Der 1971 geborene Ivan Engler hat bisher zwar nur einen Kinofilm gedreht, mit diesem aber bereits Geschichte geschrieben. CARGO (CH 2009, Regie: Ivan Engler und Ralph Etter) gilt gemeinhin als erster – und bisher einziger – Schweizer Science-Fiction-Film. Der mit einem für internationale Verhältnisse bescheidenen Budget von etwas über zwei Millionen Franken produzierte Film erzählt die Geschichte der Crew des Raumfrachters Kassandra, der auf einem mehrjährigen Flug unterwegs ist. Ein Flug, auf dem, wie es die Regeln des Genres verlangen, unerwartete Dinge geschehen.

Seit seinem Erstling hat Engler bisher keine weiteren Filme realisiert; derzeit arbeitet er an einem neuen Projekt.

ZFF: Ivan Engler, wie sind Sie zur SF gekommen?

Ivan Engler: Ich erzähle dazu immer die gleiche Geschichte: Ich bin auf dem Land aufgewachsen, in Pfyn an der Thur, wo es oft sehr neblig ist. An einem Herbsttag, ich muss fünf oder sechs gewesen sein, stand die Sonne als blasse Scheibe am Himmel, und gleichzeitig war auch schon der Mond – ein Vollmond – sichtbar. Ich habe das gesehen und meine Mutter gefragt, warum denn plötzlich zwei Sonnen am Himmel stünden. Dieser Anblick hat mich sehr beeindruckt und in mir wahrscheinlich das Bewusstsein dafür geweckt, dass auch ganz andere Welten denkbar sind.

Unabhängig von diesem Erlebnis habe ich als Kind viel Zeit damit verbracht, mir eine Art Raumschiff-Cockpit zu bauen. In meinem Elternhaus hatte es sehr viel Platz, und ich habe mir mit alten Radios, die seltsame Geräusche machten, mein Raumschiff gebastelt. Die Vorstellung, in fremde Welten einzutauchen, hat mich schon immer fasziniert.

Die erste Fernsehserie, die mich interessiert hat, war STAR TREK; wir sprechen hier von THE ORIGINAL SERIES (US 1966–1969, Idee: Gene Roddenberry) auf einem Schwarzweiß-Fernseher. Ich fand es einfach faszinierend, wie die Crew der Enterprise durchs All zu anderen Planeten flog. Heute interessiert mich STAR TREK überhaupt nicht mehr, aber damals hat mich das geprägt – wahrscheinlich fürs Leben.

Ein weiteres prägendes Erlebnis war, als ich mit 16 Jahren – ich war just alt genug, um überhaupt ins Kino eingelassen zu werden – ALIENS (US 1986, Regie: James Cameron) sah. Da ist mein Gehirn regelrecht explodiert. Es kam mir damals zwar überhaupt nicht in den Sinn, dass ich selber je in diesem Bereich arbeiten könnte, aber dieser Film hat mich enorm beeindruckt.

Abb. 1
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Ivan Engler

ZFF: Literatur war weniger wichtig für Sie?

Ivan Engler: Doch, sehr wohl. Als junger Teenager war ich aber weniger an SF interessiert, sondern eher an Fantasy und Horror. Ich las Dinge wie Die unendliche Geschichte, Stephen King und The Lord of the Rings. SF kam erst später. Alfred Bester war sehr wichtig, und dann die ganze Cyberpunk-Welle. Vor allem William Gibson hat mich sehr gepackt. Bei Tolkien ist am Ende alles Teil eines moralischen Systems; das gefällt mir zwar auch, und bei ihm ist natürlich das Worldbuilding beeindruckend, aber an Gibson reizte mich gerade das Böse und Kaputte. Ich war damals Anfang zwanzig und merkte plötzlich, dass es da eine erwachsene Welt gibt, die ich vorher nicht kannte. Ich las dann auch nicht-phantastische Autoren wie Bret Easton Ellis. Im Grunde waren es ähnliche Dinge, die mich bereits bei ALIENS fasziniert hatten, auch wenn mir das damals nicht klar war. Die »used future« der ALIEN-Filme und ihre heruntergekommenen Figuren. Und natürlich der Cyberspace – die Idee einer Computerwelt, in die man eintauchen kann, hatte es mir angetan.

