Die Sehnsucht nach dem Wunderbaren
Universität Zürich, CH
Ein kollektives Aufatmen ging durch die sozialen Medien, als HBO am 19. Mai 2019 THE IRON THRONE (S08E06. US 2019, Regie: David Benioff und D. B. Weiss) ausstrahlte. Nicht etwa, weil die letzte Folge von GAME OF THRONES (GOT, US 2011–2019, Idee: David Benioff und D. B. Weiss) so überragend war, weil das Ende so befriedigend ausfiel, sondern schlicht, weil es nun schließlich da war. Endlich war genug, endlich musste man sich nicht mehr im Wochentakt darüber aufregen, dass es die Macher der Serie innerhalb von drei Staffeln fertig gebracht hatten, aus den höchsten Höhen der Massenunterhaltung in ungeahnte Tiefen der erzählerischen Schlamperei abzustürzen.
Dass der Abschluss von GOT gründlich misslungen ist, dürften nur wenige bestreiten. Warum dem so ist, darüber wurde schon viel gesagt und dürfte in den kommenden Jahren wohl noch mehr geschrieben werden. Es ist auch ein Thema, das sich durch die Beiträge des Forums zieht. So unterschiedlich die Texte ausgefallen sind, und obwohl Sabrina Mittermeier in ihrem Beitrag argumentiert, dass das transmediale Phänomen Game of Thrones längst größer ist als die Fernsehserie gleichen Namens, wird mit Ausnahme des Artikels von Elke Brüns, der den Ursprüngen der untoten Figuren in der Serie nachgeht, bei allen AutorInnen mehr oder weniger deutlich die Enttäuschung über ein Werk spürbar, das ab einem gewissen Punkt den selbst gesetzten Qualitätsstandards nicht mehr genügen konnte.
Für FantastikforscherInnen, zumal für solche, die sich mit audiovisuellen Werken beschäftigen, ist das keine neue Erfahrung. Sei es STAR TREK, STAR WARS, DR. WHO, LOST, Harry Potter oder eine andere der in den Feldern SF und Fantasy besonders beliebten Endlosserien – darüber zu klagen dass es nicht mehr so ist, wie es früher einmal war, dass das goldene Zeitalter vorüber ist, ist unter Fans jeder Couleur beliebt. Das besondere Etwas, das ursprünglich den Reiz der Serie ausgemacht hat, ist verschwunden. Der primär im Kontext der SF bemühte Begriff des Sense of Wonder bezeichnet es wohl am besten. Sense of Wonder meint den Moment erhebender und erhabener Verzückung, wenn das Werk mehr wird als ›bloß‹ ein Roman, ein Film oder eine Serie, wenn es zu einem prägenden affektiven Erlebnis wird – darin dem ähnlich, was J. R. R. Tolkien in seinem programmatischen Essay »On Fairy-Stories« als Enchantment bezeichnet.
Es ist diese ursprüngliche ›wundersame Verzauberung‹, die der Fan wieder und wieder zu erleben wünscht, die aber nur begrenzt oft wiederholbar ist. Nicht nur handelt es sich bei Sense of Wonder und Enchantment ihrem Wesen nach um typische Adoleszenz-Phänomene – Fan wird man in der Regel als Teenager, wenn man darum bemüht ist, sich seine eigene Welt auf den Trümmern der Kindheit zu errichten, und nicht als Mitdreißiger oder noch später, wenn man sich bereits mehr oder weniger behaglich im Leben eingerichtet hat. Auch ist Enchantment bei Tolkien eng mit Recovery verbunden. Wenn wir aus der verzauberten Sphäre der Faerie in die reale Welt zurückkehren, ist unser Blick neu für deren zauberhafte Qualitäten geschärft.
Mit dem Zusammenspiel von Enchantment und Recovery beschreibt Tolkien ein Wirkungsprinzip, das deutliche Parallelen zum Konzept der kognitiven Verfremdung aufweist, das Darko Suvin in seiner Poetik der Science Fiction entwickelt. Zweifellos gibt es große Unterschiede zwischen den beiden Autoren: Suvin, der weder vom Sense of Wonder noch von Fantasy viel hält, geht es darum, die Gegenwart kritisch – was bei ihm marxistisch-materialistisch bedeutet – zu durchleuchten, während Tolkiens Wieder-Verzauberung darauf abzielt, das Wirken Gottes in der Welt erfahrbar zu machen. Beide Autoren gehen aber davon aus, dass uns das Eintauchen in die verzauberten bzw. verfremdeten Welten der Fiktion einen frischen Blick auf die Realität ermöglicht und uns für ihr wahres Wesen empfänglich macht (wobei sich ihre Ansichten darüber, wodurch sich dieses wahre Wesen auszeichnet, diametral gegenüberstehen).
Es ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, das Ostranenie-Konzept des russischen Formalisten Viktor Šklovskij zum Vergleich heranzuziehen. In seinem wegweisenden Aufsatz »Die Kunst als Verfahren« von 1916 entwickelt Šklovskij das Konzept der Ostranenie (wörtlich: »Seltsammachen«), das in seinen Augen die wesentliche Aufgabe von Kunst bezeichnet: Die Verfremdung des Bekannten und als dessen Folge des Aufbrechen unserer automatisierten Wahrnehmung. Indem Kunst sich ungewohnter Bilder und neuer darstellerischer Verfahren bedient, lässt sie uns das vermeintlich Bekannte neu sehen.
Šklovskijs Ostranenie wird meist als modernistisch-subversives Verfahren verstanden, das den Status quo in Frage stellt; dies dürfte auch der Grund sein, weshalb sich Suvin darauf beruft. Allerdings geht er nie wirklich auf Šklovskijs Ansatz ein; sein zentraler Bezugspunkt bildet die Brecht’sche Verfremdungstheorie, die expliziter didaktisch und politisch ausgerichtet ist. Tatsächlich enthält Šklovskijs Denken einen ausgesprochen konservativen Zug, der Tolkien weitaus mehr entspricht als Suvin. Wenn Šklovskij schreibt, dass es die Aufgabe von Kunst sei, »das Empfinden des Lebens wiederherzustellen, um die Dinge zu fühlen, um den Stein steinern zu machen« (15), dann klingt das sehr ähnlich wie bei Tolkien: »We should look at green again, and be startled anew (but not blinded) by blue and yellow and red« (146).
Es geht also in beiden Fällen darum, ›die Welt neu zu sehen‹. Aber wie oft ist das möglich? Folgt man Šklovskij, dann wird jede ursprünglich verfremdend wirkende Kunstform früher oder später kanonisiert, büßt ihre Verfremdungswirkung ein und muss, um wieder neu zu erscheinen, ihrerseits verfremdet werden. Die Geschichte der Kunst erscheint in dieser etwas mechanistischen Vorstellung als ständige Abfolge von Verfremdung, Erstarrung und erneuter Verfremdung. Die ursprüngliche Verzauberung kann nie sehr lange Bestand haben.
Was ich damit auf etwas umständliche Weise zum Ausdruck bringen will, ist, dass die Enttäuschung darüber, dass das Objekt der fannischen Begeisterung seine verzaubernde Wirkungskraft verliert, dass sich der Sense of Wonder mit fortschreitendem Alter immer seltener einstellt, bis zu einem gewissen Grad unvermeidbar ist. Neue Verzauberung setzt immer wieder neue künstlerische Verfahren voraus, die konsequent gedacht heute außerhalb von avantgardistisch-experimentellen Formen kaum noch möglich sind und für populäre Erzählformen wie GOT somit keine echte Option darstellen.
Wie Daniel Illger in seinem Beitrag ausführt, dürfte der Faktor der Zeit ein wesentlicher Grund sein, weshalb die Qualität von GOT so stark nachließ; ebenso der von Manuela Kalbermatten beschriebene Wechsel von sozial zu abstammungsmäßig definierten Figuren. In der Perspektive Šklovskijs sind diese Aspekte im Grunde aber nur Symptome einer tiefer liegenden Gesetzmäßigkeit. Weil Enchantment nicht beliebig oft neu entstehen kann, ist Ernüchterung unvermeidlich. Die Folge ist Sehnsucht nach einer Zeit, in der Verzauberung noch möglich war.
Nicht umsonst schreiben John Tulloch und Henry Jenkins in ihrer Studie Science Fiction Audiences, einem der Gründungstexte der Fan Studies, dass Fans regelmäßig von einem goldenen Zeitalter sprechen. »Golden Ages are times – usually in the fans’ past, often transmitted before they were fans – when communication between producers, fans and audiences were perceived as transparent and true« (169). Diese Ära der ungebrochenen Verzauberung, von Enchantment und Sense of Wonder, ist immer schon Vergangenheit, die nur im sehnsüchtigen Rückblick zugänglich ist. Im Grunde ein sehr Tolkien’scher Gedanke.
Nun sind WissenschaftlerInnen ja nicht identisch mit Fans. Zwar hat insbesondere Jenkins schon früh das Konzept des Aca-Fans, des Fans, der auch Wissenschaftler ist – und umgekehrt –, propagiert bzw. vorgelebt, insbesondere an deutschsprachigen Universitäten tut man sich aber nach wie vor schwer mit diesem Gedanken. Wissenschaft, so die gängige Vorstellung, muss um größtmögliche Objektivität bemüht sein, setzt kühl distanzierte Analyse voraus. Schwärmerische Begeisterung ist dagegen fehl am Platz, zeugt von mangelnder Wissenschaftlichkeit und Unreife.
Völlig abwegig ist diese Haltung natürlich nicht. Die Fähigkeit, die eigene Reaktion auf ein Kunstwerk kritisch zu reflektieren, ist Voraussetzung jeder wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Das bedeutet aber nicht, dass es nicht auch möglich ist oder sogar nötig sein kann, sich die Begeisterung für den Untersuchungsgegenstand zu bewahren (dass es eine Reihe von Fragestellungen und Perspektiven gibt, bei denen die eigenen Vorlieben wenig bis keine Relevanz besitzen, ist ebenfalls richtig).
