Constanze Dennig ist Nervenärztin, Autorin, und Mitbegründerin des Theater am Lend in Graz. In ihren Texten wirft sie einen ungeschönten Blick auf brisante gesellschaftliche Entwicklungen und entlarvt deren Abgründe in humorvollen Narrativen. Ihre Stücke, Drehbücher und Romane hinterfragen in grotesken oder ins Wahnhafte gesteigerten Situationen den Umgang mit ethischen Herausforderungen. Die Themen reichen vom Handel mit Organen (Phantomschmerz, 2006) und Eizellen (Bauch zur Miete, 2006) zur Überalterung der Gesellschaft (Exstasy Rave, 2003; Klonküsse, 2005), von der Beziehungsunfähigkeit moderner Menschen zur Vereinnahmung des Fremden, von der Macht als Triebkraft skurrilen Handelns zum totalen Politikversagen (Demokratie, 2004). In ihren literarischen Gratwanderungen zwischen Realität und Absurdität macht sich Dennig die Sprengkraft gesellschaftlicher Tabus zu eigen. Am Beispiel ihres Erfolgsstücks Exstasy Rave und den beiden Romanen Die rote Engelin, Eros, Omam und ich (2002) sollen zentrale anthropologische und gattungspoetische Parameter von Dennigs »Störästhetik« aufgezeigt werden. Damit ist eine Ästhetik gemeint, die das Mimetische durchbricht und das Vertraute, wie Logik, Wahrnehmung, Moral und Mechanismen des Erzählens, stört.1

1 Das nicht-stattgefundene Leben als anthropologische Grundsituation

Dennigs Bühnentexte und Romane sind in der Realwelt verankert. Wie weit sich ihre Figuren auch ins Übermenschliche oder Posthumane hinauslehnen (Klone, virtuelle Identitäten) und wie verrückt die Szenarien, in denen sie agieren, auch sein mögen (eine Euthanasieparty, die Apotheose einer geschiedenen Frau zur Weltherrscherin, die Gründung einer Religion), sie spiegeln stets aktuelle Herausforderungen moderner Gesellschaften wider.

Anstatt einmaliger Reisen, durch die Charaktere in alternative Welten gelangen, wie sie den klassischen Szenarien der Science-Fiction und Fantasy zugrunde liegen, etwa H. G. Wells’ frühen scientific romances, Lewis Carrolls Alice in Wonderland (1865) und C. S. Lewis’ Narnia (1950–1956), gestalten sich die Lebensgeschichten in Dennigs Texten als subtile Gratwanderungen zwischen Vernunft und Wahn, Wissenschaft und Spekulation, Alltag und Abenteuer. Die Grenzen sind nicht eindeutig. Denn das, was sich jenseits des Möglichen oder Machbaren ereignet, wurzelt in den Sehnsüchten und Bedürfnissen von Dennigs Protagonistinnen. Ihr Abgleiten ins Fantastische ist eher mit einem gewollten Tagtraum vergleichbar als mit den nicht-kontrollierbaren Ereignissen echter Träume oder Albträume. Anders als die gewaltigen halluzinatorischen Bilder, mit denen etwa Alfred Kubins Ich-Erzähler in Die andere Seite (1909) den apokalyptischen Untergang von Pateras Reich schildert, entwickeln Dennigs Charaktere zumeist aus banalen Situationen heraus surreale Macht- und Wunschfantasien und erschaffen ihre eigene ›andere Seite‹. Zentrale Beispiele liefern Sonja und Lisa Meitner in Klonküsse und die Ich-Erzählerin in Die rote Engelin.

Die Grundsituation beider Romane ähnelt jener der Utopie, die ausgehend von den Unzulänglichkeiten einer Gesellschaft ein Ideal entwirft und dieses auf den Ist-Zustand zurück projiziert. Die Utopie ist politisch motiviert und zielt auf die Veränderung der Ist-Welt. Aus diesem Grund muss der Visionär/die Visionärin aus dem utopischen Idealreich wieder in die Unzulänglichkeiten seiner/ihrer eigenen Welt entlassen werden.2 Übertragen auf Dennigs Figuren, ist das Ziel der Veränderung eher im Persönlichen als im Kollektiven zu suchen. Es ist therapeutisch relevant, weil sich in den fantastischen Lebensentwürfen das nicht-gelebte Leben ausdrückt, wie Dennig in einem Interview erklärt:

Die interessantesten Geschichten sind immer die, die die Figur nicht erlebt hat, die sie nur erträumt hat, die nicht stattgefundenen Begegnungen. […] Nicht das, was die Figuren wirklich erlebt haben, finde ich interessant, sondern das, was sie erleben wollten, wem sie wirklich begegnen wollten, wo sie wirklich sein wollten, oder was sie wirklich tun wollten. (Coelsch-Foisner, »Kunst und Wissenschaft-Lazarett«, 108)

Die Vorstellung, dass die spannendsten Geschichten nicht das Leben, sondern das unerfüllte Leben schreibt, misst dem Fantastischen eine unersetzliche, geradezu notwendige lebensweltliche Dimension zu. »Psychiatrie ist täglich großes Theater«, sagt Dennig (ebd. 105). Sie verweist damit implizit die Literaturkritik vor dem Hintergrund fantastischer Gattungstheorien auf psychoanalytische Zugänge zur Fantastik, von Freuds Traumdeutung über Lacans Begriff des Imaginären zu Kristevas Konzept des Semiotischen als vorsymbolischem Reservoir der Poesie.3 Das nicht-gelebte Leben beherbergt alle möglichen Lebensentwürfe sowie erdenklichen Wunsch- und Angstträume und ist gewissermaßen das semiotische Reservoir der Fantastik.