ZFF: Sie waren selbst ein Computerkind?

Ivan Engler: Auf jeden Fall. Mit zehn hatte ich eine Atari-2600-Konsole, später dann einen Commodore 64. Zu Beginn habe ich nur Games gespielt, später wurde ich dann ein richtiger Geek. Ich bin als 15-Jähriger sogar fast von der Schule geflogen, weil ich mich in den Server meiner Schule gehackt hatte. Eigentlich war das nur als Scherz gedacht: Ich hatte eine Bombe auf dem Startup-Screen platziert. Stolz – und naiv – habe ich unserem Informatiklehrer davon erzählt. Der fand das aber überhaupt nicht lustig und hat es umgehend der Rektorin gemeldet. Es gab daraufhin einen Riesenwirbel, weil auf dem von mir gehackten Rechner auch die Abschlussnoten der Abiturklassen abgelegt waren – was ich allerdings gar nicht wusste.

ZFF: Wussten Sie zu dem Zeitpunkt bereits, dass Sie Filmemacher werden wollten?

Ivan Engler: Es kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Rückblickend ist das sehr seltsam, denn ich habe damals schon alle möglichen kreativen Dinge gemacht. Ich habe am Computer Spiele programmiert, fotografiert und mit Freunden auf einem Revox-Spulentonband Hörspiele aufgenommen. Im Grunde habe ich damals schon, ohne es zu merken, Regie geführt. Dennoch dachte ich nach Abschluss der Schule keinen Moment an eine künstlerische Ausbildung. Stattdessen studierte ich zuerst Biologie und dann, weil mir das zu weit weg von den Menschen war, Medizin. Mit beidem wurde ich aber nicht glücklich. Ich habe mich an der Uni nie wohl gefühlt, und als ich mein erstes Praktikum in einem Spital absolvierte, haben mich die starren Hierarchien abgestoßen. Auf mich wirkte das alles sehr kalt und überhaupt nicht kreativ.

Ich ging dann ziemlich verzweifelt zu einem Studienberater. Als ich ihm erzählte, wofür ich mich interessiere und was ich in der Freizeit so treibe, hat er mich gefragt, warum ich denn nicht an eine Filmschule ginge. Für mich war das völlig neu. Aus irgendeinem Grund glaubte ich, dass man, um an eine Filmschule zu gehen, zuerst eine Fotografenausbildung machen müsste.

Ich habe mich dann aber dennoch nicht getraut, den nächsten Schritt zu tun. Erst als sich ein guter Freund von mir für die Filmschule interessierte und mich an einen Info-Abend mitnahm, wurde mir klar, dass ich das kann. Wir haben uns dann beide beworben – ich wurde angenommen, er leider nicht.

ZFF: Sie haben dann in Zürich, an der heutigen Hochschule der Künste, mit einer Ausbildung begonnen.

Ivan Engler: Genau. Und zum ersten Mal in meinem jungen Erwachsenenleben hatte ich das Gefühl, am richtigen Ort zu sein. Die Uni habe ich gehasst, ich musste mich jeden Morgen zwingen hinzugehen. Seltsamerweise dachte ich, das müsse so sein. An der Filmschule bin ich dagegen richtig aufgeblüht – auch als Mensch.

ZFF: Das Schweizer Kino ist stark durch den sozial engagierten Autorenfilm geprägt; wie sind Sie da mit Ihrer Vorliebe für Genrekino angekommen?