In einem 2009 erschienenen Artikel zur Fernsehserie LOST (US 2004–2010, Idee: J. J. Abrams, Jeffrey Lieber und Damon Lindelof) plädiert Jason Mittell für einen »evaluative criticism« (122), eine wissenschaftliche Herangehensweise, die vor Qualitätsurteilen nicht zurückschreckt, die den persönlichen Geschmack nicht verleugnet. Für ihn steht fest: »We simply cannot pretend that our own taste and evaluation do not matter« (ebd.). Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Mittell dieses Credo im Zusammenhang mit LOST formuliert, einer Serie, bei der sich in den Augen vieler ein ähnlicher Qualitätsniedergang beobachten ließ wie bei GOT.
Obwohl ich Mittell in seiner Begeisterung für LOST (die auch bei ihm später deutlich nachließ) nie folgen konnte, stimme ich ihm in diesem Punkt vollumfänglich zu. Die Forderung, den eigenen Geschmack auszublenden und sich um jeden Preis um eine vermeintlich objektiv-nüchterne Haltung zu bemühen, scheint mir falsch verstandene Wissenschaftlichkeit. Sie ist die Kehrseite jener nervtötenden Frage, die sich FilmwissenschaftlerInnen immer wieder anhören müssen: Ob man angesichts all des theoretischen Wissens Filme überhaupt noch genießen könne (eine Frage, die nebenbei gesagt, LiteraturwissenschaftlerInnen viel seltener gestellt werden dürfte). Meine Antwort lautet in beiden Fällen gleich: Wieso sollte ich mein Leben der Erforschung von Filmen widmen, wenn mir das Medium nicht immer wieder Momente puren Glücks verschaffen würde? Und wie trostlos wäre eine Wissenschaft, die denen, die sie praktizieren, die Freude an ihrem Gegenstand austreiben würde?
Im ZFF-Forum ermutigen wir die AutorInnen ganz bewusst zu freieren Formen. Essayistische und auch mal polemische Texte wie jener Michael Baumanns sind ausdrücklich erwünscht. Diese Offenheit mag ein Grund dafür sein, dass die Mehrheit der BeiträgerInnen aus ihrem Herz keine Mördergrube macht und ihren Unmut über das enttäuschende Ende von GoT deutlich artikuliert. Wahrscheinlich liegt es aber vor allem daran, dass sich auch die BeiträgerInnen zu Beginn von der Serie verzaubern ließen. Der analytischen Schärfe der Texte tut dies keinen Abbruch. Ob man es nun Sense of Wonder oder Enchantment nennt – um einen Gegenstand zu erkennen und wirklich zu durchringen, kann Begeisterung eben sehr wohl hilfreich sein. Selbst wenn es am Ende nur enttäuschte Begeisterung sein sollte.
Autor
PD Dr. Simon Spiegel ist wissenschaftlicher Adjunkt am Seminar für Film-wissenschaft der Universität Zürich im Forschungsprojekt ERC Advanced Grant FilmColors. Forschungsschwerpunkte: Science-Fiction-Film, utopischer Film, Phantastiktheorie, Genretheorie. Ausgewählte Publikationen: Utopia and Reality. Documentary, Activism and Imagined Worlds (Mitherausgeber, 2020), Bilder einer besseren Welt. Die Utopie im nichtfiktionalen Film (2019); Theoretisch phantastisch: Eine Einführung in Tzvetan Todorovs Theorie der phantastischen Literatur (2010); Die Konstitution des Wunderbaren: Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films (2007). www.simifilm.ch.
Das Spiel ist aus. Über das unvermeidliche Scheitern von GAME OF THRONES
Freie Universität Berlin, DE
Aus heutiger Sicht erscheint es schwer vorstellbar, doch anfangs war keineswegs ausgemacht, dass GOT nicht ein krachender Misserfolg werden würde. In den Jahren vor der Ausstrahlung der ersten Folge am 17. April 2011, als sich die Gerüchte, dass George R. R. Martins Romanzyklus A Song of Ice and Fire von HBO adaptiert werden würde, zur Gewissheit verdichteten, glaubte kaum jemand daran, dass David Benioff und D. B. Weiss die Möglichkeit bekommen würden, die ganze Geschichte des Kampfes um den Eisernen Thron zu erzählen. Ein, zwei Staffeln GOT sind besser als überhaupt keine – so eine Einschätzung, die damals häufig zu hören war.
Aber wer hätte gedacht, dass es so kommen würde, wie es am Ende gekommen ist: Dass sich also unzählige Leser und Zuschauerinnen nach Ablauf der achten und letzten Staffel von GOT wünschen würden, dass Benioff und Weiss darauf verzichtet hätten, die Geschichte um die Starks, die Targaryens und die Lannisters zu Ende zu erzählen; oder dass sie es irgendwie ganz anders getan hätten. Wie lässt sich das erklären? Jener Umschlag von hochgespannter Erwartung zu bitterster Enttäuschung mag damit zusammenhängen, dass die Fernsehserie als populärkultureller Heilsbringer unserer Gegenwart unter einem Anspruch an Sinnstiftung ächzt, dem sie selbst unter den günstigsten Umständen kaum genügen kann. Im Fall einer Serie wie GOT, die zig Millionen Menschen weltweit zu einer Gemeinschaft von Bangenden, Hoffenden, Liebenden und Hassenden verbindet, nimmt dieser Anspruch mitunter quasi-religiöse Züge an. Darum ist es vielleicht unvermeidlich, dass ein Ende, in dem sich alles erfüllen soll (was immer unter diesem »alles« zu verstehen ist), bei beträchtlichen Teilen der Zuschauerschaft ein Gefühl hinterlässt, das dem Gegenteil von Erfüllung gleicht. Hinzu kommt freilich, dass die letzte Staffel von GOT eine ganze Reihe schwerwiegender bis desaströser handwerklicher Fehler aufweist, vor allem, was Figurenentwicklung, Handlungslogik und Dramaturgie betrifft.
Vielversprechender als die Frage, wie inkompetent, dilettantisch, gewissen- und verantwortungslos Benioff und Weiss am Ende vorgegangen sein mögen, scheint mir allerdings der Versuch, eine poetologische Perspektive einzunehmen; das heißt, darüber nachzudenken, ob etwas an dem Genre Fantasy selbst zum Scheitern von GOT beigetragen haben könnte; einem kuriosen Scheitern übrigens, insofern es im Fall dieser Serie ja einherging mit einem Erklimmen der höchsten Gipfel des kommerziellen und künstlerischen Erfolgs, wenn letzterer anhand der institutionellen Anerkennung (sprich, der Emmys) bemessen wird.
Bekanntlich ist J. R. R. Tolkien der Meinung, dass die wahren Märchen strenggenommen überhaupt kein Ende kennen würden. Nun wird der Essay, in dem Tolkien diese Ansicht entwickelt – »On Fairy-Stories« (1939/47) – die längste Zeit schon als Versuch einer poetologischen Selbstverständigung des Autors von The Lord of the Rings (1954–55) gedeutet, mithin auf die Fantasy als Genre bezogen. Und tatsächlich: The Road goes ever on and on – im Zusammenhang mit der Fantasy ist das als Verheißung zu verstehen, als Versprechen an die Leserinnen, Zuschauer und Spielerinnen, dass hinter jedem Baum und Strauch, hinter jeder Wegbiegung, auf jedem Hügel und in jedem Waldstück, in jeder einsamen Ruine und jeder dunklen Höhle eine weitere Geschichte, ein weiteres Abenteuer wartet. Meines Erachtens macht diese Verheißung einen Gutteil der Faszination aus, den das Genre Fantasy zu entfalten vermag; an der Frage, ob es einem Werk gelingt, das Versprechen eines nie endenden, potentiell unendlich erweiterbaren Erzählraums als Kunsterfahrung zu realisieren, entscheidet sich darum (maßgeblich, wenngleich nicht ausschließlich), ob das entsprechende Werk als gelungene Fantasy gelten kann.
Mindestens bis zur siebten Staffel war GOT eine Serie, die sich hervorragend darauf verstand, das Versprechen der Fantasy im Medium der Fernsehserie zu realisieren. Zweifellos ist dies nicht zuletzt der künstlerischen Meisterschaft von Martins Romanen zu verdanken, die die Freude an der Fantasy zu entfachen verstehen wie wenig anderes, was seit der Verfestigung des Genres als populärkulturelle Formation geschrieben worden ist. Benioff und Weiss konnten also auf ein höchst elaboriertes Worldbuilding zurückgreifen, als sie sich anschickten, A Song of Ice and Fire neu zu erfinden: auf Schauplätze mit historischer und kultureller Tiefe, auf ein vielköpfiges, überaus faszinierendes Figurenpersonal, auf ebenso komplexe wie präzise konstruierte Handlungsfigurationen. Dass ändert jedoch nichts daran, dass GOT einer audiovisuellen Idee bedurfte, um als Serie zu funktionieren. Diese Idee besteht (wiederum: maßgeblich, nicht ausschließlich) in einer bestimmten Form von ästhetischer Zeitlichkeit. Die Zuschauerinnen und Zuschauer erfahren sie zunächst als unausgesetzte Erweiterung des Erzählraums: Immer neue Figuren treten hinzu, immer neue Konflikte entwickeln sich, immer neue Örtlichkeiten werden erschlossen. Wichtiger aber ist noch, dass diese sukzessive Auffaltung einer Welt – die sich, wie gesagt, über viele Staffeln hinzog und schier endlose Möglichkeiten bereitzuhalten schien – in der Zeitlichkeit der Seherfahrung mit einer scheinbar ebenso unbegrenzten Kombinatorik kinematografischer Modalitäten einherging.
