wieder eine gute Kenntnis der Spielwelt von DSA (vor allem des Kontinents Aventurien) vorausgesetzt, was wiederum für ein Fachpublikum, das sich zwar für Rollenspiele oder Fantastik interessiert, aber selbst noch nicht intensiv mit DSA beschäftigt hat, eine gewisse Hürde darstellt.

Ein Großteil der enthaltenen Beiträge beschäftigt sich mit den durch und in DSA verbreiteten Vorstellungen von Geschichte. Sowohl die Beiträge von Georg Koch und Annegret Heinrich, Bastian Gillner, Marc-André Karpienski, David Schmidt, Oliver Overheu, Johannes Walter, Martin Krieger sowie Thomas Walach beschäftigen sich mit diesem Themenkomplex, größtenteils mit Bezug zu populären Mittelalterbildern mit jeweils anderem Fokus. Als Grundlage kann der Beitrag von Koch und Heinrich gesehen werden, wendet er sich doch dem von DSA propagierten Konzept einer ›lebendigen Geschichte‹ zu. DSA beziehe sich in der Gestaltung seiner Spielwelt auf bereits etablierte mediale Mittelalterdarstellungen, diese aber bilden wiederum die Basis für die Bespielbarkeit dieser Welt: »Die phantastische Erweiterung irdischer Geschichte in der Welt des Schwarzen Auges ist die Grundlage einer konsensualen, inneren Logik der Spielwelt« (37). Dieser Ansatz führt schließlich zur Etablierung des Metaplots, einem umfassenden Plan einer noch zu erzählenden zukünftigen Historie der Spielwelt. Dadurch, dass DSA seine intradiegetischen Inhalte selbst historisiert und Spielenden Möglichkeiten bietet, mit dieser Vergangenheit in Dialog zu treten, wird Geschichtlichkeit in DSA wirklich erleb- und gestaltbar.

Die Detailbeiträge zum Geschichtsbild von DSA gleichen die Elemente der Spielwelt mit seinen Vorbildern ab. So orientieren sich die Darstellungen von Adel (Gillner), Kriegsführung (Karpienski) oder Medizin (Overheu) eben nicht an historischen Quellen, sondern an überlieferten populären Vorstellungen von Mittelalter – oder gleich am 20. Jahrhundert wie bei den Spionageorganisationen (Schmidt) – mit einer starken Betonung der Handlung von Individuen statt systemisch bedingter Prozesse und Entwicklungen, was wohl daran liegt, dass gerade das Rollenspiel das Handeln Einzelner in den Mittelpunkt stellt. Damit führt DSA zum Beispiel in seinem Ritterbild aber auch Traditionslinien des 19. Jahrhunderts, insbesondere der Romantik und des Historismus, weiter (Gillner).

Bei der Antikerezeption in DSA zeigt sich ein ähnliches Bild. Wie Walter beobachtet, spielt aber das antike Griechenland nur in seiner bukolisch-idyllischen Auslegung in der Tradition Vergils eine Rolle, während Rom als allgemeines Vorbild gelten kann. Krieger wiederum zeigt auf, dass auch die Bezüge auf Rom nur selten stringent oder konkret sind, sondern dass es meist zu einer Rekombination verschiedenster Elemente und Ideen kommt.

Ein weiterer Block an Beiträgen beschäftigt sich mit der Verhandlung von Thematiken in der Spielwelt mit den Mitteln verschiedener realer wissenschaftlicher Disziplinen. So beschäftigen sich Tobias Hainz und Philipp-M. Lang aus Sicht der Bioethik mit der magischen Chimärologie von DSA, um sie als Gedankenexperiment für tatsächliche Probleme im Feld der biologischen Chimärenforschung zu nutzen. Wolfgang Sattler wendet sich hingegen dem Problem von Dämonenpakten bei DSA zu und verwendet dieses Extrembeispiel für die Erläuterung der platonischen Seelenlehre.

Sowohl der Beitrag von Patrick Körner als auch der von Katarina Nebelin und Marian Nebelin beschäftigen sich mit der möglichen Entwicklung der Spielwelt unter Bezug auf historisch-politische Vorbilder. So fragt Körner nach der Möglichkeit der Aufklärung in der Spielwelt und stellt fest, dass es an einer systematischen Religionskritik mangle, was mit der in der Spielwelt als bewiesen geltenden Existenz der Götter zusammenhänge. Diese sei aber für die Bewohner_innen der Welt nicht überprüfbar, weshalb die Grundlage für eine kritische Auseinandersetzung sehr wohl gegeben sei. Wegen der höheren Wertung von Spielbarkeit und Wiedererkennbarkeit der Spielwelt gebe es diese aber nicht, denn diese würden durch größere Entwicklungen gefährdet. Auch bei der Frage nach dem Status demokratischer Überlegungen in der Spielwelt kommen Nebelin und Nebelin zum Schluss, dass die kosmologische Komponente der Spielwelt die Etablierung demokratischer Systeme verhindert.