Ivan Engler: Schlecht. Ich hatte immer wieder Zusammenstöße mit der Schulleitung. Mittlerweile hat sich da vieles verändert, aber damals herrschte auf Seiten der Dozierenden völliges Unverständnis dafür, dass sich ein junger Mensch für Dinge wie SF interessieren kann. Mir wurde immer wieder gesagt, ich solle doch mal was Richtiges machen, etwas mit Emotionen und gesellschaftlicher Relevanz. Eigentlich würde SF das ja sehr wohl bieten. Ich interessierte mich aber nicht für Sozialdramen, sondern für Genrefilme mit Visual Effects, Raumschiffen und großen Explosionen. Das war schlicht nicht vorgesehen.

Die Konflikte ergaben sich aber nicht nur aus den Stoffen, die mich interessierten, sondern auch durch meine ungebremste Begeisterung. Ich wollte einfach alles ausprobieren und kannte keine Grenzen. So habe ich einmal des Nachts eine Bolex-Kamera der Schule, die für Einzelbild-Trickaufnahmen eingesetzt wurde, umgebaut. Es gab da Schwierigkeiten mit dem Riemenmotor, und deshalb habe ich die Kamera komplett auseinandergenommen. Dummerweise kam dann um sechs Uhr früh der Materialwart und sah mich und die in Einzelteile zerlegte Kamera. Trotz all dieser Reibereien habe ich diese Zeit aber unglaublich genossen.

ZFF: Ihr Abschlussfilm NOMINA DOMINI (CH 2000) war ebenfalls im Bereich der Phantastik angesiedelt.1

Ivan Engler: Das Drehbuch ist deutlich an Arthur C. Clarkes klassische Kurzgeschichte »The Nine Billion Names of God« (1953) angelehnt. Bei Clarke geht es um zwei Computertechniker, die in einem tibetischen Kloster einen Computer installieren müssen, der alle neun Milliarden Permutationen des Namen Gottes erzeugen soll. Die Mönche glauben, dass das Universum zu seinem Ende kommt, wenn alle Namen Gottes ausgeschrieben wurden. Die Computerspezialisten halten das natürlich für Unsinn, doch als sie das Kloster verlassen, sehen sie, wie am Himmel ein Stern nach dem anderen erlischt. Ich fand das eine unglaublich starke Idee und habe sie für meinen Film quasi umgedreht. Bei mir gibt es diese Bruderschaft, die das Tor zur Hölle bewacht; damit dieses geschlossen bleibt, müssen sie fortlaufend die verschiedenen Varianten des Namen Gottes beten. In den 1960er-Jahren haben die Mönche diese Aufgabe an einen Computer delegiert; dieses mittlerweile antike Gerät hat nun aber Probleme wegen des Millennium-Bugs – der Film ist ja im Jahr 2000 erschienen. Zudem will einer der Mönche die Situation ausnutzen und geht deshalb einen Pakt mit dem Teufel ein.

ZFF: Wie kam dieser Plot in der Schule an?

Ivan Engler: Ich musste mir schlimme Vorwürfe anhören: Vor allem, weil der böse Mönch den Fötus des Antichrists in eine Jungfrau einpflanzen will (Abb. 2.); dafür habe ich viel verbale Prügel bezogen: Was mir einfalle, eine Vergewaltigung zu zeigen, warum im Film nur Männer agieren, und so weiter. Klar sind die Rollenbilder aus heutiger Sicht teilweise problematisch, aber was damals niemand verstanden hat, war, dass dies alles etablierte Genre-Elemente waren, und es mir überhaupt nicht darum ging, Gewalt zu verherrlichen. Die Gewalt ist Teil des Horrors.

Abb. 2
Abb. 2

Der Sohn des Antichrists in NOMINA DOMINI

ZFF: NOMINA DOMINI hat damals auch für Furore gesorgt, weil Sie den Film mit aufwendigen Kulissen und Spezialeffekten in Cinemascope auf 35mm gedreht haben. Sie habe damit lauter Dinge gemacht, die für einen Abschlussfilm unerhört waren. Wollten Sie damit auch provozieren?