Zuvörderst wird dies an der Gestaltung der Schauplätze greifbar, die, was vor allem in den ersten Staffeln fast überdeutlich wird, bestimmte Raumkonzepte mit einer entsprechenden Farbkodierung verbinden: So steht der in düsteren Erdfarben gehaltenen Freiheit und Weite des Nordens, Heimstatt des tragischen Heroismus, die klaustrophobisch-verwinkelte Intrigenenge von King’s Landing, beherrscht von Gelb-, Rot- und Ockertönen, entgegen. Ein vergleichbares Prinzip prägt GOT aber auch auf anderen Ebenen: Wer sich eben noch, vor allem in Szenen mit Tyrion, Varys oder Cersei, einer nuancierten Schauspielkunst erfreuen durfte, sieht sich plötzlich dem vergnügten Knallchargentum der Sand Vipers ausgesetzt. Ebenso verbinden sich in den verschiedenen Handlungssträngen klare affektpoetische Kalkulationen mit entsprechenden Inszenierungsprinzipien: Im (über manchen Fall hinweg) sich vollziehenden Aufstieg von Jon Snow ist ein episches Heldentum gestaltet, das im Kampf mit überkommenen Ideen von Sozietät die Herausbildung einer neuen Gemeinschaft ermöglicht und dabei verschiedene Räume in Besitz nimmt und verwandelt; scharf kontrastiert wird dies etwa mit der als grausames psychologisches Kammerspiel inszenierten Transformation von Theon Greyjoy zu Reek, aus der schließlich, einhergehend mit einer räumlichen Öffnung, eine neue Individualität entsteht. Sehr oft findet eine derartige Dynamik konfligierender Modalitäten ihren Austragungsort auf der Mikroebene einzelner Szenen. Bereits in der ersten Folge der ersten Staffel wechselt GOT innerhalb weniger Minuten von einer durchaus verstörenden Exploitation-Poetik (die Vergewaltigung von Daenarys durch Khal Drogo ereignet sich vor einer mit allen Ingredienzen des romantischen Naturschönen ausgestatteten Kulisse) zu Reminiszenzen an Sexklamotten der 1970er- und 1980er-Jahre (wenn Jamie Lannister seinem Bruder Tyrion gleich mehrere Prostituierte zuführt, damit dieser sich rechtzeitig zum abendlichen Festmahl einfinden kann) zur Evokation des melancholischen Pathos der verlorenen Zeit (das Gespräch zwischen König Robert und Eddard Stark in der Familiengruft von Winterfell).
Aus produktionsästhetischer Perspektive mag sich eine solche Kombinatorik aus der Notwendigkeit ergeben, ein überaus vielschichtiges Handlungsgefüge im Format etwa einstündiger Folgen erzählbar zu machen; ebenso mag es sein, dass die Serienmacher mitunter schlicht versuchten, die Not in eine Tugend zu verwandeln – wenn etwa der Trash-Faktor der Sand Vipers nicht kaschiert, sondern immer mehr ausinszeniert wird. Das ändert allerdings nichts daran, dass die Dynamik konfligierender audiovisueller Modalitäten, als welche sich die Auffaltung der Welt von GOT darstellt, für die Zuschauerinnen und Zuschauer eine bestimmte Zeitlichkeit der Seherfahrung ermöglicht. Zum einen ist es die Zeit, in der sich die Verheißung der Fantasy immer wieder erneuert: im audiovisuellen Westeros ist der Geschichten wahrlich kein Ende, und zwar vor allem darum nicht, weil die vielen großen und kleinen Geschichten sich mit den verschiedensten, kontrastierenden und mitunter auch widerstreitenden affektiven Adressierungen verbinden; was so weit geht, dass man über eine Szene müde lächeln mag – so wie über einen schlechten Scherz des Barden in der Schenke –, nur um im nächsten Moment gerührt, erschüttert, schockiert, mitgerissen zu sein; und dies eben auch als Effekt einer künstlerischen Begeisterung, die mit dem Ärger oder dem Amüsement über das wenige Szenen zuvor konstatierte schlechte Handwerk in ein ganz eigenes Spannungsverhältnis tritt. GOT erhebt dieses Changieren, diese Pluralität der Adressierungen, Modalitäten und in ihrer Gemachtheit ausgestellten Macharten zum Kompositionsprinzip, zur ästhetischen Signatur, zur audiovisuellen Interpretation der grundlegenden Idee des Genres Fantasy.
Für die letzte Staffel jedoch wird all das zum Problem, was zuvor den Genuss der Zuschauerinnen und Zuschauer immer wieder gesteigert hat – oder zumindest dafür sorgte, dass die Gefahr, sich mit GOT zu langweilen, soweit als möglich minimiert wurde. Zum einen betrifft dies die, offensichtlich unausweichliche, Verkehrung der affektpoetischen und dramaturgischen Richtung: Nicht mehr Öffnung und Erweiterung sind an der Tagesordnung; vielmehr ist eine Bewegung der Schließung und Verengung notwendig, um den Kampf um den Eisernen Thron ebenso wie die Handlungsstränge um die wichtigsten Haupt- und Nebenfiguren zu einem Ende zu führen. Und das betrifft eben nicht nur Handlung und Figuren, sondern auch die audiovisuellen Modalitäten. Deren Vielfalt sorgte zuvor dafür, dass GOT, bei aller Düsternis und Grausamkeit, doch auch etwas Verspieltes und ästhetisch Buntes beibehielt. Aber das Ende eines Fantasy-Epos verlangt eben nach einem hohen, strengen und sehr unironischen Pathos, wenn es sich nicht selbst desavouieren will. Schließlich geht es, kurz gesagt, um alles: das Schicksal der Welt, den Anbeginn eines neuen Zeitalters und, des Gebrochenen sämtlicher Wertigkeiten zum Trotz, immer auch um Gut und Böse.
Wer aber eine Pathetik realisieren will, welche die Wucht des historisch-politischen ebenso wie metaphysischen Ernstfalls entfaltet, muss alles auf eine Karte setzen. Bei GOT verbindet sich das künstlerische Risiko einer solchen Pathetik wiederum mit der Gestaltung einer Zeitlichkeit. Infrage steht, ob es der einsinnigen Zeitlichkeit jener finalen Schließung gelingt, der zuvor etablierten, modal pluralen Zeitlichkeit der Öffnung standzuhalten. Das zielt auf die Figuren, und es zielt auf etwas, das man die Dauer der Katastrophe nennen könnte.
Hier nun erweist es sich, dass die Schließungsbewegung, die notwendig mit dem Zu-Ende-Bringen einhergeht, den Genuss, der die Seherfahrung zuvor geprägt hat, in hohem Maße beschädigt. Gerade die Kombinatorik der verschiedenen audiovisuellen Modalitäten und affektiven Adressierungen erlaubte es den Zuschauerinnen und Zuschauern, die Figuren über die Dauer vieler Stunden (in der Seherfahrung) und manchen Jahres (im gelebten Leben) immer besser kennenzulernen, sie immer mehr als Vertraute wahrzunehmen, als Freunde oder Feinde, Objekte der Sehnsucht oder des Abscheus – denn man hat sie begleitet, durch all diese Situationen hindurch, das Komische, das Tragische, das Bittere, das Triumphale, das Abgeschmackte und das Großartige; durch dick und dünn sozusagen.
Für die letzte Staffel von GOT bedeutet dies, dass das Verhältnis nicht mehr stimmt, was die Zeitlichkeiten betrifft, insofern die Figurenentwicklungen durchgeführt werden, die die Schließungsbewegung zum Ende hin verlangt. Am krassesten ist dieser Widerspruch zweifellos bei Daenerys. Man muss keine besondere Zuneigung für die Figur der Drachenmutter hegen, um zu sehen: die Daenerys, die über sieben Staffeln und Dutzende Folgen hinweg aufgebaut wurde, kann nicht innerhalb einer Stunde komplett umgepolt werden. Der Umpolung nämlich fehlt die Erfahrungsschwere; das heißt, sie kommt nicht an gegen die Erfahrung der Zuschauer, verbleibt eine Behauptung, die aufgrund eines allzu durchsichtigen narrativen Kalküls aufgestellt werden muss. Noch die eindrücklichsten Bilder, die sich mit Daenerys’ Niedergang verbinden – etwa jenes des hilflosen und verzweifelten Tyrion, der die rauchenden Ruinen von King’s Landing abschreitet –, wirken irgendwie hohl, weil sie sich einer Seherfahrung, ja in gewisser Weise einer Lebenserfahrung aufoktroyieren, die Jahre des Mitfühlens und Mitdenkens in die Waagschale werfen kann. Das Problem der letzten Staffel ist so gesehen weniger eines von Handlung und Dénouement per se, als von zeitlichen Verhältnissen.
Beinah parodistisch wird dieses Missverhältnis, wenn es um das geht, was ich die Dauer der Katastrophe genannt habe. Der Krieg gegen den Night King und die Others konzentriert sich auf die THE LONG NIGHT (S08E03. US 2019, Regie: Michael Sapochnik) betitelte dritte Folge der achten Staffel. Diese Folge hat eine Laufzeit von über 80 Minuten, ist also in der Tat ziemlich lang für die Verhältnisse einer Fernsehserie. Dennoch wirkt sie geradezu lächerlich kurz, wenn man bedenkt, dass das Kommen des Winters – und aller Schrecken, die Kälte und Dunkelheit mit sich führen – über sieben Staffeln hinweg als die ultimative metaphysische Drohung aufgebaut worden ist. Selbst wenn die dramaturgischen und handlungslogischen Verrenkungen der entsprechenden Folge weniger peinlich ausgefallen wären, als es nun mal der Fall ist, müsste der Sieg über die Others in Anbetracht dieser erfahrungsästhetischen Schieflage antiklimaktisch, das Ende des Night King läppisch wirken.
Vor diesem Hintergrund scheint mir das Scheitern der letzten Staffel von GOT unvermeidlich. Natürlich stellt sich die Frage: Wie lange müsste die lange Nacht des Winters sein, und was müsste alles in ihr geschehen, damit sie die grausige Verheißung erfüllen kann, die sich über sieben Jahre hinweg mit ihr verbunden hat? Vielleicht würde das Finale von GOT weit überzeugender wirken, wenn Benioff und Weiss das Wagnis unternommen hätten – die ökonomische und produktionslogische Wahrscheinlichkeit dieser Lösung sei dahingestellt –, es auf zwei oder drei Staffeln auszudehnen.
Gegen eine Art der Zeiterfahrung hätten sie allerdings in keinem Fall ankommen können: Jene, die sich mit dem Zauber des Anfangs verbindet, und es als beglückendes Wunder erlebt, dass ein Sender wie HBO eine Serie wie GOT produziert; und dass es eine solche Serie tatsächlich auf mehr als eine Staffel bringt.
