Die meisten Leserinnen und Leser der ZFF dürften beim Namen Yanis Varoufakis wohl nicht an phantastische Literatur oder Filme denken, sondern an den streitbaren Politiker, der es während der Eurokrise zu einiger Prominenz brachte. Zu diesem Zeitpunkt war Varoufakis allerdings noch nicht lange im tagespolitischen Geschäft, denn von Haus aus ist er eigentlich Wirtschaftsmathematiker. In Athen geboren, studierte er in Essex und Birmingham, promovierte an der Universität von Essex und lehrte unter anderem an den Universitäten von Cambridge, East Anglia, Glasgow und Sydney. 2000 kehrte er in seine Geburtsstadt Athen zurück, wo er einen Lehrstuhl für Ökonomie an der Nationalen und Kapodistrias-Universität bekleidete.

Einer breiten Öffentlichkeit wurde Varoufakis 2015 bekannt. Nachdem er sich bereits zuvor in Zeitungsartikeln und auf seinem Blog zur Eurokrise geäußert hatte, kandidierte er 2014 auf der Liste der linken SYRIZA-Partei und wurde Anfang 2015 als Finanzminister im Kabinett von Alexis Tsipras vereidigt. Obwohl er schon im Juli des gleichen Jahres wieder von seinem Amt zurücktrat, avancierte er in diesem halben Jahr zum Medienstar und wurde vorübergehend zum Gesicht der griechischen Krise, wozu sicher auch sein unorthodoxes Auftreten beitrug – kaum ein Zeitungsartikel unterließ es damals, Varoufakis’ Lederjacke oder sein Motorrad zu erwähnen.

Zwar ist Varoufakis medial derzeit deutlich weniger präsent als während seiner Zeit als Finanzminister, seine politische Aktivität hat aber nicht nachgelassen. 2018 gründete er die Partei MeRA 25, die mit der paneuropäische Bewegung Demokratie in Europa 2025/Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM25) verbunden ist. 2019 wurde er gemeinsam mit acht weiteren MeRA-25-Kandidat_innen erneut ins griechische Parlament gewählt. Seine Kandidatur als Spitzenkandidat von DiEM25 für das Europa-Parlament, die im gleichen Jahr erfolgte, blieb dagegen erfolglos.

Vergangenes Jahr erschien schließlich der Roman Another Now. Dispatches from an Alternative Present, in dem Varoufakis ausgehend von der Finanzkrise 2008 eine alternative politische Ordnung entwirft. Obwohl er im Interview mit der ZFF der Genre-Bezeichnung Utopie kritisch gegenübersteht, steht sein Buch unverkennbar in der utopischen Tradition. Ob man die (positive) Utopie nun als »non-existent society described in considerable detail and normally located in time and space that the author intended a contemporaneous reader to view as considerably better than the society in which that reader lived« (9) definiert, wie es Lyman Tower Sargent in einem mittlerweile klassischen Aufsatz tut, oder ob man das Modell übernimmt, das Thomas Schölderle in Utopia und Utopie entwirft, und Aspekte wie die kritische Zeitdiagnose, die normative Stoßrichtung oder die Rationalität des entworfenen Gemeinwesens betont (480), Another Now entspricht in jedem Fall dem, was die beiden Autoren – und mit ihnen zahlreiche weitere – beschreiben.

Another Now zeigt eine Gesellschaft, in der jeder Mensch mit seiner Geburt eine Art Grundeinkommen erhält, eine Welt, in der es weder privat geführte Banken noch Börsen gibt und in der Firmen demokratisch organisiert sind. Wer neu in ein Unternehmen eintritt – egal, ob als Putzkraft oder als CEO –, wird Teilhaber_in und hat damit gleich viel zu sagen wie alle anderen. Allerdings plädiert Varoufakis, der sich selber als unorthodoxen Marxisten oder auch als libertären Sozialisten bezeichnet, weder für völlige Gleichmacherei noch für ein Ausschalten des Marktes. So existieren im Other Now seines Romans nach wie vor Wettbewerb und Lohnunterschiede, die Saläre werden aber nicht von der Führungsriege festgelegt, sondern in einem demokratischen Prozess, an dem alle Teilhaber_innen gleichberechtigt beteiligt sind. Somit verdienen nur jene mehr, die es in den Augen ihrer Kolleginnen und Kollegen auch tatsächlich verdienen.