Ivan Engler: Darum ging es mir nie. Ich hatte einfach keinen Respekt. Mir wollte schlicht nicht einleuchten, warum man einen Abschlussfilm nicht in Cinemascope drehen sollte. Ständig wurde mir gesagt, dass ich dies nicht könne, dass jenes nicht ginge – warum denn nicht? James Cameron hat THE TERMINATOR (US 1984) nicht in 4:3 auf 16mm gedreht, warum sollte ich das denn tun? Ich stellte mich auf den Standpunkt, dass ich tun kann, was ich will, solange ich das Geld auftreiben kann. Das ist mir mit der Unterstützung von Stiftungen auch gelungen. Die Schulleitung war aber nicht einverstanden und hat mir verboten, für die Herstellung meines Diplomfilms einen bestimmten Maximalbetrag zu überschreiten. Ich habe dann mit zwei Budgets gearbeitet; einem offiziellen, das den Vorgaben der Schule entsprach, und einem geheimen, in dem die tatsächlichen Kosten aufgeführt wurden.

Das alles hat zu einem Riesenkrach geführt, und schließlich wollte man mir sogar das Abschlussdiplom verweigern. Über das Drehbuch lässt sich diskutieren, aber technisch war der Film einwandfrei. Dennoch wollte man mich durchfallen lassen. Mein Glück war, dass ich NOMINA DOMINI zu dem Zeitpunkt bereits schon bei Filmfestivals eingereicht hatte – ebenfalls entgegen der Vorgaben der Schule –, und dass die Sektion Pardi di domani des Filmfestivals Locarno sowie das New York Film Festival ihn umgehend annahmen. In der Folge lief er dann auch recht erfolgreich an zahlreichen anderen Festivals auf der ganzen Welt. Die Schule kam so unter Druck und musste mir – so sehe ich das zumindest – schließlich zähneknirschend den Abschluss gewähren.

ZFF: Danach ging es sieben Jahre, bis mit CARGO Ihr erster Langspielfilm ins Kino kam. Machten Sie eine kreative Pause?

Ivan Engler: Überhaupt nicht. Mitte der 1990er-Jahre ging in Zürich der Techno-Party-Boom richtig los, und ich begann, parallel zur Filmschule Visuals für Partys zu machen. Das war ein sehr einträgliches Geschäft. Nachher drehte ich auch viele Corporate- und Werbefilme. Ich habe also immer gearbeitet. Dass es so lange ging, lag nur daran, dass die Produktion von CARGO eine sehr mühsame Sache war.

Nachdem NOMINA DOMINI am Filmfestival von Locarno gezeigt wurde, kam der Produzent Marcel Wolfisberg auf mich zu. Er war von meinem Film begeistert und meinte, er wolle unbedingt etwas mir machen. Wir begannen dann mit dem Entwickeln des Drehbuchs und der Finanzierung. Beides war schwierig. Ich hatte trotz Filmschule nur wenig Ahnung von der Dramaturgie eines Langfilms; das war damals nicht Teil der Ausbildung. Wir schrieben ausschließlich für kurze Formate.

Noch schwieriger war allerdings die Finanzierung. Wohl auch wegen meiner Erfahrung in der Filmschule gingen wir lange davon aus, dass wir mit einem SF-Stoff bei den öffentlichen Förderstellen ohnehin keine Chance hätten. Entsprechend versuchten wir, mit privaten Geldgebern das Budget zusammenzubringen, was sich aber als Holzweg erwies. Als das alles nicht funktionierte, haben wir in einer Last-Minute-Aktion dann doch Gesuche bei den beiden wichtigsten Förderstellen in der Schweiz, dem Bundesamt für Kultur und der Zürcher Filmstiftung, eingereicht, und zu unserer großen Überraschung erhielten wir von beiden umgehend Zusagen.

ZFF: Also keine Vorbehalte gegenüber phantastischen Stoffen?