Autor
Daniel Illger studierte Filmwissenschaft, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft sowie Philosophie in Berlin und Münster. Von 2007 bis 2010 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich »Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste« der Freien Universität Berlin und von 2011 bis 2014 Projektkoordinator am Exzellenzcluster »Languages of Emotion«. Nach drei Jahren als freier Schriftsteller hat er von 2017 bis 2019 an der Kollegforschungsgruppe Cinepoetics – Poetologien audiovisueller Bilder gearbeitet; seit dem Wintersemester 2019/20 vertritt er eine W3-Professur am Seminar für Filmwissenschaft der FU Berlin. Er hat zu den Stadtinszenierungen des italienischen Nachkriegskinos promoviert und mit einer Studie zum Fantasy-Modus im Videospiel habilitiert; bei Klett-Cotta erschien die Skargat-Trilogie (Stuttgart 2015–2017).
GAME OF THRONES und transmediales Erzählen
Universität Augsburg, DE
Kritische Auseinandersetzungen mit Literaturverfilmungen, ob akademische Analysen oder vor allem Medienrezensionen, stellen nach wie vor die Frage nach der Treue zur Vorlage in den Mittelpunkt. Das Buch wird hierbei als ›Originaltext‹ eingestuft, dem es zu folgen gilt, und die allgemeine Annahme scheint zu sein, dass eine Verfilmung dessen nur dann gelungen ist, wenn sie diesem möglichst genau folgt. Auch GAME OF THRONES wurde immer wieder durch diese Linse betrachtet, und die TV-Serie für ihre getreue Umsetzung von George R. R. Martins Romanen gelobt – bis sie auf ein nahezu einzigartiges Problem stieß: Martins Werk war nicht vollendet, und doch sollte die Verfilmung nach acht Staffeln beim amerikanischen Privatsender HBO zum Abschluss kommen. Bereits zuvor hatte sich die Serie immer mehr inhaltliche Freiheiten genommen, doch das Finale, das im Mai 2019 ausgestrahlt wurde, war nun notgedrungen eine Eigenkreation der Drehbuchautor*innen, allen voran der Showrunner David Benioff und D. B. Weiss. Die gesamte achte und letzte Staffel wurde kontrovers diskutiert, sowohl von Journalist*innen, als auch in den sozialen Medien, und das Finale trat schlussendlich einen regelrechten Shitstorm los. Die Serie hatte stets ein internationales Millionenpublikum, das nun in großen Teilen verärgert über Benioff and Weiss’ narrative Entscheidungen war. Während solche Reaktionen nun kein Einzelfall sind, man denke nur an LOST oder HOW I MET YOUR MOTHER (US 2005–2014, Idee: Carter Bays und Craig Thomas), so ist doch bemerkenswert, welche Wellen dies schlug: sogar eine Online-Petition auf Change.org wurde ins Leben gerufen, die derzeit (Stand: 15. November 2019) knapp 1,8 Millionen Unterschriften sammeln konnte. »Remake GAME OF THRONES with competent writers« fordert deren Ersteller Dylan D. bereits im Titel und beklagt sich in der Beschreibung: »David Benioff and D. B. Weiss have proven themselves to be woefully incompetent writers when they have no source material (i. e. the books) to fall back on« (Change.org). Und hier liegt nun auch die Krux der Sache: zentral für das unzufriedenstellende Finale, das hier als Scheitern der Serie eingestuft wird, ist für diesen Teil des Fandoms einzig allein die Abwesenheit des Autors George R. R. Martin.
Ohne hier nun eine tiefergehende Diskussion über die Qualität der Serienautor*innen oder Martins Prosa führen zu wollen, muss doch gesagt werden, dass es mehr als bemerkenswert ist, wenn auch leider nicht einzigartig, dass im Jahre 2019 anscheinend nach wie vor der Genius eines einzelnen Autors als Gütesiegel verstanden wird. Was Game of Thrones aber dennoch zu einem Sonderfall macht, ist, dass diese Saga schließlich zwei Enden haben wird, die beide als kanonisch eingestuft werden können. Sobald Martin seine Romane zu einem ›offiziellen‹ Ende bringt, das, wie er bereits angedeutet hatte, wohl ein anderes sein wird als das ebenso ›offizielle‹ der Fernsehserie – und er wohl auch auf Grund der Umstände kaum eine andere Wahl haben wird –, gibt es nun zwei Antworten darauf, wer am Ende den Eisernen Thron in Westeros besteigt. Wie Zoe Shacklock anmerkt, macht allein diese Tatsache Game of Thrones schon zu einem Paradebeispiel transmedialer Erzählung nach Jenkins, da sie auf zwei verschiedenen Medienformen parallel läuft (vgl. 265) – und man damit nun eigentlich auch sowohl von den Romanen als auch (zumindest den späteren Staffeln) der Serie von einem »original« oder »parent« Text sprechen kann.
Genauer gesagt sind es auf Grund der Popularität der Serie nun seit geraumer Zeit schon weit mehr als zwei verschiedene Medienformen, mit deren Hilfe Game of Thrones erzählt wird. So erscheinen beispielsweise seit September 2011, und damit wohl nicht ganz zufällig seit dem Jahr, in dem auch die TV-Serie Premiere hatte, Graphic Novels, die sich zwar inhaltlich auch nah an die Romanvorlage halten, aber ebenso wie die Serie auf Grund des visuellen Mediums, einiges an Plot raffen und anders aufarbeiten müssen. Im Gegensatz zur Fernsehserie scheint die Fortsetzung der Reihe hier jedoch nun auf Martins nächsten Roman zu warten, und nicht ebenfalls ein eigenes Ende erzählen zu wollen – und doch schaffen die Autoren der Reihe (Texter Daniel Abrahams, Illustrator Tommy Patterson und Kolorist Ivan Nunes) ihre eigene Version von Westeros und sind damit ein weiteres Puzzlestück im großen Ganzen.
Noch Jahre bevor HBO die Saga zum weltweiten Phänomen machte, erschienen bei Fantasy Flight sowohl Brett- als auch Kartenspiele, die einen wiederum ganz anderen Zugang ermöglichen – im Falle des Brettspiels (in erster Edition 2003 erschienen) schlüpft man als Spieler*in beispielsweise in die Rolle eines der Häuser, die um den eisernen Thron kämpfen. Dabei transferiert das Spiel die Welt der Intrigen, die die treibende Kraft der Romanerzählung darstellt, und über Illustrationen auf Karten auch zentrale Charaktere (die damit einmal mehr im wahrsten Sinne des Wortes anders gezeichnet werden) auf relativ simple Weise. So ist es auch möglich, als Spieler aktiv am Worldbuilding teilzunehmen, denn Ziel des Spiels ist es natürlich, den Thron einzunehmen, und somit werden auch hier alternative narrative Varianten aufgezeigt.
Andere noch viel direkter immersive Medien haben sich auch dem Stoff angenommen. Im Bereich der digitalen Spiele erschien 2014 ein von Telltale Games entwickeltes episodisches GOT-Adventure, das inhaltlich direkt an das Finale der dritten Staffel der Serie anschloss und dann parallel zur vierten Staffel lief. Das Spiel konzentriert sich jedoch auf das Haus Forrester, das in der Serie nie eingeführt wurde, und trägt so auch weiter maßgeblich zum Worldbuilding bei. Interessant ist hier außerdem, dass sich das Spiel auch visuell direkt an der Serie orientiert, und dadurch, anders als bei Graphic Novel oder Brettspiel, direkt auch jene Fans abholen will, die eventuell nie die Bücher gelesen haben. Zudem werden die bekannten Charaktere von den Schauspieler*innen der TV-Serie gesprochen und tragen so zusätzlich zu einem authentischen, und damit immersiven Erlebnis bei (vgl. Bolter und Grusin 172).
Angesichts dieses immer größer werdenden Angebots ist es nicht verwunderlich, dass die Medienwissenschaftlerin Marie-Laure Ryan etwas zynisch angemerkt hat, dass transmediales Erzählen der Versuch ist, Fans dazu anzuhalten, möglichst viele Produkte zu konsumieren (vgl. 384). Ganz falsch ist die Aussage hier natürlich nicht – vor allem, wenn man die massiven Marketingkampagnen von HBO rund um die Serie bedenkt, sowie die immer größer werdende Menge an lizensierten Merchandise-Artikeln. Jedoch sollte man auch diese Erzeugnisse nicht einfach außen vor lassen, wenn man sich mit dem Phänomen Game of Thrones (oder anderen transmedialen Franchises) auseinandersetzt, und sie als reines Produkt unserer spätkapitalistischen Gesellschaft abtun: wie Jonathan Gray zurecht bemerkt hat, können auch diese als Paratexte verstanden werden, die eine nicht unbedeutende sozio-kulturelle Rolle spielen (vgl. 222).
Immersives Teilhaben an transmedialem Erzählen wie das von Game of Thrones wird immer wichtiger – Jenkins merkt richtig an, dass es sogar ganz zentral auf die aktive Beteiligung seines Publikums baut. Dies ist auch deutlich erkennbar an der Menge an nicht lizensierten, nicht kommerziellen Werken, die sich mit Westeros und seinen Bewohner*innen auseinandersetzt. Fanon, nicht Kanon, ist auch bei Game of Thrones ein wesentlicher Bestandteil des Erfolgs: auf der bekannten Fanfiction-Plattform Archive of our Own finden sich derzeit (Stand: 16. November 2019) über 37 000 Geschichten, Game-of-Thrones-Cosplay ist seit einigen Jahren fester Bestandteil von Conventions, und unzählige Memes kursieren im Internet. Während mancher sich also per Online-Petition seinem Unmut über das Serienfinale Luft macht, haben viele andere schon lange ihr eigenes Ende geschrieben – oder beschäftigen sich mit ganz anderen Aspekten dieses Universums.