Wesentlich für die oben erwähnten Ansätze ist, dass das, was sich jenseits der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit ereignet, nicht qualitativ von ihr abgegrenzt wird, sondern existentiell in enger Verbindung mit ihr steht und als bedeutsam erachtet wird, weil es Aufschluss über den Menschen und die Gesellschaft gibt. In Bezug auf das Individuum gibt es keine ›autorisierte‹ Version des Lebens oder des Selbst, sondern ungeahnte Parallelentwürfe. Viele von Dennigs Geschichten versetzen Charaktere in die Sphäre des Erträumten und Versäumten. Aus den Kränkungen des gewöhnlichen Lebens entstehen außergewöhnliche Geschichten, die wie alles nicht Erreichte überdimensioniert sein können. Das zeigen die unterschiedlichen Träume von der Weltherrschaft in Die rote Engelin und Klonküsse. In beiden wird das Wunschbild zum Verhängnis und kippt letztendlich.

Die Flucht aus dem Alltag verbunden mit dem Wechsel von Höhenflug und Scheitern wirft grundsätzliche Fragen der gattungsästhetischen Einordnung von Dennigs Erzählungen auf: Kompensationsstrategien und Verdrängungsmechanismen mögen wohl helfen, fantastische Texte psychologisch zu entschlüsseln, sie erklären aber nicht, wie sie ästhetisch bedeutsam werden, wie das nicht Stattgefundene verbalisiert und wie es dem Leser/der Leserin vermittelt wird. Wie weit gehorchen Dennigs Figuren der Poetik fantastischer Gattungen, wenn sie sich in Alternativwelten hineinmanövrieren, die Wirklichkeit radikal verändern, oder ihre Identität neu inszenieren? Oder liefern psychosoziale, kognitive Prozesse die Matrix für bestimmte Erzählformate? Bilden Fantasien unser Denken ab? Welche Wunsch- und Verdrängungsfantasien generiert das normierte Verhalten?

Genre-Shift und Gattungspoetik

Dennigs Plots und Figuren sind weder der Utopie zuzuordnen, noch der SF, Fantasy, Gothic, dem Surrealen oder Absurden; vielmehr vermischen sie Phänomene und Strategien unterschiedlicher fantastischer Gattungs-Traditionen.

Typische Störphänomene der Fantastik sind alternative Menschenbilder und Wirklichkeitsentwürfe, Verwandlungen und anachronistische Handlungen; zu den Störstrategien zählen Verunsicherung, Dopplung, Sprachauflösung, Übertreibung, Verfremdung und Widersprüche. In der Geschichte der Fantastik haben sich nicht nur die Phänomene und die Strategien verändert, sondern es hat sich auch das Verhältnis der beiden zueinander geändert. Das Ergebnis ist ein äußerst komplexes und dynamisches Gattungs-Gefüge mit Verschiebungen und unterschiedlichen Gewichtungen. Wer z. B. galt wann und warum als Monster: Frankensteins künstlich aus Leichenteilen zusammen geflickte Kreatur? Ein affenähnlicher Mr. Hyde? Ein Klon? Ein Untoter? Eine rote Engelin? Welche Lebensgeschichte wird ihnen eingeschrieben? Wie kommunizieren sie, und wie werden sie nachvollziehbar für die Leser_innen?

Roger Luckhurst bezeichnet fließende Gattungsgrenzen (genre-shift) als Merkmal der Fantastik der letzten Jahrzehnte (1–12). Gary Wolfe prägte den Begriff einer »post-genre fantastic« (405–419); analog dazu beschreibt Luckhurst das Konzept einer trans- oder »postnationalen« Fantastik (1). Die damit bezeichneten Grenzöffnungen und neuen Grenzziehungen sind aber nicht erst kennzeichnend für jüngere Entwicklungen in der fantastischen Literatur, sondern eine strukturelle Notwendigkeit. Werkzuordnungen zu den ›klassischen‹ Großgattungen wie Fantasy, SF und Gothic sind seit jeher problematisch, weil die Grenzüberschreitung im Sinne von Foucaults Begriff der transgression4 (29–52) ein Prinzip der Fantastik ist. Markante Werke der fantastischen Literatur haben sich in allen Epochen über Gattungskonventionen hinweggesetzt, Merkmale hybridisiert und neue Sub-Gattungen geschaffen. Schon Horace Walpoles Castle of Otranto (1765) vermengt Romance mit Schauer, H. G. Wells’ Time Machine (1895) Romance und SF, und Oscar Wildes Picture of Dorian Gray (1891) vereint Züge von Gothic, Fantasy und SF. Am ausgeprägtesten gestalten sich einzelne Merkmale in der Serialität populärer Texte, ob es sich um die Eroberung des Alls in der amerikanischen Pulp-SF, das Hindurchgehen durch Kleiderschränke, Spiegel oder Brunnen in der frühen Kinder-Fantasy oder um spukende Ahnen und blutende Statuen in der Schauergothic des späten 18. Jahrhunderts handelt. Die Fantastik durchbricht das Mimetische und das Vertraute und muss sich, um fantastisch zu bleiben, ständig selbst überholen und nicht nur unser Weltbild, sondern auch das Erzählte und Konventionen des Erzählens stören. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich dieses Verhältnis in Dennigs Texten gestaltet, wie Gattungstraditionen aufgegriffen und gleichzeitig im Sinn eines genre-shift unterwandert werden.