Ivan Engler: Nicht im Geringsten. Ich hatte im Gegenteil den Eindruck, dass man an beiden Stellen Freude hatte, dass jemand mal etwas anderes versuchte. Wir hatten zudem wohl den Vorteil, dass wir zu dem Zeitpunkt schon sehr viel Entwicklungsarbeit geleistet hatten. Es gab bereits ordnerweise Production-Design-Bilder, fertig ausgearbeitete Storyboards, Baupläne und Materialstudien; selbst ein Teil des Sets war schon gebaut. Damit konnten wir glaubhaft machen, dass das Projekt durchdacht und auch wirklich machbar war.

ZFF: Der eigentliche Dreh war dann aber sehr anstrengend?

Ivan Engler: Es war mörderisch. Wir haben in einer alten Industriehalle ein komplettes Studio eingerichtet. Wir mussten also nicht »bloß« einen Film drehen, sondern ein Studio von Grund auf aufbauen und managen. Das war ungeheuer komplex. Ich hatte zu dem Zeitpunkt zwar noch keinen Langfilm gedreht, hatte aber dennoch Erfahrung als Regisseur, und in unserer Crew waren echte Top-Leute dabei. Aber einen derart aufwendigen Film mit so vielen verschiedenen Sets, Kulissen, Visual Effects und einer so komplizierten Logistik hatte noch niemand von uns gemacht. Wir waren im Grunde alles Neulinge und gingen mit einer gehörigen Portion Naivität an dieses Riesending heran.

ZFF: War diese Naivität auch ein Vorteil?

Ivan Engler: Davon bin ich überzeugt. Ich merke an mir selber, wie ich diese Naivität über die Jahre hinweg abgelegt habe. Ich bin weniger leichtsinnig und überlege mir genauer, was gewisse Entscheide für mich bedeuten, auch gesundheitlich. Am Ende von CARGO war ich völlig fertig, ich bin ohne Übertreibung fast drauf gegangen. Es gab so viel zu tun, ich hatte Verantwortung für zu viele Departments und war für viele Dinge zuständig, um die sich ein Regisseur normalerweise nicht kümmern muss. Zum Beispiel all diese Computerdisplays, die man in einem Raumschiff eben erwartet: Es war von Anfang an klar, dass wir nicht die Mittel haben, um diese in der Postproduktion nachträglich hinzuzufügen. Deshalb musste jeder Bildschirm bereits beim Dreh das anzeigen, was später im fertigen Film zu sehen ist. Ich habe manchmal bis um sechs Uhr früh an den Animationen gebastelt, damit sie für den jeweiligen Drehtag bereit waren. Entsprechend groggy bin ich dann zum Dreh erschienen.

ZFF: Kann man unter diesen Umständen überhaupt noch Regie führen?

Ivan Engler: Irgendwann musste ich einsehen, dass ich das nicht schaffe. Deshalb holte ich Ralph Etter als Co-Regisseur an Bord. Für mich war das sehr traurig; CARGO war mein Baby, an dem ich Jahre gearbeitet hatte, und nun musste ich es teilen. Aber es war der richtige Entscheid. Wenn ich mir keine Hilfe geholt hätte, wäre wahrscheinlich alles kollabiert.

Abb. 3
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CARGO

ZFF: Wenn Sie heute auf CARGO zurückblicken – war es angesichts der riesigen Belastung der richtige Entscheid, den Film so zu machen?

Ivan Engler: Es mag pathetisch klingen, aber für mich fühlt es sich an, als sei ich durch den Film zum Mann geworden. Vorher war ich ein Filmstudent, danach Regisseur, Produzent und noch vieles mehr. Vor allem aber: Nach dieser Erfahrung kann mich beruflich nichts mehr erschüttern. I‘ve seen it all. Und nicht zuletzt: Der Film brachte mich nach Hollywood.

ZFF: Wie ging das vor sich?