Selbst wenn der Hype um die Serie in den Medien in den vergangenen Monaten zurückgegangen ist, wird es wohl doch trotz der umstrittenen letzten Serienstaffel keinen größeren Einbruch in der Popularität geben, da das Phänomen einfach schon lange größer ist als nur ein erzählerisches Medium. Fan-Tourismus zu den Drehorten erfreut sich beispielsweise seit einigen Jahren größter Beliebtheit – ob nach Nordirland, das als Schauplatz für die Iron Islands diente, oder nach Dubrovnik, Kroatien (Westeros’ Hauptstadt King’s Landing); die Tourismusindustrie profitiert nach wie vor von Game of Thrones (vgl. Goldstein). Es bleibt wohl auch nur eine Frage der Zeit, bis sich auch andere immersive Medien bzw. Touristenziele wie Themenparks dem Phänomen annehmen oder weitere Serien oder Filme produziert werden. Ein ursprünglich geplantes Prequel wurde zwar gerade erst auf Eis gelegt (vgl. McCluskey), aber in Zeiten, in denen nach weniger als 20 Jahren bereits eine Neuverfilmung von LORD OF THE RINGS (NZ/US 2001–2003, Regie: Peter Jackson) in Arbeit ist, wäre es doch mehr als verwunderlich, wenn nicht auch bald mehr GOT über unsere Bildschirme flimmern würde. Und wenn es dann doch das Remake ist, auf das die Verfechter von Martins Romanen pochen – sollte er sie zu Lebzeiten noch zu Ende schreiben.
Autorin
Dr. Sabrina Mittermeier (Universität Augsburg) hat an der LMU München in amerikanischer Kulturgeschichte promoviert. Ihre Monographie A Cultural History of the Disneyland Theme Parks – Middle-Class Kingdoms erscheint im Oktober 2020 bei Intellect und University of Chicago Press. Sie ist außerdem Mitherausgeberin von Fighting for the Future – Essays on Star Trek: Discovery (Liverpool University Press 2020) und des Routledge Handbook to Star Trek (2021) sowie mehrerer anderer Artikel zu Themenparks, Film und Fernsehen der amerikanischen, aber auch deutschen oder britischen Populärkultur. Außerdem ist sie Vorsitzende der German Popular Culture Studies Association (GPCA).
Wie Butter, auf zu viel Brot verstrichen
Ludwig-Maximilians-Universität München, DE
Unter dem Titel-Zitat »Ihre Güte hat mich verwöhnt« erschien 2009, herausgegeben von Christiana Engelmann, eine Edition der Bitt- und Bettelbriefe Friedrich Schillers. Der große Dichter, der bekanntlich in der Schaubühne eine moralische Anstalt zu sehen geruhte, war sich nicht zu schade, in solch schön gesetzten Worten um ein »Sopha« und andere ihm (in der Tat: äußerst) dringend nötige Hausratsgegenstände zu bitten. Da Vincis L’Ultima Cena war eine Auftragsarbeit für Ludovico Sforza – Dedikationen künstlerischer Werke an Personen von Rang und Namen waren seit der Antike stets ein beliebtes Mittel von Autoren, sich Protektion und – im landläufigen wie im literalen Sinne – Honorar zu verschaffen. Einem Förderer von Kunst gelang es gar, sich in allen Förderern von Kunst fortan namentlich zu spiegeln: Gaius Maecenas hat sich als Mäzen in den Sprachschatz eingeschrieben. Die vielzitierten Anfangsverse des frühen Schatzes deutscher Sprach- und Literaturwissenschaft erfüllen geradezu vorbildlich das, was von einem jeden Klappentext verlangt wird: Alte Geschichten und unerhörte Ereignisse, mutige Helden und ihre Taten, ausgelassene Fröhlichkeit auf Festen ebenso wie Weinen und Klagen – die Kämpfe kühner Recken um wunderschöne Frauen, und viele Todesfälle dürfen auch nicht fehlen: So kündet das Nibelungenlied in den ersten beiden Strophen (zumindest nach Handschrift C) mit Sex and Crime, Action and Suspense an, was den Leser erwartet – oder eben ursprünglich wohl mehr den Hörer, den der Vortragende schon in den ersten Worten zu fesseln hatte, wenn er seine Kunst erfolgreich zu Markte tragen und einen angemessenen Obolus für seinen Vortrag erlangen wollte. Eine völlig unrepräsentative und en passant durchgeführte vergleichende Studie aktueller Fantasy-Klappentexte durch den Verfasser dieser Zeilen ergab, dass sich inhaltlich seit dem Nibelungenlied an den Anforderungen der Buchwerbung wenig geändert hat. Kunst hat sich immer verkauft – auch wenn hier das Renaissancemäzenatentum und die Marketingstrategien heutiger Verleger sicher zu Unrecht in einen Topf geworfen werden –, und die Forderung nach ›reiner Kunst‹, die sich den Niederungen des Kommerzes unter keinen Umständen hinzugeben habe, ist nicht nur historisch gesehen absurd, sondern erinnert ein wenig an die Empörung des reichen Touristen auf der Suche nach dem Urtümlichen, dem der Einheimische das Verharren in ästhetischer pittoresker Armut verweigert und stattdessen auch, zu Ungunsten des gesuchten ›Originalen‹, seinen Honig aus dem touristischen Interesse saugt.
Ein Essay wie dieser lässt schon von der Form her große Freiheiten, die der wissenschaftliche Aufsatz nicht gewährt – seien wir daher frei und reisen auch wir als Urlauber umher! Unter den Touristen gibt es jedoch mancherlei Unterarten – verhalten wir uns hier also standesgemäß als Kulturreisende gehobenen Anspruchs, wenn wir auf die Reise nach Westeros aufbrechen, klemmen uns den doppelsinnig vielseitigen Baedeker unter den Arm, wappnen unsere Bauchtaschen als Literatur-, Film-, Spiel-, Sozial- und Kulturwissenschaftler mit Wissen, Methoden und Perspektiven und ziehen von dannen. Bestaunen wir zunächst das gewaltige, wenn auch noch unvollendete Schriftwerk George R. R. Martins, das auf weiter Flur vor uns liegt: Hier diese prachtvollen Ruinen, deren Reliefs von profunder Kenntnis nordischer Mythologie zeugen. Doch jene Säule scheint den alten Griechen, diese Sphinx den Ägyptern, dort das Basrelief dem längst vergangenen Uruk entlehnt zu sein, und far over yonder hat das Keltentum sich eingeschnitzt. Mächtige Ströme, fließend aus den Shakespear’schen Bergen am Horizont, tragen dramatisch fruchtbaren Schlamm an die mittelalterlichen Ufer und befruchten die feudalen Dynastien. Historisch rankend, wachsen rote und weiße Rosen daraus hervor und bedecken anmutig die königlichen Lande, zumindest solange sie kein märchenhaftes Drachenfeuer niederbrennt, kein dem Horror entlehnter halbskelettierter Zombiefuß sie niedertritt. Doch wohlgefügt erscheint uns – zumindest den meisten –, was wir sehen: Das eklektische Füllhorn ist mit Bedacht und von Meisterhand gestaltet worden, mit künstlerischem Anspruch und ästhetischem Gewinn fügen sich die Teile zueinander, und die stilistischen Ergänzungen aus des Meisters Hand – wie steht’s im Baedeker: »Fokalisierung über multiple Figurenperspektiven vermählt narrativ das Zitat des alten Epos mit der individualisierten Perspektivierung der Postmoderne«, oder doch so ähnlich. Themenkreise wie Macht, Religion, Mythos wollen durchdrungen werden, um das kulturelle Artefakt zu verstehen – sicher, die Bildungsreisegruppe der Feuilletonfreunde da hinter uns ahnt auch dunkel etwas davon, das stand ja auch schon in der Zeitung, aber mit dem profunden Wissensschatz eines vorbereitenden Studiums kann deren sichtlich bemühter Reiseleiter nun doch nicht mithalten. Aber sie mühen sich, wir wollen das loben. Es ist doch schön, wenn die Kunst nicht nur rein, sondern auch dem Auge der Masse, der gehobenen, zugänglich sei, so wie George R. R. Martin das großartig beherrscht – nein, ein elitärer Kunstbegriff ist unsere Sache nicht, den Begriff des Trivialen lehnen wir ab, das schreibt ja auch der Baedeker so, zumindest seit den letzten Jahrzehnten. In einem großherzigen Akt wollen wir den Willen für das Werk gelten lassen und auch jene Kunstbeobachter uns Kunstverstehern angeglichen wissen (zumindest bis zum Rückflug).
Richten wir also gemeinsam den mehr (oder minder) geschulten Blick auf die dornische Wüste, über deren sengend heißem Sand sich nun Luftspiegelungen des großen Werkes flimmernd darbieten: Und sehet, die Buchstaben formen sich zu laufenden Bildern, GOT setzt das Sujet als Fernsehserie um. Wieder sind es die meisten von uns, denen im Großen und Ganzen zusagt, was sie da sehen: Ein Kunstwerk eigenen Ranges, anders als das Buch – und das ist gut so. Scheu fragt der eine oder andere aus der Feuilleton-Gruppe, ob denn nicht das Original …? Nein, so erklären wir – nicht scharf abkanzelnd, nur ganz milde dozierend –, nein, es handle sich hier nicht um Verfälschung, Verwässerung und Klitterung, sondern um Inter- und Transmedialität. Das stehe übrigens auch so im Baedeker. Kunst darf, kann und muss das! Größtenteils überzeugt – das stand ja auch schon so ähnlich in der Zeitung – folgt uns die Feuilleton-Gruppe, zumal wir die Argumentation ja auch noch auf den Heckenritter-Band sowie das gewaltige fiktive Geschichtsbuch The World of Ice and Fire stützen können. Neue Luftspiegelungen werden in unser freundlich-belehrendes Geplauder integriert: Auch Computerspiele, die sich an der transmedialen GOT-Welt anlehnen, fallen unter diesen Kunstbegriff – und das ganz zurecht. Wo kämen wir da hin, wenn die Transmedialität nur einige Medien als Kunst gelten ließe, andere hingegen nicht? Im Lichte dieses festen Wissens, den Kunstledereinband des Baedekers sanft streichelnd, schreiten wir auf unserem Weg dahin, mit etwas schnellerem Schritt vorbei an GAME OF THRONES – Das Kochbuch und GAME OF THRONES – das Ausmalbuch für Erwachsene, und die Frage aus den hinteren Reihen der Feuilleton-Gruppe, ob denn der Kunstbegriff auch die Kaffeetasse …? – vielleicht wurden ihre sanften Schallwellen von den Winden des Winters verweht, jedenfalls haben wir sie nicht gehört. Und die fröhlich-meckernde Stimme eines grün kostümierten Mel Brooks, die uns ein triumphierendes »Merchandising!« aus den 1990er-Jahren ins Ohr rufen will, auch die haben wir nicht gehört.