Auf eine andere Ebene hebt Walach die geschichtswissenschaftliche Betrachtung, geht er doch davon aus, dass die realweltliche ›Entdeckung‹ von Inseln und die Erfindung unentdeckter Inseln am Spieltisch »strukturalistische Konstruktionsleistungen« (173) darstellen. So nutzt er »die Betrachtung aventurischer Entdeckungsfahrten als reflexives Werkzeug zur Analyse irdischer Geschichtsbilder von Entdeckung und Kolonialisierung« (174). Dabei geht es ihm, mit Rückgriff auf Foucault, darum, welche wirkenden Ordnungen des Wissens beobachtet werden können und wie sich Neues in diese Ordnung einfügt, gerade wenn dieses Neue den etablierten Ordnungssystemen widerspricht. Mit Barthes kann dieses Integrieren neuer Erfahrungen in vorhandene Ordnungen als strukturalistische Tätigkeit bezeichnet werden, die sowohl in der Realität als auch am Spieltisch eine zweite Welt, ein Simulacrum, konstruiert. Somit sind »Entdeckungsfahrten des Schwarzen Auges […] Simulacra für Narrative irdischer frühneuzeitlicher Entdeckungen« (175), die aber in ihrer Darstellung trotz expliziter Bezüge auf die Historie, deren koloniale Logik nicht übernehmen, was die »scheinbare[n] Notwendigkeiten kolonialer Strukturen [als] letztlich arbiträr« (179) entlarvt.

Einer der weiteren Themenkomplexe ist die Darstellung von Fantasy-Spezies. So zeichnen Karin Fenböck und Stefan Donecker nach, wie sich die Darstellung von Elfen und Zwergen in DSA über die Zeit verändert hat. Anfangs orientierte sich DSA vornehmlich an Tolkien, bevor nach und nach beide Spezies ihre eigenen Auslegungen erhielten. Setzt DSA bei Elfen auf einen geheimnisvollen Charakter, der sich von Tolkiens Elben vor allem im Verständnis ihrer eigenen Geschichte als gefährlicher Irrweg unterscheiden, behalten Zwerge eine deutlich stereotypere Beschreibung bei, die auch andere bekannte Fantasy-Spezies wie Gnome oder Halblinge integriert. Dennoch werden aber auch genuin neue Zwergenbilder geschaffen wie die Brillantzwerge oder die an bestimmten Inhalten jüdischer Kultur angelegten Erzzwerge, die sich dabei aber von der antisemitischen Tradition von Zwergendarstellungen des 19. Jahrhunderts durch ihren respektvollen Umgang mit den Anleihen absetzen.

Martin Tschiggerl widmet sich der Spezies der Orks und deren offensichtlichem Vorbild, den Mongolen, da beide durch Narrative erzeugte Konstrukte seien. Ihre Darstellung ist weniger an diese historische Wirklichkeit geknüpft als an die sprachliche Hervorbringung der Repräsentation im kolonialen Diskurs, was durch die Veränderungen in den Darstellungen deutlich wird, die auch das Orkbild bei DSA durchmacht. Zuerst als Monster konzipiert, wird ihnen 1991 zumindest eine genauere Beschreibung zuteil. Die Untersuchung der Ork-Darstellungen scheint gerade deshalb wichtig, da »sich auch in aventurischen Ethnographien Denkmuster wiederfinden lassen, die auch irdisch lange Zeit verbreitet waren« (199). Was aber diesen kolonialen Blick auf die Orks bei DSA eigenartig erscheinen lässt, ist, dass sie als Kolonisierende und nicht als Kolonisierte auftreten. Die Spielwelt bemüht also eine koloniale Legitimation ohne kolonialen Hintergrund. Ein weiterer Bruch in der Ork-Darstellung fand ab 2002 statt, als Orks zum ersten Mal als spielbare Charaktere verfügbar wurden, was auch zu einer deutlich differenzierteren Darstellung führte. Damit hielten auch in DSA – mit Abstrichen – postkoloniale Überlegungen Einzug.