Ivan Engler: Ralph Baetschmann, unser Kameramann, hatte ohne mein Wissen sein Showreel online gestellt, das Clips aus dem Film enthielt. Dieses wurde von einem Filmblog entdeckt, den damals viele Produzenten eifrig lasen. So kam es, dass ich plötzlich Anrufe aus Hollywood erhielt. Es war surreal. Ich war noch mitten im Schnitt von CARGO, da sah ich in einer Pause zehn Nachrichten auf meiner Voicemail. Ich dachte schon, dass jemand gestorben sei; stattdessen waren es lauter Nachrichten wie »This is Steve from Fox, can you call me back, please« und »This is Stuart from CAA, do you already have an agent?«

ZFF: Ein Traum wurde wahr.

Ivan Engler: Zu Beginn war es wirklich wie im Märchen oder eben einem Hollywood-Film. Limousine am Flughafen, schickes Hotel, Spezial-Screening im studioeigenen Kino für ausgewählte Produzenten. Was den Produzenten in Hollywood am meisten Eindruck machte, war die Tatsache, dass CARGO nur zwei Millionen gekostet hat. Die Filmindustrie ist ein Geschäft, und wenn jemand mit so wenig Geld so viel auf die Leinwand bringt, dann weckt das sofort Interesse.

Für mich lief es super, und ich war überzeugt, es wirklich geschafft zu haben. Ich erhielt vier bis fünf Drehbücher am Tag, die ich anschauen sollte, es gab Meeting um Meeting, aber irgendwie ist nie etwas draus geworden. Schließlich wurden die Meetings seltener, und mein Agent rief nicht mehr an, um sich nach meinem Wohlbefinden zu erkundigen, sondern antwortete nur noch ein paar Tage verzögert per E-Mail.

Rückblickend war ich wohl auch hier etwas naiv. Ich erlebte überall diese typisch amerikanische Begeisterung, alles war »great« und »awesome«, und es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass freundliche Worte alleine nicht reichen, um einen Film zu realisieren. Damit will ich gar nicht sagen, dass man mir gegenüber unehrlich war, aber es muss einfach sehr viel zusammenkommen, damit so ein Riesenprojekt abheben kann. Ich war mehrfach ganz nahe dran, aber am Ende hat mir das letzte Quäntchen Glück gefehlt.

ZFF: Darin unterscheidet sich Hollywood nicht von der europäischen Filmindustrie.

Ivan Engler: Zumindest in der Schweiz vermisse ich manchmal etwas den Biss. Es geht uns hier eben sehr gut. Man reicht zweimal im Jahr sein Gesuch für Förderung ein und macht nebenbei etwas Corporate oder Werbung. Die Menschen, die ich in Los Angeles kennengelernt habe, sind alle viel hungriger. Am Abend nach der Arbeit geht man noch in einen Weiterbildungskurs. Und am nächsten Morgen steht man um fünf Uhr auf, um vor der Arbeit noch ins Gym zu gehen. Alle sehen ihren jetzigen Zustand nur als Sprungbrett zu etwas Größerem. Das hat mich sehr beeindruckt, und genau so will ich selbst auch sein: Immer weiterkommen, immer besser werden.

ZFF: Wäre es für Sie denn kein Verlust, wenn Sie Teil einer Großproduktion wären und nicht mehr alles kontrollieren könnten wie in CARGO?

Ivan Engler: Ganz im Gegenteil. Ich habe bei CARGO nur darum so viel selber gemacht, weil es nicht anders ging. Mein Traum wäre, alle diese Aufgaben an kompetente Leute abzugeben und mich ganz auf die Regie konzentrieren zu können. Diesbezüglich würde ich mich in einer Hollywoodproduktion sehr wohl fühlen.

ZFF: Mittlerweile arbeiten Sie an einem neuen Langspielfilm.

Ivan Engler: Neben all den Drehbüchern, die mir vorgelegt wurden, habe ich in den USA mit der Arbeit an zwei eigenen Stoffen begonnen; einen davon, UTOPYA, werde ich nun zusammen mit meinem Produzenten Noah Bohnert in der Schweiz realisieren. Es geht darin um eine Gruppe von jungen Politaktivisten, die eine Bank besetzen. Im Keller des Gebäudes entdecken Sie einen hochinfektiösen Organismus in der Form eines schwarzen Monolithen, der aus Blut Geld macht. Einige Gruppenmitglieder stecken sich an und werden zur Erweiterung seines Nervensystems. Als sie begreifen, dass sie den Organismus töten müssen, sind aber alle schon infiziert. Da sie mit ihm verbunden sind, würden sie ebenfalls sterben, wenn sie ihn vernichten. Reine Kapitalismuskritik in der Form eines Horrorfilms mit SF-Elementen.