Ach, sieh da – eine dritte Gruppe von Touristen ist eingetroffen: Eventtouristen. Kaffeetassen und Kühlschrankmagneten, Schwerter und Umhänge, T-Shirts der Great Houses und Buttons von Conventions kennzeichnen sie als Fans. Fanatiker. Ohne Baedeker, ohne Feuilleton, ohne Reiseleiter, ohne Plan und doch mit freudigem Gejohle, bereit, sich in alle Teile dieser Transmedialität zu stürzen, in dieser Welt aufzugehen. Und auch ihnen wird etwas geboten: Neonbunte Spruchbänder, Ansagen vom Megaphon stimmen die Schlachtenbummler seit Jahren ein: »Emilia Clarke beim Friseur … der GOT-Kaffeetassenuntersetzer, exklusiv bei … George R. R. Martin verschiebt erneut … Kit Harrington in Irland gesichtet … die zehn größten GOT-Irrtümer … 30% mehr CGI in Staffel … wann kommt der Cleganebowl … reist zu den Drehorten von … Rose Leslie exklusiv im Interview … das GOT-Kaffeetassenuntersetzerunterlegdeckchen limitiert auf …«. Endlich werden die Schranken geöffnet, die Fans stürmen das Panorama – und da gefällt vielen nicht mehr, was sie sehen! Der nach außen am weitesten sichtbare Teil der transmedialen Welt, die vielfach preisgekrönte Serie GOT, erfüllt die Erwartungen nicht. Ein gewisser Dylan D. fordert – und fast schon zwei Millionen folgen ihm nach – ein anderes Ende! Die Drehbuchautoren seien inkompetent, ohne Buchvorlage sei es ihnen nicht möglich, ein gutes Ende zu finden. Was will der freche Kerl? Sangria in 5-Liter-Eimern? Da wendet sich der Gast mit Grausen – Wissenschaftler wie auch Bildungsbürger fliehen vor so viel pöbelhaftem Unverstand, der einen veralteten Kunstbegriff um den Geniekult des Autors pflegt, und streben schnell nach Hause.
…
Links das Regal der in der realen Welt wieder auf zahlreiche Einzelwerke verteilten Bücher, die zusammen soeben noch fiktiv der Baedeker waren, rechts die Kaffeetasse mit dem Aufdruck »Hodor Hodor! (Hodor)«: Zurück am Schreibtisch, zurück aus dem Urlaub. Was gibt es noch zu sagen?
– Natürlich kann man heute nicht mehr den »Geniekult« des einen, einzigen Autors pflegen. Das ist auch kein Dünkel, das ist ganz einfach der Stand der Wissenschaft.
– Natürlich kann auch eine Kaffeetasse, ganz frei von Ironie, Kunst sein, ebenso wie Suppendosen und Fettecken. Natürlich sind Spiele und Filme nicht sklavisch gebunden an ein Original – und das Recht, hier als Kunst frei wirken zu dürfen, ohne sich einem Diktat (und sei es ›nur‹ das der öffentlichen Meinung) unterwerfen zu müssen, muss verteidigt werden, auch und gerade von der Wissenschaft.
– Ebenso natürlich muss es aber erlaubt sein, ein schlechtes – ästhetisch und handwerklich ungenügendes, ethisch fragwürdiges oder banales – Kunstwerk als solches zu benennen. Das können Wissenschaftler wie auch Laien tun. Die Petition des Dylan D. ist hier nicht sonderlich ausführlich, aber die Frage darf gestellt werden, ob eine von vielen Fans empfundene Unzulänglichkeit nicht auch etwas damit zu tun haben könnte, dass eine Vorlage fehlt, die – nicht weil sie originaler, nicht weil sie geschriebenes Wort, sondern einfach, weil sie bessere Kunst ist – die vorherigen Staffeln als Kunstwerk gehoben hat. Natürlich mögen hier auch andere nicht-künstlerische Faktoren wie die ökonomische Beschränkung auf eine bestimmte Anzahl Filmminuten eine Rolle spielen.
– Soweit, so banal – das eigentliche (historisch auch keineswegs beispiellose) Skandalon liegt ja nicht in der Existenz von knapper oder ausführlicher, begründeter oder unbegründeter Kritik, sondern in der Forderung, das Kunstwerk zu korrigieren.
– A Song of Ice and Fire ist Kunst, GOT ebenso – und Kunst darf diese Forderung als ungeheuerliche Zumutung ablehnen. Dass diese Forderung erhoben wird, kann aber nicht verwundern. Kunst hat sich schon immer verkauft, ja – doch selten wurde sie so konsequent vermarktet und dem Fan als Produkt, als Event, als Lebensinhalt verkauft und auf ihn zugeschnitten. Der Kunde, der ein schadhaftes Produkt reklamiert und – schön juristisch: – Wandel verlangt, hat dieses Recht. Kunst wurde gemacht – wurde auch Kunst verkauft, oder aber eine Ware? Der Verfasser dieser Zeilen möchte nicht der Richter sein, der das zu entscheiden hätte. Er ist aber, zwischen Baedeker und Kaffeetasse, der Meinung, dass Kunst da war – nur eben, wie ein Hobbit einst am Ende seiner Kraft sagte, »like butter scraped over too much bread«. Über Dylan D. und seine Follower zu spotten (was die Feuilletons ebenso wie die Fachartikel der Wissenschaft, wenn auch nicht unisono, getan haben), ist wie die Kunst wohlfeil – doch teuer sind des Kaisers neue Kleider.
Autor
Michael Baumann M.A. promoviert in Neuerer Deutscher Literatur an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Im Bereich der Fantastik beschäftigt er sich vor allem mit ideologischen Dimensionen der Fantasy und ist Mitherausgeber des Sammelbandes Die Welt von GAME OF THRONES. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf George R.R. Martins »A Song of Ice and Fire«, Transcript Verlag, Bielefeld 2016.
»Cocks are important, I’m afraid« Geschlechterpolitische (Fehl)Entscheidungen im Game-of-Thrones-Universum
Goethe-Universität Frankfurt, DE
Ob sie gewillt sei, in den Krieg zu ziehen, fragt Daenerys »Stormborn« Targaryen, Khaleesi der Dothraki, Mutter der Drachen und rechtmäßige Königin von Westeros die junge Dienerin Missandei, die sie an der Sklavenkünste von Essos mitsamt einer riesigen Armee von Sklavensoldaten erwirbt und nach Westeros führen will, um den Eisernen Thron zu erobern. Auf dem Weg, so Daenerys weiter, könnte Missandei hungern, erkranken, gar getötet werden. »Valar Morghulis«, erwidert Missandei, ein valyrisches Sprichwort, das so viel bedeutet wie: »Alle Menschen müssen sterben.« Daenerys kontert: »Yes, all men must die. But we are not men« (S03E03: WALK OF PUNISHMENT. US 2013, Regie: David Benioff).
Das Wortspiel, das den unmarkierten ›Normalfall‹ – Mensch = Mann – für einmal zugunsten des markierten ›Spezialfalls‹ – Frau = das Andere – auslegt, fasst die Parameter der Geschlechterpolitik im transmedialen Universum von Game of Thrones recht akkurat zusammen. Zwar gehören Frauen sowohl in George R. R. Martins Roman-Serie A Song of Ice and Fire als auch in der HBO-Adaption zu den gefährdetsten, zu den am intensivsten unter den Machtspielen der herrschenden Elite leidenden und in Alltag wie Krieg am brutalsten ausgebeuteten Subjekten. Oft wird ihnen der Subjektstatus per se verwehrt, werden sie als Spielball und Spielzeug der Lords und Könige, als Tauschware in ihren Geschäften gehandelt. Auf diskursiver Ebene dagegen werden die vielen Frauenfiguren des GOT-Universums nicht nur als vielschichtige, sondern auch als ehrgeizige, aktive und handlungsmächtige Subjekte inszeniert; als Individuen, die sich aus ihrer Position als ›Underdogs‹ einer ultrapatriarchalen Gesellschaft zu machtvollen Agentinnen des Wandels entwickeln. Der einzige Konsens, den die mittlerweile beachtliche Forschungsliteratur zur Verhandlung von Weiblichkeit und Geschlecht in GOT erzielt hat, lautet denn auch, dass die Repräsentation unterschiedlichster, komplexer Frauenfiguren eine, wenn nicht die zentrale Innovation der Serie dar-stelle und ihren größten Reiz ausmache.
Darüber hinaus aber ist – nicht nur – die Geschlechterforschung gespalten in der Frage, wie es um den subversiven bzw. feministischen Gehalt der Serie bestellt sei. »Are they [die weiblichen Figuren, MK] feminist characters, or a perversion of feminism?«, fassen Rikke Schubart und Anne Gjelsvik in der Einleitung ihrer Anthologie Women of Ice and Fire die Fragen und Statements von Rezipient*innen, feministischen Blogger*innen und Wissenschaftler*innen zusammen.