Exstasy Rave und Klonküsse

Exstasy Rave spielt im Jahr 2034. Jeder über 80 Jahre muss sich einem Test unterziehen, der über sein Weiterleben entscheidet. In einem sterilen Backstage-Raum warten fünf betagte Personen auf das entscheidende Ergebnis, das im Rahmen einer Fernsehshow bekannt gegeben wird. Erreichen die Kandidaten die erforderliche Punktezahl nicht, werden sie zur finalen Euthanasieparty geladen. Auf unterschiedliche Weise überspielen die Senioren ihre Todesangst und plaudern mit abgeklärter Ironie über das Leben, das sie durch die erforderliche Punktezahl um ein Jahr zu verlängern hoffen. Wird der Test nicht bestanden, besteht die Möglichkeit, innerhalb einer bestimmten Frist eine Ersatzperson zu stellen. Beim »Exstasy Rave«, der via Fernsehen verordneten Todesparty, wartet der Giftprosecco zur passenden Wunschmusik. Die Figuren der Handlung sind Dr. Anton Lesiak (83), Mag. Eva Pillinger (82), Ernst Brand (80), Gertrude Murauer (81), Michaela Primschitz (81), ein ehemaliger Beamter, der jetzt Showmaster ist, und eine Pflegerin, die als Showassistentin fungiert.

Die Ausgangssituation dieser Euthanasieparty ist typisch für ein SF- oder Fantasy-Abenteuer. Ein Mensch oder eine Gruppe wird mit einer fremdartigen Situation konfrontiert. Meist geschieht dies durch einen Ortswechsel, einen Schiffbruch oder ein ähnliches erzähltechnisches Manöver, oder es bricht die fremde Welt in die vertraute herein. ›Klassische‹ literarische Vorbilder sind Alice in Wonderland, H. G. Wells’ spekulative Evolutions-Erzählungen, in denen feindliche Riesenoktopusse und Killer-Ameisen die Menschheit bedrohen, oder J. G. Ballards Katastrophen-Roman The Crystal World (1966), der von der Reise eines Arztes in ein Gebiet in Afrika handelt, in dem die Natur zu Kristall erstarrt. Auch Kubins Roman Die andere Seite beginnt mit einer Reise, die geografisch detailgetreu geschildert wird.

Entscheidend für alle Beispiele ist, dass die gewohnte Welt verlassen oder gestört wird (oder wurde) und unterschiedliche Wissens- und Erfahrungshorizonte aufeinanderstoßen. In Brian Stablefords Geschichten über die Biotech-Revolution (Designer Genes, 2003) z. B. wird eine genmanipulierte Gesellschaft als gegeben vorgestellt: der Biotech-Mensch von morgen hat Krankheit, Alter und Tod überwunden, er klont sich und designt das perfekte Kind. Nur der Klon oder das maßgeschneiderte Kind wissen nichts davon. Ähnlich ergeht es den Senioren in Dennigs Exstasy Rave, die zwar wissen, dass der Tod bevorsteht, aber nicht wissen, wie er sich ereignen wird. Michaela sagt: »Also eigentlich möchte ich noch nicht sterben« (13), während Ernst resigniert mutmaßt: »Sollen uns gleich zur Schlachtbank führen … Ist ja sowieso geschoben« (5). Die breite Öffentlichkeit weiß, wie die als Fernsehshow übertragenen Euthanasiepartys ablaufen, den Tod kennt das Publikum aber ebenso wenig und verdrängt ihn umso intensiver. Aus diesem Missverhältnis von Opfern und Wissenden resultiert eine beißende Satire, deren Krux in der Rollenbesetzung liegt: Die 80-jährigen Senior_innen werden von jüngeren Schauspieler_innen verkörpert, die zum Zeitpunkt der Handlung, also im Jahr 2034, das Alter der Bühnenfiguren erreichen werden. Die ethische Provokation ist vergleichbar mit Kazuo Ishiguros viel später erschienenem Roman Never Let Me Go (2005): Dennigs Senior_innen sind, wie die für Transplantationen gezüchteten Klone, Teil eines Gesellschaftssystems, das sie als gegeben hinnehmen und in dem sie wenig Spielraum zur Auflehnung haben.

Anders als der Roman, der zur Kommunikation eines Störphänomens auf die vermittelnde Instanz des Erzählers angewiesen ist, schafft die Bühnensituation in Exstasy Rave eine frontale Begegnung des Publikums mit dem Undenkbaren und macht das sichtbar, was eine Gesellschaft sanktioniert und verbannt, ausgrenzt und für fremd und feindlich erklärt. Das Verworfene oder Abjekte (Kristeva, Powers of Horror) kehrt in Gestalt von Alter, Demenz, Krankheit und Tod monströs zurück. Anders als die Leser_innen, befinden sich die Theaterbesucher_innen in der gleichen ›ausweglosen‹ Situation wie die Opfer: Sie konsumieren das Gezeigte kollektiv in einem bestimmten Raum zu einer festgesetzten Zeit. Wenn der zweite Aufzug vom Warteraum zur Fernsehshow wechselt, geraten sie in eine zwiespältige Rolle: Als Zuseher_innen des Exstasy Rave bilden sie die Gesellschaft der Stärkeren und der Täter, die den Wert des Menschen an Leistungsindikatoren misst und das Leben einem Punktesystem unterordnet, während ihnen die jungen Schauspieler_innen ihr eigenes Älterwerden vorhalten. Dennigs Bühne wird so gleichzeitig zum Ventil für das Abjekte und zum Spiegel abjekter Vorstellungen von Alter, Gebrechlichkeit und Tod.