Ich habe diesen Stoff ursprünglich entwickelt, weil ich etwas Kleines machen wollte, das sich leichter finanzieren lässt. Allerdings hat man die Idee in den USA nicht verstanden – politischer Aktivismus hat dort andere Wurzeln als in Europa. Ich musste den Produzenten beispielsweise erst einmal erklären, was Hausbesetzer sind. Oder ich wurde gefragt, warum die Protagonisten denn in eine Bank einbrechen, wenn sie gar nicht am Geld interessiert sind.

Abb. 4
Abb. 4

Ein Poster-Entwurf für UTOPYA

ZFF: Sie haben vorhin erzählt, wie Clarkes Kurzgeschichte NOMINA DOMINI inspiriert hat. Auch CARGO nimmt Motive aus anderen Filmen auf. Ist es in ihren Augen typisch für ein Genre wie die SF, dass man bestehende Ideen übernimmt und mit ihnen spielt.

Ivan Engler: Ich denke, dass das für jedes Genre gilt. Wenn ein Film oder ein Roman einem Genre angehört, dann bedeutet das auch, dass das Publikum gewisse Elemente erwartet. Zugleich sollte aber auch immer etwas Neues dazukommen. NOMINA DOMINI war alles andere als ein Clarke-Plagiat. Ich habe vielmehr auf der Basis einer bestehenden Idee etwas Eigenes entwickelt. Und wenn von einem geheimnisvollen Monolith die Rede ist, denkt wahrscheinlich jeder, der sich ein bisschen im SF-Kino auskennt, sofort an Stanley Kubricks 2001: A SPACE ODYSSEY (GB/US 1968). Aber UTOPYA wird keine 2001-Kopie, sondern übernimmt lediglich dessen Idee eines geheimnisvollen Blocks, der etwas mit den Figuren macht. Der Kapitalismus als Blackbox, deren innere Mechanik wir nie ganz verstehen werden.

Dass man sich vom Bestehenden inspirieren lässt, scheint mir ganz normal. In meinen Augen kann Kreativität gar nicht anders funktionieren. Wir alle werden von klein auf durch unsere Umwelt geprägt. Was ich dagegen nicht mehr sehen kann, ist der aktuelle Trends zu Remakes von Remakes von Remakes. Hier wird tatsachlich immer wieder das Gleiche aufgekocht.

ZFF: Sie haben erwähnt, dass der Monolith in UTOPYA für den Kapitalismus steht. Der Film wird also eine klare politische Schlagseite haben. Ist das eine neue Entwicklung in Ihrem Schaffen?

Ivan Engler: Bei NOMINA DOMINI wäre es wohl schwierig, eine politische Botschaft herauszulesen. Dessen Thema ist eher eine Kritik daran, wie manche Gläubige ihre Religion praktizieren. Aber CARGO spielt ja an Bord eines Raumschiffs, das Menschen im Kryoschlaf von der verwüsteten Erde in ein vermeintliches Paradies bringt. Ein Paradies, das sich dann als Propagandalüge des Systems entpuppt. Darin sehe ich durchaus eine politische Message. Es stimmt aber, dass mich die Frage, was ich mit einem Film aussage, je länger, je mehr beschäftigt. Ich denke, dass derzeit politisch vieles in die falsche Richtung läuft, und dazu will ich mit den Mitteln, die mir zur Verfügung stehen, auch etwas sagen.

ZFF: Hat das Bemühen Ihrer Lehrer*innen schließlich doch noch Früchte getragen?