Is this postfeminist entertainment for a neoliberal age? Is it a backlash dressed up in prefeminist medieval clothes […]? Or is Martin a feminist, as he claims, and these women, then, the role models in a complex and conflicted contemporary world that has abandoned utopian illusions and in which fantasy is transformed from light to dark and from the ethically simple to conflicted? (2)
Bereits das zweifelhafte Kompliment in der GOT-Parodie des parodistischen YouTube-Channels The Key of Awesome, nämlich: »This show is Lord of the Rings, but with Titties Galore«, verweist darauf, dass Sichtbarkeit gerade aus feministischer Perspektive stets eine ambivalente Größe ist. Auf der einen Seite hat die häufige, oft als objektivierend und narrativ unmotiviert wahrgenommene Darstellung entblößter Frauenkörper in der Serie nicht zu Unrecht den Begriff der »sexposition« (McNutt) geprägt; auf der anderen Seite sind sich Fans wie Kritiker*innen einig, dass GoT nicht nur mit dem bis heute wohl eindrücklichsten weiblichen Figurenarsenal erfolgreicher Fantasy-Medienverbundssysteme aufwartet (die LORD OF-THE-RINGS-Blockbuster der 2000er-Jahre hatten gerade mal drei weibliche Nebenfiguren zu bieten), sondern auch mit einer Kritik an Sexismus und sexualisierter Gewalt, die man in der kommerziell erfolgreichen Fantasy so scharf artikuliert nur selten findet. Dabei wandelt insbesondere die TV-Serie auf einem schmalen Grat. Wo zum Beispiel verläuft die Grenze zwischen einer kritischen Thematisierung sexueller Gewalt auf dem Bildschirm und ihrer Ästhetisierung zum Zweck voyeuristischer Unterhaltung? Oder die Grenze zwischen einer ermächtigenden Repräsentation weiblichen Begehrens und einer objektivierenden Darstellung des Frauenkörpers, die sich nach wie vor am ›männlichen Blick‹ orientiert? Sind ›starke‹ Frauen wie Daenerys Targaryen und Cersei Lannister, die wesentlich von ihrem ›erotischen Kapital‹ Gebrauch machen, als feministische Ikonen zu bezeichnen, weil sie ›Agency‹ unter widrigsten Bedingungen beweisen und sich nicht zum ›Opfer‹ machen lassen – oder handelt es sich um Symbole einer postfeministisch-neoliberalen Meritokratie, die individualisierte Erfolgsgeschichten durchsetzungsstarker Einzelkämpfer*innen zelebriert zugunsten von kollektiver Sozialkritik?
Gerade diese Ambivalenz nicht nur in der Darstellung von Weiblichkeit, sondern auch in der Verhandlung verschiedener Geschlechterdiskurse und (post-)feministischer Positionen lässt sich aber auch als Stärke der Serie lesen. Sie erlaubt unterschiedliche, auch widersprüchliche Lesarten und Identifikationen; sie macht das GOT-Universum zu einem Forum kultureller Selbstverständigung, einem Ort, an dem Bedeutung laufend erstritten und verhandelt werden muss. »Rather than futilely debating their relative feminist worth, […] we need to concern ourselves with how these texts make such debates possible« (13), schreibt Jacinda Read im Rahmen ihrer Analyse filmischer Rape-Revenge-Fantasien. In genau diesem Sinne konstruiert auch das GOT-Universum nicht nur eine Vielzahl an Bildern weiblicher Identität – es bietet auch eine exzellente Bühne für die unterschiedlichsten Positionen eines vielgestaltigen und oft widersprüchlichen gegenwärtigen Geschlechterdiskurses.
Bis, tja, zum Finale. In den letzten Episoden ist Schluss mit der schillernden Mehrdeutigkeit einer Saga, die, was ihre Figuren betrifft, dem Erzählen von Biographien im Rahmen kultureller Verhältnisse stets den Vorrang vor einfachen Erklärungen gegeben hatte. Daenerys dreht durch und legt mit ihrem letzten Drachen ganz King’s Landing in Schutt und Asche – notabene nachdem die Stadt kapituliert hatte. Sie tritt damit in die Fußstapfen ihres vom Wahnsinn gezeichneten Vaters, der von »Fire and Blood« geträumt und dessen Paranoia zu Folter, Krieg und schließlich zur Ermordung und Vertreibung der Targaryens geführt hatte. Das größte Problem dieser Wendung liegt vielleicht gar nicht darin, dass sie überstürzt erscheint und narrativ wie psychologisch nicht ausreichend nachvollziehbar gemacht wurde. Irritierend erscheint vor allem der Entscheid, eine komplexe Figur radikal zu essentialisieren. Wie fast alle weiblichen Figuren der Serie stand Daenerys für die Idee, dass Identität sozial geprägt, aber nicht determiniert, dass sie fluide und wandelbar sei. Die Entwicklung eines zu politischen Zwecken verkauften, versklavten und vergewaltigten Mädchens zur Tyrannin ließe sich angesichts von Daenerys’ Leidens- wie Erfolgsgeschichte durchaus glaubwürdig erzählen; Ansätze dazu finden sich in Buch- und Fernsehserie. Umso irritierender ist es, das Massaker kurzerhand als Ergebnis einer genetischen Veranlagung zu erklären. Und es zum Anlass zu nehmen, die weibliche Hauptfigur der Serie recht fix und unspektakulär vom moralisch standfesten John Snow ermorden zu lassen. Der wiederum erscheint in all seiner Tragik als Ebenbild und Erbe seines über alle Zweifel erhabenen Onkels und Ziehvaters Lord Eddard Stark, der Gewalt verabscheut, sie aber einsetzt, um Gerechtigkeit zu erwirken. Sein Sohn Bran wird als neuer Herrscher Westeros in eine bessere Zukunft führen.
Die Essentialisierung der Figuren in der finalen Schlacht erlaubt es also nicht nur, eine besonders ambitionierte Frau vom Thron zu stoßen, noch ehe sie ihn bestiegen hat – sie legitimiert auch die Restauration einer konservativen Geschlechterordnung. Dass Macht korrumpiert, demonstriert die Serie immer wieder (am Schluss recht platt, wenn Drache Drogon den Eisernen Thron vernichtet, anstatt Daenerys’ Mörder zu töten). Besonders anfällig für ihre Versuchungen sind in GOT aber die Frauen. Wir erinnern uns: Am Ende der sechsten Staffel sind alle zentralen Machtpositionen in weiblicher Hand. Queen Cersei sitzt nach dem (von ihr verschuldeten) Suizid ihres Sohnes als erste Frau auf dem Eisernen Thron; Yara/Asha befehligt die Eiserne Flotte und verbündet sich mit der Drachenkönigin Daenerys, die in Westeros angelangt ist; Sansa Stark regiert als Lady von Winterfell den Norden; Arya beseitigt als rächende Killerin die letzten Patriarchen. Sie alle werden als Figuren aufgebaut, die Grund haben, an der patriarchalen Ordnung zu verzweifeln, die ihnen das Recht auf Selbstbestimmung und Partizipation verwehrt; sie alle werden als Frauen gezeigt, welche die Männer zu Recht auf ihrem angestammten Terrain herausfordern und ihnen ihr ›Geburtsrecht‹ streitig machen – und sie alle werden auf die eine oder andere Weise zum Schweigen gebracht. Cersei und Daenerys, die wie so viele Tyranninnen gegenwärtiger Fantasy-, Märchen- und Science-Fiction-Filme als Spiegel und Schreckgespenst einer patriarchalen Gesellschaft in Erscheinung treten und dämonisiert werden müssen, damit sie beseitigt werden können, sind tot. Arya, Yara und Brienne, drei besonders autonome, in ihrer geschlechtlichen Codierung ambivalente Frauen, sitzen während der Wahl des neuen Königs stumm im Hintergrund, während die Männer ihre Voten abgeben. Sansa deklariert zwar ihre Unabhängigkeit und darf – auf das gütige Nicken ihres zum König gewählten Bruders hin – als erste Königin des Nordens den Thron besteigen. Aus dem politischen Einflussraum der sechs Königreiche aber werden alle wichtigen Frauenfiguren auf effektive Weise entfernt. Einzig Brienne bleibt als Quotenfrau dem Kleinen Rat des Königs erhalten. Die letzte Sequenz zeigt sie beim Vervollständigen von Jaime Lannisters Eintrag im Buch der Brüder, wo sie ihn posthum als Kapitän der Königsgarde würdigt.
Noch kurz vor Daenerys’ Amoklauf streiten sich Tyrion und Varys, ob sich John Snow – alias Aegon Targaryen – nicht besser als König eignen würde als die unberechenbare Daenerys. Während sich Tyrion für Daenerys ausspricht, macht sich Varys für John Snow stark (S08E04: THE LAST OF THE STARKS. US 2019, Regie: David Nutter). »He’s temperate. And measured«, begründet er. »He’s a man, which makes him more appealing to the lords of Westeros, whose support we are going to need.« »Joffrey was a man«, protestiert Tyrion. »I don’t think a cock is a true qualification, as I’m sure you’d agree.« »And he’s the heir to the throne, yes, because he’s a man«, fährt Varys unbeirrt fort und bilanziert: »Cocks are important, I’m afraid.« Sollte es sich bei diesem Gespräch um eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit den Genretraditionen, vor allem aber mit den Bedürfnissen und Rezeptionsgewohnheiten eines Publikums handeln, auf dessen Support ein populärkulturelles Phänomen wie das GOT-Universum angewiesen ist, dann bleibt zu fragen, ob das Publikum hier nicht unterschätzt wurde. Ob es die Desartikulation aller (post)feministischen Lesarten zugunsten einer traditionellen Interpretation und Repräsentation von Geschlecht und Macht tatsächlich zu schätzen weiß. Die überwiegend negative Rezeption der letzten Staffel spricht dagegen. Schwänze mögen weiterhin wichtig sein. Eine Erfolgsgarantie oder gar ein Qualitätskriterium sind sie aber nicht mehr. Dieser Winter ist vorbei.
Autorin
Manuela Kalbermatten ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Jugendbuchforschung an der Goethe-Universität Frankfurt und schreibt in verschiedenen Fachzeitschriften über Kinder- und Jugendliteratur. Sie ist Autorin der Monographien «Von nun an werden wir mitspielen» – Abenteurerinnen in der phantastischen Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart und «The Match that Lights the Fire» – Gesellschaft und Geschlecht in Future Fiction für Jugendliche.
Unsere Anderen: Der Tödliche Norden in GAME OF THRONES
NYU Berlin, DE
Im Hohen Norden von Westeros lebt oder besser: (ver)west der Schrecken. Der Night King, seine White Walker und die in ihrem Gefolge marschierenden Wights gehören nicht nur zu den furchteinflößendsten Wesen, sondern stellen auch die existenziellste Bedrohung in GOT dar: Sie wollen die Menschheit eliminieren, sie gilt es zu besiegen. Doch wer oder was sind sie genau, und was repräsentieren sie?