Der affektive Appell des Theaters leistet das, was Darko Suvin als wesentliches Gattungskriterium der SF definiert hat: das Novum (79–102). Die Neuheit in Dennigs Stück ist weniger als zivilisatorisches Moment von Bedeutung als vielmehr, weil es Bewusstmachungsprozesse in Gang setzt. Das erklärt nicht zuletzt das aktuelle Interesse an Science-Drama, das analog zur SF die ethischen, politischen und psychologischen Konsequenzen einer ›neuen‹ Situation ins Blickfeld rückt. Was heißt es, in einem bestimmten lebensweltlichen Umfeld Mensch zu sein? Was bedeutet es für das Individuum, wenn die Gesellschaft als ›Lösung‹ gegen Überalterung die Todesparty erfindet? Dennigs Stück bietet keinen Ausweg aus dem Dilemma, noch wird am Theater der Ernstfall geprobt, aber es wirft die Anfälligkeit moderner Gesellschaften für solche Ernstfälle auf. Wie wenig gefeit moderne Hochleistungsgesellschaften vor grundsätzlichen Fragen nach dem Wert des Lebens und der Gleichwertigkeit menschlichen Lebens sind, hat der drohende Kollaps des Gesundheitssystems infolge der Covid-19-Pandemie gezeigt – nicht nur weil die medizinische Entscheidung über Leben und Tod seitens der Regierungen mit unterschiedlichen Mitteln in unterschiedlichem Ausmaß aufgehalten wurde, sondern weil die Abwägung solcher Mittel im Kontext anderer Belastungen und Folgeschäden den Druck auf Entscheidungsträger erhöht und die Stabilität zivilisatorischer Errungenschaften auf den Prüfstand stellt. Die Problemlage in Dennigs Ecstasy Rave ist aktueller denn je.

Exstasy Rave bedient sich der kommunikativen Strategien der SF und der Fantasy: eine fremde Situation (das Störphänomen) wird mit realistischen Erzähl- und Stilmitteln dargestellt. Dazu gehören herkömmliche Namen, wie wir sie in einem österreichischen Altersheim tatsächlich antreffen könnten, samt Titeln und Positionen, exakten Altersangaben und Details zur jeweiligen Krankheitsgeschichte, die wiederum in Bezug steht zu den von den Protagonist_innen einst ausgeübten Berufen: Mag. Eva Pillinger, Magister für Germanistik und Geschichte hat Haltungsschäden und Nackenschmerzen; der Jurist Dr. Anton Lesiak berichtet über seinen Bandscheibenvorfall; Michaela Primschitz hat Hüftbeschwerden. Darüber hinaus erfahren wir Hobbys, Familienstand, Schulbildung und erhalten zahlreiche Verweise auf eine (österreichische) Jetzt-Gesellschaft.

Dieser (Pseudo-)Realismus, der kein Tabu scheut, entspricht dem Verfahren der SF und der Fantasy. Für beide sind Dialoge oder Gespräche zentral, weil irritierende Phänomene kommuniziert und in die vertraute Lebenswelt integriert werden müssen. Das Theater schafft dafür den genuinen Rahmen. Obgleich Alzheimer und Parkinson den Informationsaustausch erschweren, rekapitulieren die Senior_innen ihre unerfüllten Träume sowie Erwartungen und betrachten verschiedene Fotos. Diese erfüllen eine ähnliche Rolle wie die exakten Beschreibungen, Definitionen, Fachterminologien, historischen und topographischen Einordnungen in der SF: Sie vermitteln den Eindruck von Authentizität – auch wenn es sich um Pseudo-Geschichte, Pseudo-Wissenschaft und Pseudo-Medizin handeln mag. Klonküsse (KK) enthält z. B. ein Glossar mit medizinischen Fachtermini. Neben »Acetylcholinesterase-Hemmer« – »Medikamente, die das Enzym Cholinesterase hemmen und so die Wirkung von Acetylcholin verstärken«; »Atrophie« – »Schrumpfung«; »C2H5OH«, »Äthylalkohol«; wird ein fiktives Forschungsprojekt eingeschleust, »das die Möglichkeiten schaffen soll, Emotionen im menschlichen Gehirn beseitigen zu können«. Verfolgt wird dieses Ziel von zwei Wissenschaftlerinnen, Lise und Sonja Meitner, Mutter und Tochter, wobei die eine, wie sich herausstellt, ein Klon der anderen ist. Die Tatsache, dass eine den Namen der berühmten österreichischen Atomphysikerin Lise Meitner (1878–1968) trägt, verleiht dem Vorhaben Seriosität und Glaubwürdigkeit. Fantastische Phänomene werden in der SF als gegeben vorgestellt, indem der Störfaktor Alternativwelt bestmöglich beseitigt wird. Das geschieht durch einen glaubwürdigen Erzähler (ob Wissenschaftler, Arzt, Journalist, Rechtsgelehrten oder Experten mit Überzeugungskraft), durch etablierte Diskurse und durch den Ausgleich scheinbarer Informationsdefizite.

Zur Untermauerung des Wahrheitsgehalts werden Textsorten zitiert: Briefe, Tagebücher und Notizen, Kommentare, Medien- und Presseberichte, Reportagen, wissenschaftliche Publikationen und Geschichtswerke. Klonküsse ist ein E-Mail-Roman, der sich in Weiterführung des Briefromans auf eine authentische Kommunikationsstruktur stützt. Sprachlich und erzähltechnisch zeichnen sich SF-Texte in der Regel eher durch einen funktionalen Stil (vgl. »mundaneness in content and style«, Roberts 21) als durch Experimente aus. Ähnlich wie Dr. Moreau in The Island of Dr. Moreau (1896) eine nüchterne Darstellung seiner grauenhaften Tierexperimente liefert, überlegen Sonja und Lise Meitner in Klonküsse ganz nüchtern eine globale Impfaktion gegen Emotionen.

Fantastische Phänomene werden in der SF direkt an- und ausgesprochen. Leerstellen und Tabus werden ausgeräumt und die Welt als gegeben vorgestellt. Aus dieser szientistischen Erklärungsmodellen verpflichteten Gattungsideologie ergibt sich eine Systematik fantastischer Texte: Je spektakulärer die Phänomene, desto konsequenter, kontrollierter und konventioneller die Strategien – sei es auf Erzähl- oder Inszenierungsebene. SF-Texte erzeugen den Eindruck von Kontinuität und Geschlossenheit, wobei der Störfaktor Alternativwelt durch etablierte Diskurse und durch den Ausgleich scheinbarer Informationsdefizite bewältigt wird.