All dies und noch zahlreiche andere Dinge beschreibt Varoufakis ausführlich. Er tut dies allerdings nicht in Form eines Traktats, sondern bettet seinen Gesellschaftsentwurf in ein SF-Szenario ein. Ausgangslage ist eine Erfindung des Computer-Genies Costa. Diesem gelingt es, Kontakt mit einer Parallelwelt, eben dem Other Now, aufzunehmen. Wie sich herausstellt, ist diese alternative Realität 2008 von unserer Welt abgezweigt. Sie ist damit noch nahe genug an unserer Gegenwart, um direkte Vergleiche zu ermöglichen. Costa ruft zwei Freundinnen, die libertäre Ökonomin Eva und die radikal-linke Feministin Iris, herbei, und gemeinsam kommen die drei mit ihren Gegenstücken ins Gespräch. In dem SF-Setup, das Varoufakis entwirft, ist Kommunikation über die Welten hinweg nur mit einem Individuum möglich, das die gleiche Erbinformation besitzt. Da die beiden Welten noch nicht allzu lange getrennte Wege gehen, existiert im Other Now zu jedem Costa ein Kosti respektive zu jeder Eva eine Eve. In der Folge tauschen sich die drei Figuren mit ihren Alter Egos aus und diskutieren untereinander, was sie erfahren haben.

Indem er seine Gesellschaftsskizze in einen erzählerischen Rahmen kleidet, folgt Varoufakis dem etablierten Genremuster. Bereits Thomas Morus bediente sich in seiner Utopia (1516), dem Urtext des Genres, einer Rahmenhandlung. Untypisch ist Another Now insofern, als ein Großteil der Utopien seit Ende des 19. Jahrhunderts in der Zukunft angesiedelt sind. Varoufakis dagegen kehrt im Grunde wieder zum Morrus’schen Modell zurück und entwirft statt einer Zeit- eine Raumutopie. Ähnlich wie Morus’ Insel Utopia existiert das Other Now, wie bereits sein Name deutlich macht, im Jetzt, was wohl auch signalisieren soll, dass die präsentierte Gesellschaft nicht notwendigerweise unerreichbar sein muss.

Im klassischen Utopie-Modell, das beginnend mit Utopia bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts dominant bleibt, reist meist ein Außenstehender zum utopischen Ort. Diesem Reisenden, der als Stellvertreter des Publikums fungiert, erklärt ein utopischer Reiseführer dann in langen Monologen, denen je nach Text mehr oder weniger engagiert widersprochen wird, die herrschende Ordnung. Morus, als Humanist ein intimer Kenner der antiken Literatur, orientiert sich hier an der Tradition des platonischen Dialogs. Varoufakis übernimmt diese Form und lässt seine drei Figuren, die deutlich als Vertreter unterschiedlicher politischer Positionen kenntlich gemacht sind, intensiv über das neu Erfahrene diskutieren. Zwar steht außer Frage, dass das Other Now im Vergleich zu unserer Gegenwart Vorzüge aufweist, dennoch nimmt das Buch bis zum Schluss keinen eindeutigen Standpunkt ein und lässt offen, welche der drei Figuren recht behält. Auch das hat Another Now übrigens mit der Utopia gemeinsam, deren Ich-Erzähler, eine Figur, die den Namen Thomas Morus trägt, ambivalent bleibt.

Dass Varoufakis ein Faible für fantastische Genres hat, zeigte sich bereits in dem 2017 erschienenen Talking to My Daughter About the Economy, seinem Versuch, die Defizite des kapitalistischen Systems auf einfache Weise zu erklären. In dem Buch führt er nicht nur Filme wie BLADE RUNNER (US 1982, Regie: Ridley Scott), THE TERMINATOR (US 1984, Regie: James Cameron) und THE MATRIX (US 1999, Regie: Andy Wachowski und Larry Wachowski) sowie literarische Klassiker wie Mary Shelleys Frankenstein (1832) oder Christopher Marlowes Doctor Faustus (1592) an, um seine Ausführungen prägnant zu illustrieren, im Rahmen eines Gedankenexperiments erfindet er zudem den sogenannten Heuristic ALgorithmic Pleasure & Experiential VAlue Maximizer, kurz HALPEVAM. Dieser HALPEVAM ist the »opposite of the horrible, misanthropic machines in THE MATRIX« (185), also eine perfekte Weltensimulation, die aber anders als in THE MATRIX nicht der Unterjochung der Menschheit dient, sondern seinen Benutzerinnen und Benutzern nie endendes Glück beschert. Diese Idee scheint Varoufakis nicht losgelassen zu haben, denn in Another Now ist die Maschine, mittels der Costa mit der Parallelwelt in Verbindung tritt, just der HALPEVAM.

ZFF: Yanis Varoufakis, was verbindet Sie mit SF?

Yanis Varoufakis: Ich würde mich selbst nicht als SF-Experten oder -Fan bezeichnen, aber ich war immer an dem Genre interessiert. Für mich war SF nie etwas von der übrigen Literatur Abgesondertes – oder vom allgemeinen Denken überhaupt. Platos Politeia beispielsweise, in der er den idealen Staat beschreibt, ist in meinen Augen ein frühes Beispiel für SF.