In den zahllosen Besprechungen der Serie wurden sie als Untote, Zombies, Eiskreaturen, Wiedergänger und Eiszombies bezeichnet. Tatsächlich handelt es sich mit Nachtkönig, Weißen Wanderern und Untoten aber um unterschiedliche Figuren mit je eigenen Genealogien und Bildtraditionen. Zudem gibt es Differenzen zwischen der literarischen Vorlage A Song of Ice and Fire und der Serie, die zudem die Buchvorlage von George R. R. Martin ›überholte‹. Vielleicht liegen hier die Gründe für das leicht unstimmige Bild, dass der Tödliche Norden imaginationslogisch bietet?
Wer also sind diese Figuren, was wissen wir über sie am Ende der Serie und vor dem Ende des Romanzyklus? In Martins Texten gibt es den Night King, so auch in der Serie. Die White Walker werden hingegen im Zyklus auch als the Others, die Anderen, tituliert: Diese Benennung wurde nicht übernommen, da man in Dialogen nicht unterscheiden kann, wer gemeint ist: »Sind die Anderen/die anderen schon da?« Diese Anderen führen die in den Büchern aus Wights bestehende Untotenarmee an. In der Serie wird zumeist von den dead, den Toten gesprochen, die auferstanden seien. In den Besprechungen der Serie wurden diese nicht selten als Zombies bezeichnet.
Zwar bedrohen all diese Kreaturen die Lebenden, doch sind sie deshalb schon Tote oder Untote, gar Zombies? Die White Walker versteht Martin als andere Spezies, wie er dem Zeichner Tommy Patterson anlässlich einer Comicadaption erklärte: »Er beschrieb sie als seltsame, schöne Síde-ähnliche Kreaturen aus Eis, die unmenschlich, elegant und gefährlich wären. Martin bestätigte hierbei ebenfalls, dass die Weißen Wanderer keinesfalls ›Tote‹ seien, sondern einfach eine menschenfremde Lebensform« (Game of Thrones Wiki).
Das erste Buch des Zyklus – A Game of Thrones (1996) – beginnt mit einem Rencontre zwischen Menschen und White Walker. Jenseits der Mauer treffen Brüder der Nachtwache auf einige White Walker, es kommt zum Kampf, bei dem Will etwas hört: »The Other said something in a language that Will did not know; his voice was like the cracking of ice on a winter lake, and the words were mocking« (Martin 9). Darauf aufbauend entwickelte David J. Peterson für die Serie Skroth als Sprache der Anderen, sie kam allerdings nicht zum Einsatz. Der Tonmeister nahm das echte Knistern von Eis.
Insbesondere als sprechende Wesen ähneln die White Walker den Menschen. Dies gilt auch für den Nachtkönig, der ja in seinem, sagen wir: Vorleben, tatsächlich ein Mensch war. In der Serie gibt es eine Rückschau zu seiner Genese. Sie vollzog sich nach der Einwanderung der Ersten Menschen, die die Kinder des Waldes verfolgten und töteten. Bran sieht in einer Vision, wie Blatt einem gefangenen Ersten Menschen einen Dolch aus Obsidian in das Herz schiebt: »It was you. You made the White Walkers« (S06E05: THE DOOR. US 2016, Regie: Jack Bender). Der Erste Andere – entstanden in einem magischen Notwehrakt.
In Martins Begleitwerk Die Welt von Eis und Feuer wird die Vorgeschichte detaillierter und anders beschrieben. Von einem Nachtkönig ist hier keine Rede. Stattdessen schlossen die Kinder des Waldes und die Menschen erschöpft Frieden und lebten fortan in getrennten Regionen. In der Langen Nacht fielen dann die Weißen Wanderer in Westeros ein. Dieses Ereignis gehört zu den Schauergeschichten, die in der Serie Kindern erzählt werden: »Sie fegten durch Städte und Königreiche, ritten auf ihren toten Pferden, jagten mit ihren Meuten von fahlen Spinnen groß wie Jagdhunde« (S01E03: LORD SNOW. US 2011, Regie: Brian Kirk), so die Alte Nan, Brans Kinderfrau.
In der Serie ist der Nachtkönig der erste White Walker. Aber die ganze Untoten-Armada jenseits der Mauer scheint unstimmig, nicht nur, weil sich der propere, haarstilistisch leicht punkige Nachtkönig und die mumienhaften White Walker mit ihrem spät-hippieesken Haar-Look sich schon optisch sehr unterscheiden. Tatsächlich kommt der Nachtkönig in den Büchern gar nicht bzw. nur als Legende vor: Er sei ein Lord Kommandant der Nachtwache gewesen, der sich in eine bleiche Frau mit blau leuchtenden Augen verliebte und seine Seele verlor. Nachdem sie 13 Jahre als König und Königin geherrscht und Untaten begangen hatten, wurden sie schließlich von Brandon dem Zertrümmerer, König des Nordens, und Joramun, König-jenseits-der-Mauer, besiegt. Offenbar hatte der Nachtkönig den Anderen geopfert. Bruchstücke dieser Legende finden sich in der Serie: Opfer für die Anderen bringt nun die Figur Craster in Form seiner neugeborenen Jungen. Und die Allianz von Brandon und Joramun findet ihr Revival in der Verbindung von Jon Snow und Tormund bzw. Westerosi und Wildlingen.
In Westeros: Die Welt von Eis und Feuer heißt es, dass die Anderen Tote zum Leben erweckt hätten und für sich kämpfen ließen (12). Sind diese in die Serie übernommenen Untoten Zombies? Nein. Es fehlt das Moment der Ansteckung, denn diese Untoten können keine anderen Untoten erschaffen, dies geschieht durch die White Walker oder den Night King. Stattdessen verbindet sich das ältere Bild des haitianischen Zombie-Mythos – rituelle Tötung durch einen Voodoo-Priester und nachfolgende Willenlosigkeit – mit Bildern organisierter Streitkräfte, in denen Gehorsam herrscht. Auch repräsentieren sie keine gefräßigen, anarchischen Leichenmops, wie sie seit George Romeros NIGHT AUF THE LIVING DEAD (US 1968) stilbildend und aktuell etwa in THE WALKING DEAD (US 2011 –, Idee: Frank Darabont) unterwegs sind, sondern eine disziplinierte, roboterhafte Armee. Sie sind das finstere Spiegelbild der Söldnerarmeen der Serie.
Die Anderen in GOT sind uns nicht fremd, sondern als unsere dunklen Spiegelbilder unheimlich bekannt (um hier mal Freud zu bemühen). Die Grundfigur der Serie – die ignorierte und geleugnete Bedrohung der Menschheit – wurde zur prophetischen Metapher für den ebenfalls geleugneten und menschheitsbedrohenden Klimawandel. Die Genese des Nachtkönigs als Resultat des Kampfes zwischen Waldwesen und Menschen repräsentiert das Anthropozän: Wer nicht mit der Natur leben kann, erschafft seinen eigenen Tod gleich mit. Die White Walker sind Kriegsherren, die wie auch in unserer Welt den Tod für andere Lebewesen im Schlepptau haben. Weitere fantastische Aufklärungen über unsere Welt dann hoffentlich im (Stand: November 2019) geplanten Spin-Off THE LONG NIGHT.
Autorin
Elke Brüns, habilitierte Literaturwissenschaftlerin, unterrichtet Neuere Deutsche Literatur an der NYU Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte: Formen des Fantastischen, Dystopien, Armut und Literatur, Diskursanalyse, Gendertheorien, Filmanalysen. Sie schreibt für verschiedene Tageszeitungen und analysierte vier Jahre lang in einem Blog die kulturellen Repräsentationen von Armut.
Konkurrierende Interessen
Die AutorInnen haben keine konkurrierenden Interessen zu erklären.
Filmografie
GAME OF THRONES. Idee: David Benioff und D. B. Weiss. US 2011–2019.
GAME OF THRONES. S01E03: LORD SNOW. Regie: Brian Kirk, US 2011
GAME OF THRONES. S03E03: WALK of PUNISHMENT. Regie: David Benioff. US 2013.
GAME OF THRONES. S06E05: THE DOOR. Regie: Jack Bender. US 2016
GAME OF THRONES. S08E03: THE LONG NIGHT. Regie: Michael Sapochnik. US 2019.
GAME OF THRONES. S08E04: THE LAST OF THE STARKS. Regie: David Nutter. US 2019.
GAME OF THRONES. S08E06: THE IRON THRONE. Regie: David Benioff und D. B. Weiss. US 2019.
HOW I MET YOUR MOTHER. Idee: Carter Bays und Craig Thomas. US 2005–2014.
LORD OF THE RINGS. Regie: Peter Jackson. NZ/US 2001–2003.
LOST. Idee: J. J. Abrams, Jeffrey Lieber und Damon Lindelof. US 2004–2010.
NIGHT AUF THE LIVING DEAD. Regie: George Romero. US 1968.
THE WALKING DEAD. Idee: Frank Darabont. US 2011– .
Ludografie
Game of Thrones. Studio: Telltale Games. US 2014.
Zitierte Werke
Bolter, Jay David und Richard Grusin. Remediation: Understanding New Media. MIT University Press, 1999.
Dylan, D. »Remake GAME OF THRONES Season 8 with Competent Writers«. , o. D., www.change.org/p/hbo-remake-game-of-thrones-season-8-with-competent-writers.
Gjelsvik, Anne und Rikke Schubart. »Introduction«. Women of Ice and Fire. Gender, Game of Thrones, and Multiple Media Engagements. Hg. Dies. Bloomsburry Academic, 2016. 1–16.
Goldstein, Michael. »GAME OF THRONES Tourism Growing Even as Show Ends«. Forbes, 19. Mai 2019, www.forbes.com/sites/michaelgoldstein/2019/05/19/games-of-thrones-tourism-growing-even-as-show-ends.
Gray, Jonathan. Show Sold Separately: Promos, Spoilers and Other Media Paratexts. New York University Press, 2010.
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McNutt, Myles. »GAME OF THRONES – YOU WIN OR YOU DIE«. Cultural Learnings: Television Criticism by Myles McNutt. 29. Mai 2011, cultural-learnings.com/2011/05/29/game-of-thrones-you-win-or-you-die/, 1. Juli 2020.
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