SF und Fantasy konfrontieren Held_innen und Leser_innen bzw. Theaterbesucher_innen gleichermaßen mit Veränderungen und fordern sie auf, neues Wissen und neue Erfahrungen einzuordnen. Es ist die Diskrepanz zwischen dem wissenschaftlich Undenkbaren oder ethisch Verwerflichen und der logisch konsequenten Vermittlung, die für die Leser_innen so beunruhigend ist, als ob alles seine Ordnung hätte – die Todesparty für alle über 80-Jährigen ebenso wie das »emotionsfreie Individuum« (KK 57). Fantastische Erzählformen und Dramen, die die Bewältigung radikaler Veränderungen von Menschen und Lebensräumen zum Inhalt haben, reagieren besonders auf aktuelle Ereignisse, wie Kriege und Naturkatastrophen oder technische Errungenschaften. Sie haben einen hohen sozialpolitischen Impakt ohne ein striktes utopisches Programm zu verfolgen.

2 Utopie und Dystopie – die Doppelsicht als Therapie

Die großen SF-Romane und -Romanzyklen der letzten Jahrzehnte (zu den Pionieren zählen angloamerikanische Autoren wie Brian Stableford, Paul MacAuley, Charles Stross, Justina Robson und Ken MacLeod) haben sowohl krasse Warnszenarien von der gewaltsamen Manipulation des menschlichen Körpers und Geistes entworfen (nach dem Schema von Aldous Huxleys Brave New World, 1932), als auch Zukunftsvisionen der Machbarkeit von Technologien wie z. B. Genmanipulation, Reproduktionsmedizin, Lebensverlängerung und Verjüngung durch Transplantation, Kryogenik und Nanotechnologien. SF-Texte tendieren jedoch eindeutig zur Dystopie.5

Klonküsse liefert ein Beispiel für die typische Doppelsicht von Dennigs fantastischen Gratwanderungen. Der Roman vermischt Liebesgeschichte und Science-Thriller, indem der intime Charakter der elektronischen Nachrichten den rationalen Diskurs der SF unterwandert und das feministische Projekt zur Befreiung von Emotionen vereitelt. Die handelnden Figuren liefern selbst den Gegenbeweis für ihr ambitioniertes Vorhaben:

Ich schwanke zwischen Enttäuschung und Erleichterung, wenn wieder ein Tag vorübergegangen ist und er [ein zunächst anonymer Verehrer, dann Liebhaber, schließlich radikaler Verfechter patriarchaler Geschlechterkonstruktionen] nicht aufgetaucht ist. (KK 58)

Dabei wollen die beiden Wissenschaftlerinnen doch emotionslos sein und sich radikal in den Dienst der Vernunft stellen. Was als matriarchale Utopie begonnen wurde – durch das »emotionsfreie Individuum« »eine Welt ohne Aggression, ohne Kampf, ohne Streit« (KK 56) zu schaffen – birgt in sich den Keim einer totalitären Korrektur der gesamten Menschheit (etwa durch »Massenimpfungen bei jungen Mädchen«) (KK 57). Auch operiert die implizite Kritik an patriarchalen Machtstrukturen mit deren Parametern und fällt in das politische Schema: Konkurrenzkampf, Karrieresucht, strategisches Handeln und pekuniäre Vorteile zurück. In der Utopie scheint die Dystopie vorprogrammiert.

Der Roman spielt im Jahr 2045: Euthanasie, Todesspritze, die Marginalisierung alter Menschen, Klonen, und »Versuchskinder« (KK 114) sind kein Tabu mehr, aber nun ist die Wissenschaftlerin das »Monster« (KK 127), weil sie die Menschheit neu, d. h. ohne Gefühle, erschaffen will – wie der antike Prometheus oder der »moderne Prometheus«, so der Untertitel von Mary Shelleys Roman Frankenstein (1818). Jede Enttabuisierung schafft neue Tabus, d. h. neue Monster. Der postmoderne oder postnationale Prometheus, wie ihn Klonküsse vorstellt, agiert global und erfindet sich – als Klon – selbst. Der daraus resultierende Identitätskonflikt rückt nicht nur die beiden geklonten Wissenschaftlerinnen in Dennigs Roman in die Nähe der Gothic, sondern stellt deren traditionelles Spiel mit gedoppelten oder vertauschten Identitäten in einen neuen szientistischen Kontext.

Exstasy Rave reiht sich zwar eindeutig in die Tradition szientistischer Dystopien, doch auch hier wird die Ratio der SF auf bizarr-satirische Weise unterwandert. Traditionell löst die Begegnung mit fantastischen Phänomenen Befremden, Unbehagen oder Schock aus, gelegentlich begleitet von einem makabren Zynismus, wie in Brian Stablefords Geschichten über die Biotech-Revolution, gesammelt in Designer Genes, als ein herzkrankes Mädchen eine innige Beziehung zu einem Hausschwein entwickelt, bis es erfährt, dass dieses Schwein genmanipuliert ist und ihre eigenen Stammzellen enthält, damit ihr einmal das gesunde Schweineherz implantiert werden kann. Wieviel ihrer eigenen Identität weist dieses Schwein auf, und was geschieht damit, wenn nach der Transplantation der Rest des Tieres, also ein Teil ihrer selbst, zu Blut- oder Leberwürsten verarbeitet wird? Ähnlich befremdend ist die Erniedrigung alter Menschen in Exstasy Rave, allein schon deshalb, weil ihre Hilflosigkeit und ihre Krankengeschichten von der ›Privatheit‹ eines Wartezimmers in die Öffentlichkeit einer Fernsehshow übertragen werden.