Ich bin wie alle Angehörigen meiner Generation mit STAR TREK aufgewachsen. Ich kann mich auch noch lebhaft daran erinnern, als der erste STAR-WARS-Film (US 1977, Regie: George Lucas) ins Kino kam. Ich habe ihn gehasst! Für mich war das alles viel zu plump und zu krude. Einfach Cowboys und Indianer im Weltall – ganz im Gegensatz zu STAR TREK.

Abb. 1
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Yanis Varoufakis

ZFF: Lesen und schauen Sie noch heute SF?

Yanis Varoufakis: Leider ist fast alles, was ich heute lese, zweckgebunden. In den vergangenen Jahren wurde mir mein Leben regelrecht weggenommen. Ich lebe mit einer konstanten Deadline; alles, was ich tue, wird von Fristen und Abgabeterminen diktiert. Aber in meinem früheren Leben war ich ein sehr fleißiger Kinogänger. Ich ging nicht selten fünfmal in der Woche ins Kino, manchmal sah ich zwei Filme an einem Tag. Heute komme ich kaum noch dazu, Filme zu schauen. Ein Umstand, unter dem ich sehr leide.

ZFF: Gibt es Genres, die Sie bevorzugen?

Yanis Varoufakis: Ich habe mir fast alles angeschaut – vom obskursten Kurosawa-Film bis zu DUNE (US 1984, Regie: David Lynch) oder STAR WARS. Tatsächlich habe ich mir alle STAR-WARS-Filme angeschaut – ich musste ja begründen können, warum ich die Filme so hasse.

Beim Lesen ist es ähnlich. Ich habe mich nie nur auf SF konzentriert. Sie war für mich einfach ein Teil all der Genres und Milieus, die mich beeinflusst haben. Was mich schon sehr früh fasziniert hat, war der philosophische Aspekt des Genres, etwa die Psychohistorie in Isaac Asimovs Foundation-Zyklus (1942–1993). Später las ich dann dystopische Romane wie Aldous Huxleys Brave New World (1932) oder Nineteen Eighty-Four (1949) von George Orwell. Für mich behandelten diese Bücher hoch relevante politische, philosophische und wirtschaftliche Fragen.

ZFF: Und wie verhält es sich mit Utopien?

Yanis Varoufakis: Ich entstamme einer linken, marxistischen Tradition, und Marx und Engels nehmen im Manifest der Kommunistischen Partei eine sehr klare Haltung gegenüber Utopien ein. Für sie zeigt sich in Utopien ein Denken, dem man frönt, wenn man nicht wirklich daran interessiert ist, die Welt zu verändern. Für einen Menschen mit meinem politischen Hintergrund ist die Bezeichnung »utopischer Denker« somit alles andere als schmeichelhaft. Deshalb bezeichne ich Another Now auch nicht als Utopie. Aber es ist natürlich auch keine Dystopie – ich hasse Dystopien.

ZFF: Trotz dieser Bedenken haben Sie das Buch aber dennoch geschrieben.

Yanis Varoufakis: Another Now hat seinen Ursprung in einer Rezension, die Paschal Donohoe – damals irischer Finanzminister – über mein Buch Talking to My Daughter About the Economy geschrieben hat.1 Obwohl Donohoe politisch mein Gegner ist, war seine Besprechung insgesamt sehr freundlich. Allerdings hatte er einen großen Einwand: Wenn Kapitalismus so schlecht sei, wie könnte dann eine Alternative aussehen? Das ist ein Punkt, den auch meine Frau immer wieder vorgebracht hat. Sie hat mich sogar schon als Heuchler bezeichnet, als jemanden, der sich gerne radikal gibt, sich aber weigert, eine Alternative zu skizzieren. Der Vorwurf ist absolut berechtigt: Ich habe ein Leben lang vermieden, die Frage nach einer Alternative zum Kapitalismus zu beantworten. Donohoes Rezension hat in mir schließlich den Wunsch geweckt, mich dieser Herausforderung zu stellen.

Als ich mit dem Schreiben begann, wurde mir allerdings schnell klar, dass ich einen ganz anderen Ansatz wählen musste als bei Talking to My Daughter. Bei diesem Buch war mein Ziel, die Funktionsweise des Kapitalismus auf einfache – aber nicht auf simplizistische – Weise zu beschreiben. Das fiel mir relativ leicht, da ich auf meinen eigenen Analysen und Erkenntnissen aufbauen konnte; Analysen von etwas, das tatsächlich existiert. Bei meiner Utopie – wenn Sie Another Now so nennen wollen – war das nicht möglich. Ich musste zudem feststellen, dass ich die meiste Zeit mit mir selber uneins war.

ZFF: Die Realität ist zu widersprüchlich.