Die übrigen Beiträge wenden sich den Strukturen der Welt und des Spiels zu. So versucht Tobias M. Scholz aus der Perspektive der internationalen Managementforschung die Zusammensetzung von kulturell diversen Held_innen-Gruppen als Wettbewerbsvorteil zu interpretieren. Arne Vangheluwe (übersetzt von Lukas Daniel Klausner) wiederum betrachtet Rollenspiele als intersubjektiv kreierte Fiktionen, die im Besonderen dazu geeignet seien, uns etwas über die conditio humana zu vermitteln. Dass dies trotz der Differenz zwischen vormoderner Welt und modernen Spielenden möglich ist, liege daran, dass diese Vormoderne »eine Projektion unserer Phantasie« ist (98). Dies führt Vangheluwe an verschiedenen Wissenschaften in der Spielwelt aus, wobei hier die Magierakademien mit ihrem modernen Verständnis von Wissenschaft aus der Reihe fallen. Hieraus schließt Vangheluwe, dass gerade das Element der (organsierten) Magie »die Einfügung unseres modernen Denkens in die mittelalterliche Fiktion« (104) darstellt. Hierin sieht er den Grund für die Beliebtheit von Magier_innen.

Lukas Schmutzer fragt nach dem spezifischen Raumerleben und Raumerschaffen im Rollenspiel. Am Spieltisch würde »durch die Sprechakte des Spielleitenden« sowie durch die »(erforschenden) Akte der Spielenden« eine fingierte Welt »geschaffen und fortwährend aktualisiert« (45). Dabei kommt es durch den Rahmen der Erzählung und der Situierung am Spieltisch zu einer doppelten Perspektive der Spielenden: eine am Spieltisch und eine in der fingierten Welt. Mit Bezug auf Iser erzeugen die verschiedenen Akte des Fingierens eine als gemeinsames Bezugssystem dienende Faktizität. Schmutzer untersucht hierfür, wie Rollenspielabenteuer, die Spielenden nach und nach durch verschiedene Sprechakte in die Spielwelt bringen und damit den Spieltisch zu einer Heterotopie machen und wie gleichzeitig die Orte in der Spielwelt erst durch die Sprechakte der Spielenden in Räume verwandelt werden.

Sebastian Bolte nähert sich dem Rollenspielabenteuer aus einer erzähltheoretischen Perspektive. Dabei geht er davon aus, dass der Drucktext des Abenteuers in anderer Beziehung zu seinem Aufführungstext steht als der Dramentext, denn beim Rollenspiel werde ein Text in einen anderen – mündlichen – Text überführt. Erst die Aufführung erzeuge den Aufführungstext, wie auch beim Improvisationstheater. Bolte sieht das Rollenspielabenteuer als Gattung, die – im Sinne eines dramatischen Erzählens – Anteile von Drama und Erzählung verbindet. Besonders bedeutsam ist dabei die Beobachtung, dass hier »Sender und Empfänger, […] Bühne und Zuschauerraum« (24) ineinander fallen, weil die Spielenden eben immer beide Rollen gleichzeitig einnehmen. Warum es sich aber dennoch um einen primär erzählerischen Text handelt, liegt am Verhältnis von Druck- und Aufführungstext: »Der Hypotext stellt eine auszuerzählende Erzählung dar« (25).

Insgesamt gelingt dem Band der zu Beginn erwähnte Spagat zwischen breitem und wissenschaftlichem Publikum nicht immer, und manche Beiträge verlieren sich zu sehr in den Details der Spielwelt. Gerade aber da, wo der Band sowohl die Komplexität seines Gegenstands als auch die Komplexität der Beobachtung annimmt, reichen die Erkenntnisse aber über Einzelbeobachtungen hinaus und stellen Grundsteine für die Forschung zu Rollenspiel und DSA dar. Im Besonderen die Beiträge von Schmutzer, Bolte, Walach, Tschiggerl sowie Koch und Heinrich haben das Potenzial, richtungsweisend für die weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung zu sein.

Autor

Dr. Tobias Unterhuber studierte Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft an der LMU München und der University of California, Berkeley. 2018 promovierte er bei Prof. Dr. Oliver Jahraus mit einer Arbeit zum Thema Kritik der Oberfläche – Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht. Er ist Postdoc am Institut für Germanistik, Bereich Literatur und Medien an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Zu seinen Forschungsinteressen zählt neben Popliteratur, Literaturtheorie, Diskursanalyse, Literatur & Ökonomie und Gender Studies auch die kulturwissenschaftliche Spielforschung.

Konkurrierende Interessen

Der Autor hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.