Es wirkt wie eine ferne Anleihe bei George Bernard Shaw, wenn Dennig Versatzstücke der vertrauten Wirklichkeit surreal verknüpft, und Utopie sowie Dystopie mäeutisch nebeneinanderstellt: Die Wartezimmersituation des 1. Akts – die Senior_innen reden über ihr vergangenes Leben – führt in eine medial inszenierte Unterhaltungsshow, in der die Testergebnisse, welche über Leben und Tod der Kandidat_innen entscheiden, verlautbart werden. Das Showformat, das an eine Freakshow erinnert, inkludiert Applaus, das Öffnen eines Kuverts, und die obligate Fernsehbotschaft der Mitwirkenden an die Zuseher_innen, die ihrerseits nicht vor verbalen Demütigungen der Beteiligten zurückschrecken.

Die Gratwanderung zwischen medientauglicher Showrhetorik und alltäglicher Pflege-Brutalität (Festhalten, Schubsen und Erniedrigung der Todes-Kandidat_innen) vollzieht sich bereits in den Doppelrollen von Peter Maresch: Beamter und Showmaster, und Jara/Susi: Pflegerin und Showassistentin. Exstasy Rave subvertiert die Grenzziehungen des Bakhtin’schen Karnevals, der einen rituellen, zeitlich begrenzten und legalisierten Ausbruch aus der Wirklichkeit bezeichnet, weil sich das Augenmerk nicht auf die umgestülpte Welt richtet, sondern auf das prekäre Verhältnis der Opfer zu den Exekutierenden und die Korruption der Pflegewelt in die Show-Welt verlagert wird.6 Mit dem Schlussbild wird die makaber-skurrile Stimmung der Todesparty erneut ›gestört‹: Mag. Eva Pillinger, 82, geht ab mit Dr. Anton Lesiak, 83, mit den Worten »Ich weiß jetzt, was wir tun« (28). Eine Pause, Dunkelheit auf der Bühne, dann geht ein Scheinwerfer an, und man sieht Eva als Schwangere. Erneut wird das unerfüllte Leben inszeniert.

Die rote Engelin

Um eine Unterwanderung von Normen und Gattungskonventionen geht es auch in Die rote Engelin, Eros, Omam und ich, Dennigs erstem Roman. Erzählt wird der banale Versuch einer Frau im mittleren Lebensabschnitt, ihre Ehe zu beleben, nachdem sie sich zwanzig Jahre als ›Engel im Haus‹ für ihre Familie aufgeopfert hat. Ihr Neustart kommt zu spät, denn ihr Mann hat bereits eine Geliebte und verlässt sie. In dieser Situation wird sie in der Kirchenbank von einer roten Engelin angesprochen – Symbol eines religiösen Heilsparadigmas und innere Stimme ihres eigenen Überlebenstriebs. Die rote Engelin ist aber mehr als eine Travestie oder übernatürliche Sinngebungsfigur, denn sie beherrscht die weltlichen Spielregeln der Macht und verhilft der Protagonistin rasant zu grandiosem gesellschaftlichen Aufstieg.

In Therapie-ähnlichen Sitzungen lernt die Ich-Erzählerin, wie sie Menschen für ihre eigenen Interessen manipulieren kann, und bringt es bis zur Präsidentschaftskandidatin im US-amerikanischen Wahlkampf. Am Schluss rät ihr die rote Engelin, sich als Göttin zu offenbaren und eine neue Weltreligion zu verkünden. Geplanter Schauplatz für dieses mediale Großereignis ist der Mount Everest. Auch hier wird analog zur Science-Vermittlung, zu wissenschaftlichen Erklärungen und technischen Beschreibungen in der SF, eine authentische Gesprächssituation simuliert: Die Dialoge mit der Engelin gleichen professionellen Beratungsgesprächen. Gleichzeitig verfolgt der Roman Mechanismen der Illusionsbrechung. Metafigurale Verweise auf literarische Vorbilder (James Joyces Ulysses) und Intertexte – ein Kapitel heißt »Schöne neue Welt« – lenken das Augenmerk (teils parodistisch) auf die Literarizität des Textes. Auch die Brüche in den Wunschfantasien von Dennigs Figuren unterwandern die klassische Utopie, die statisch ist – das utopische Gesellschaftsideal wird gleichsam als permanent vorgestellt, wie Edward James festhält (222), während Fantasy und SF-Texte Wagnisse, Gefahren und Veränderungen beinhalten. Im Mittelpunkt von Die rote Engelin steht wie in der Fantasy der Weg – hier der soziale Aufstieg der Protagonistin –, während das Ideal einer matriarchalen Herrschaft als Tyrannei entlarvt wird.

Trotz der realistischen Coach-Situation und dem bekenntnishaften inneren Monolog der Erzählfigur hat Die rote Engelin als therapeutische Utopie einen Haken, denn der Roman beginnt mit dem Epilog und ist rückwärtsgerichtet. Die Protagonistin erzählt als Tote bzw. Untote. Sie wurde ermordet. Diese Erzählsituation bündelt wiederum typische Verfahren der Gothic Fiction: die Verunsicherung der Leser_in, das Verwischen von Vision und Wirklichkeit, die Wiederkehr vergangener Schuld, Illusionsstörung und irrationale Subjektivität, Zeitbruch, Übertreibung und eine unglaubwürdige Erzählerin, die zwar mit kühler Ratio besticht, wenn sie die Untreue ihres Mannes rächt, aber als Ermordete handelt und zu Fantasien neigt. Als ›er‹ zu Beginn über den zu kurz gegarten Rindsbraten nörgelt, überreagiert ›sie‹:

Ich antworte nicht, ich schlucke meinen Frust hinunter. Ich weiß, eines Tages werde ich ihn mit der Bratengabel erstechen. In meiner Fantasie habe ich ihn auch schon mit seinem persönlichen japanischen Keramikmesser erstochen. Vergiften liegt mir nicht, denn das hat wieder etwas mit Essen zu tun. Ich möchte ein spontaner Mensch sein. Wenn ich töte, dann mit Leidenschaft. (Engelin 7).