Ivan Engler: Vielleicht. Darin sehe ich auch den großen Wert der phantastischen Genres: Man kann einen krassen Horrorfilm machen, der das Publikum so richtig durchschüttelt, und zugleich etwas Profundes über die Gegenwart aussagen.

ZFF: Bisher waren alle Ihre Stoffe im Bereich der Phantastik angesiedelt. Wäre es für Sie auch denkbar, ein realistisches Sozialdrama zu drehen?

Ivan Engler: UTOPYA wird davon gar nicht so weit weg sein. Der Monolith ist natürlich ein übernatürliches Element, aber ansonsten wird das ein sehr zeitgenössischer Film.

Allerdings muss ich zu meinem Bedauern feststellen, dass meine SF-Begeisterung jedes Jahr ein bisschen mehr nachlässt. Es gibt aktuell kaum SF-Filme, die mich überzeugen. Mittlerweile bin ich fast mehr an Filmen interessiert, bei denen es ausschließlich um zwischenmenschliche Konflikte geht. Filme, in denen Visual Effects keine dominante Rolle spielen, weil sie von einer authentischen, »echten« Erfahrung, die Kino eben auch erzeugen kann, nur ablenken würden. Einer meiner absoluten Lieblingsfilme ist THE ICE STORM (US 1997) von Ang Lee, ein Gesellschaftsportrait der USA zu Beginn der 1970er-Jahre. Im Mittelpunkt steht eine Familie, die versucht, mit den gesellschaftlichen Umwälzungen klar zu kommen.

ZFF: Das scheint auf den ersten Blick sehr weit weg von Ihren eigenen Filmen.

Ivan Engler: Aber nur auf den ersten Blick. Ich habe mir lange überlegt, was das Grundthema meiner Filme ist, und ich glaube, es ist Isolation. Um nichts anderes geht es auch in THE ICE STORM: Die Jugendlichen, die in ihrem Coming-of-Age-Ding gefangen sind, die Erwachsenen, die trotz Partnertausch-Party völlig allein sind und sich mit niemandem austauschen können. Zugleich ist der Film aber auch phantastisch: Es gibt in der Mitte des Films diese Wahnsinnsszene mit dem titelgebenden Eissturm. Die ganze Straße ist zugefroren, es herrscht Eiseskälte wie im All. Ein jugendlicher Protagonist spaziert ganz allein in die Nacht hinaus zu einem zugefrorenen Pool, wo er auf das Sprungbrett klettert. Auf diesem springt er auf und ab und wird für einen Moment schwerelos (Abb. 5a–b). Schlagartig wurde mir klar: Der Junge ist ein Astronaut im All! Komplett allein in der Dunkelheit, schwerelos, um ihn herum nur die unendliche Kälte. Ich fühlte mich zutiefst verbunden, denn das sind genau die Zustände, die ich in meinen Werken ebenfalls suche. THE ICE STORM machte mir klar, dass die Themen universell sind und Genres letztlich nur austauschbare Gefäße.

Abb. 5a–b
Abb. 5a–b

Elijah Wood in THE ICE STORM

Notes

  1. NOMINA DOMINI ist online auf www.nominadomini.com verfügbar. [^]

Autor

PD Dr. Simon Spiegel ist Scientific Research Manager am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich im Forschungsprojekt ERC Advanced Grant FilmColors und Privatdozent an der Universität Bayreuth. Er ist Chefredakteur der Zeitschrift für Fantastikforschung und schreibt regelmäßig für diverse Publikationen über Film und verwandte Themen. 2019 ist seine Habilitationsschrift Bilder einer besseren Welt. Die Utopie im nichtfiktionalen Film bei Schüren erschienen. Weitere ausgewählte Publikationen: Utopia and Reality. Documentary, Activism and Imagined Worlds (Mitherausgeber, University of Wales Press 2020); Theoretisch phantastisch. Eine Einführung in Tzvetan Todorovs Theorie der phantastischen Literatur (p.machinery 2010); Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films (Schüren 2007).

Konkurrierende Interessen

Der Autor hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.