Dennigs Die rote Engelin vermengt Alltagssatire mit fantastischen Überhöhungsfantasien, banale Realität mit metafiktionaler Selbstreferenzialität, und das Makabre mit Humor. Die Szene liefert einen Schlüssel für Dennigs Fantastik, die auf alltägliche Frustrationen antwortet und Situationen ins Extreme steigert, während sich logisches Kalkül und Irrsinn zu einer beißenden Satire aufschaukeln, in der Geschlechterrollen und Beziehungsmuster getauscht werden.

Die übersteigerten Tötungsfantasien der Protagonistin stehen im Widerspruch zu nüchternen Kommentaren, die eher die unbeteiligte Außensicht der Therapeutin als den Rachefeldzug einer gekränkten Frau verraten. Rationale Sprache, nüchterne Verweise auf den Alltag, und der Entwurf einer Figur, die an einem Punkt als »Monster« bezeichnet wird (»Du bist ein Monster, du zerstörst alle, die dich lieben«, Engelin 178), unterwandern gattungspoetische Abgrenzungen zwischen Gothic, SF und Fantasy. Dazu mischen sich absurd-surreale Elemente: So spielt der letzte Satz aus dem Epilog von Die rote Engelin auf Sartres Les jeux sont faits (1947) an: »Hoffentlich stirbt er [Ferdl, der Liebhaber der Protagonistin] bald und wir fangen von vorne an« (6); auch das Warten auf den Euthanasiecocktail macht Anleihen bei Samuel Becketts Warten auf Godot.

Fazit: Dennigs Fantastik skizziert das Außergewöhnliche oder Übermenschliche, um dem zutiefst Menschlichen ein Gesicht zu verleihen und den verborgenen, verdrängten Kern Menschlichkeit ans Tageslicht zu fördern. Genau das leisten auch ihre Bühnen-Puppen, die Teil der Gratwanderung zwischen Wirklichkeit und Unwirklichkeit sind und Als-ob-Konstruktionen ins Figurale übertragen. Klone und Engelinnen sind ebenso wenig im wahren Leben anzutreffen wie sprechende Klappmaulpuppen, aber sie eignen sich hervorragend, um menschliche Wünsche, Ängste und Obsessionen zum Ausdruck zu bringen. Das Publikum wird zur Identifikation angeregt, während ihm gleichzeitig die Möglichkeit zur Distanzierung gegeben wird.

Die unscharfe Grenze zwischen Kalkül und Wahn in Die rote Engelin, das Räsonieren einer Gruppe von 80-Jährigen in den letzten Lebensstunden vor dem Todescocktail in Exstasy Rave und die Manipulation des Gehirns durch Psychopharmaka zum Zwecke der Erschaffung emotionsfreier Menschen in Klonküsse sind Indiz einer »post-genre« Störästhetik, die Gattungsgrenzen aufweicht und fantastische Phänomene mit illusionsbrechenden Strategien verschränkt.

Durch die Bindung skurriler Szenarien (Exstasy Rave), technologischer Nova (Ausschalten von Emotionen in Klonküsse) und subversiv übersteigerter Verhaltensmuster (der Aufstieg zur Weltmacht und die Religionsstiftung in Die rote Engelin) an bestehende gesellschaftliche Strukturen, kommt der utopische Charakter einer auf Veränderung abzielenden Fantastik zum Tragen. Statt politischem Aktivismus liegt Dennigs Texten eher ein therapeutisches Moment zugrunde – nicht im Sinne einer Anleitung zum Glücklichsein, sondern eines Ausschöpfens lebensgestalterischer Prozesse durch das Hinterfragen existenter Grenzen. Der Therapeut ist nicht weit von seinen Figuren entfernt. Nicht selten werden die so erdachten Welten als Produkt unerfüllter Wünsche oder gescheiterter Verdrängungen entlarvt. Während der dystopische Exstasy Rave in eine Utopie von Freiheit kippt, entpuppt sich das Matriarchat der roten Engelin als Diktat, und Klonküsse beschreibt einen sich perpetuierenden Kreislauf patriarchaler Machtstrukturen. Die Herrschaft der Frauen ist kein Heil, doch für die Figuren heilsam. Der Größenwahn der roten Engelin, die wissenschaftlichen Ambitionen einer Lise und Sonja Meitner, und die Peinlichkeiten eines Exstasy Rave weisen die Schwächen ihrer Figuren als allzu menschlich aus. Darin zeichnet sich die tröstlichste Botschaft von Dennigs psychologischen Parallelwelten ab – ob im Theater oder in Romanform – und vielleicht die therapeutisch wertvollste: die distanzierte Selbstbeobachtung ihrer Figuren und die Würde, die ihnen diese Selbstschau verleiht. Voraussetzung für diese kritische Auseinandersetzung mit realen Problemen ist der Aufbruch ins Unbekannte. Auch wenn die Utopien scheitern, bleibt die Sicht auf Ereignisse unaufgeregt, und im Mittelpunkt steht der Weg und nicht das Ideal.

Notes

  1. Zum Begriff »Störästhetik« siehe Coelsch-Foisner, »Störästhetik« 121–136. [^]
  2. Zur Struktur der Utopie siehe Morton sowie Levitas; zur Verbindung von eu-topos (good place) und ou-topos (no place) siehe Kumar sowie die Beiträge in Amberger und Möbius. [^]
  3. Vgl. Freud; Kristeva, Revolution; Lacan. [^]
  4. Zu fantastischer Transgression und Gattungsästhetik siehe auch Fußnote 1. [^]
  5. Vgl. Clute und Nicholls 362. [^]
  6. Vgl. Bakhtin 1–23. [^]

Autorin

Sabine Coelsch-Foisner ist Professorin für Englische Literaturwissenschaft und Kulturtheorie an der Universität Salzburg, wo sie den Fachbereich Anglistik und Amerikanistik (2007–2015), das Interdisziplinäre Forschungszentrum Metamorphischer Wandel in den Künsten (2003–2010) und den Programmbereich Arts & Aesthetics (2010–2013) geleitet hat. Gegenwärtig leitet sie das Doktoratskolleg Cultural Production Dynamics (seit 2016) und die von ihr gegründete öffentliche Programmreihe Atelier Gespräche, im Rahmen derer gegenwärtig die Datenbank CORE: Theatre | Opera | Festival zu künstlerischen Produktionen entsteht. Sie ist zudem Leiterin der ARGE Kulturelle Dynamiken an der Österreichischen Forschungsgemeinschaft (ÖFG). Für ihre Habilitation Revolution in Poetic Consciousness (2001) wurde sie mit dem Kardinal-Innitzer-Preis und dem Kulturpreis des Landes Oberösterreich ausgezeichnet. Zuvor war sie APART-Fellow der Akademie der Wissenschaften (1998–2001). Neben ihrer Vorstandstätigkeit in mehreren wissenschaftlichen Gesellschaften und Mitgliedschaft in internationalen editorial boards ist sie founding editor-in-chief der open-access Special Collection «Production Archives» bei OLH an der Universität London, sowie der Buchreihe Wissenschaft und Kunst und Herausgeberin von knapp 40 Bänden. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen Englische Literatur, Kulturtheorie und Ästhetik, Theater, Lyrik, Short Fiction, Fantastik, Frauenliteratur, kulturelle Infrastrukturen, Digital Humanities, Literatur und die anderen Künste, kulturelle Produktion.

Konkurrierende Interessen

Die Autorin hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Zitierte Werke

Amberger, Alexander und Thomas Möbius, Hg. Auf Utopias Spuren: Utopie und Utopieforschung. Festschrift für Richard Saage. Springer, 2017. DOI:  http://doi.org/10.1007/978-3-658-14045-8

Bakhtin, Mikhael M. »Introduction«. Rabelais and His World. Übers. von Helene Iswolsky, Indiana University Press, 1996. 1–23.

Clute, John and Peter Nicholls. The Encyclopedia of Science Fiction. Orbit, 1993. 362.

Coelsch-Foisner, Sabine. »Die Störästhetik fantastischer Texte«. Alfred Kubin und die Phantastik: Ein aktueller Forschungsrundblick, Hg. Peter Assmann. Phantastische Bibliothek Wetzlar, 2011. 121–136.

Coelsch-Foisner, Sabine. »Kunst und Wissenschaft-Lazarett«. TATORT Kultur: Atelier Gespräche II. Anton Pustet, 2013. 102–111.

Dennig, Constanze. Bauch zur Miete. Thomas Sessler Verlag, 2006.

Dennig, Constanze. Die rote Engelin, Eros, Omam und ich. Po@Co Edition, 2002.

Dennig, Constanze. Exstasy Rave. Thomas Sessler Verlag, 2003.

Dennig, Constanze. Demokratie. Thomas Sessler Verlag, 2004.

Dennig, Constanze. Klonküsse. Verlag der Apfel, 2005.

Dennig, Constanze. Phantomschmerz. Thomas Sessler Verlag, 2006.

Foucault, Michel. »A Preface to Transgression«. Language, Counter-Memory, Practice: Selected Essays and Interviews, Hg. Donald Bouchard. Cornell University Press, 1977. 29–52.

Freud, Sigmund. »Das Unheimliche«. Studienausgabe, Bd. IV: Psychologische Schriften, Hg. Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Fischer, 1982. 241–274.

James, Edward. »Utopias and Anti-utopias«. The Cambridge Companion to Science Fiction, Hg. Edward James und Farah Mendlesohn. Cambridge University Press, 2003. 219–29. DOI:  http://doi.org/10.1017/CCOL0521816262.017

Kristeva, Julia. Powers of Horror: An Essay on Abjection. Columbia University Press, 1982.

Kristeva, Julia. Revolution in Poetic Language. Columbia University Press, 1984.

Kumar, Krishan. Utopia and Anti-Utopia in Modern Times. Basil Blackwell, 1987.

Lacan, Jacques. »The Mirror Stage as Formative of the I Function. As Revealed in Psychoanalytic Experience«. Écrits. The First Complete Edition in English. 1966. W. W. Norton & Company, 1966. 75–81.

Levitas, Ruth. The Concept of Utopia. Philip Allan, 1990.

Luckhurst, Roger. »The Weird Rewired: Genres, Borders and the New Europe«. New Directions in the European Fantastic, Hg. Sabine Coelsch-Foisner und Sarah Herbe. Winter, 2012. 1–12.

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Mumford, Lewis. The Story of Utopias: Ideal Commonwealths and Social Myth. Harrap, 1923.

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Suvin, Darko. Metamorphoses of Science Fiction: On the Poetics and History of a Literary Genre. 1979. Hg. Gerry Canavan. Peter Lang, 2016. DOI:  http://doi.org/10.3726/978-3-0353-0735-1

Wolfe, Gary K. »Malebolge, or the Ordinance of Genre«. Conjunctions 39 (2002): 405–419.