Yanis Varoufakis: Genau. Es war mir schlicht unmöglich, einen Satz wie »Ich glaube, die Banken müssen so und so organisiert sein, Firmen dagegen auf diese und jene Weise« zu schreiben. Bereits die Vorstellung, einen solchen Text zu verfassen, erschien mir schrecklich langweilig. Vor allem aber bin ich mir bei vielen Dingen nicht sicher, wie sie am besten organisiert sein sollten. Ich habe mehrere Stimmen in meinem Kopf, die mir unterschiedliche Antworten geben, wie man ein bestimmtes Problem lösen soll. Die Strategie, auf die ich mich dann verlegt habe, war, aus diesen Stimmen Figuren zu machen und das Buch mit ihnen zu bevölkern. Und so habe ich auf einmal einen Roman geschrieben – oder wohl eher einen Pseudo-Roman.

Abb. 2
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Another Now

ZFF: Zur eigenen Unsicherheit zu stehen, ist für einen Politiker eher ungewöhnlich. Erwarten wir von einem Politiker nicht, dass er einen klaren Plan hat?

Yanis Varoufakis: Es kommt sehr darauf an, welche Ebene Sie meinen. Wenn es darum geht, wie Politiker öffentlich miteinander sprechen, haben Sie leider recht. Ich bin ja erst seit sechs Jahren Politiker, vorher war ich jahrzehntelang Wissenschaftler. Wenn es etwas gibt, was ich am Beruf des Politikers zutiefst verabscheue, dann ist es die Tatsache, dass man seine Meinung nicht ändern darf. Gute Wissenschaftler_innen lassen sich überzeugen, sie sind jederzeit bereit, ihre Meinung zu ändern. Diejenigen, die dazu nicht imstande sind, sind entweder sehr jung oder Fanatiker. Alle, die sich ihres eigenen intellektuellen Werts sicher sind, lassen sich dagegen gerne eines Besseren belehren. Ich habe das immer wieder erlebt, und es waren stets wunderbare Momente. In der Politik ist so etwas ganz unmöglich.

Nehmen wir zum Beispiel eine Fernsehdiskussion: Selbst, wenn ich mit göttlichen Überzeugungskräften ausgestattet und deshalb in der Lage wäre, meinem Gegenüber klarzumachen, dass ich recht habe und er sich irrt, würde er das nie zugeben. Denn wenn er es täte, wäre er seinen Job los.

Ich bin allerdings davon überzeugt, dass sich die Sache ganz anders verhält, wenn es um die Kommunikation mit potenziellen Wähler_innen geht. Eines meiner erklärten Ziele als Politiker ist es, den Leuten klarzumachen, dass Demokratie ein System für Menschen ist, die nicht glauben, auf alles bereits eine Antwort zu haben. Es ist ein System, bei dem wir alle zusammen Lösungen »crowdsourcen«. Weil niemand in der Tiefe seines Herzens wirklich glaubt, alle Antworten zu kennen.

Man muss den Menschen zwei Dinge klar machen. Da wäre erstens Ambivalenz. Es ist wichtig, dass man zu seinen Selbstzweifeln steht. Wer das nicht tut, ist letztlich ein Fanatiker. Zweitens muss man die Fähigkeit besitzen, offen zu sagen, dass alles nur vorläufig ist. »Ausgehend von den wenigen Dingen, die wir wissen, scheint uns diese Vorgehensweise am erfolgversprechendsten. Also versuchen wir es. Und wenn wir fertig sind, überprüfen wir, was wir gemacht haben, und diskutieren dann weiter.« In meiner Erfahrung reagieren die Menschen sehr positiv auf diese Haltung. Wir haben alle genug von diesen Politikern – es sind meistens Männer –, die so hochtrabend daherkommen und sich gebärden, als seien sie die Hüter aller Weisheit.

ZFF: In Ihrem Buch ist eine gewisse Geek-Mentalität spürbar. Beispielsweise spielen neue Technologien wie die Blockchain eine wichtige Rolle, und zu den Gruppen, die den politischen Wandel vorantreiben, gehören sehr prominent verschiedene Hacker-Kollektive. Sehen Sie sich selbst als Geek?

Yanis Varoufakis: Ich liebe Technologie und bin fasziniert von Geräten wie Computern und Mobiltelefonen. Als Student habe ich auch Kurse in Informatik belegt. Ich lernte, in Sprachen wie C, Fortran oder Pascal zu programmieren, und schrieb meine eigenen Algorithmen. Heute kann ich das freilich nicht mehr, ich habe zu viel vergessen. Trotz meiner Begeisterung für Computer würde ich mich aber nicht als Geek bezeichnen. Ich denke, für einen Geek ist mir das destruktive Potenzial dieser Technologien zu sehr bewusst.

ZFF: Aber technische Neuerungen spielen in Another Now eine wichtige Rolle.

Yanis Varoufakis: In dieser Hinsicht hat mich mein Vater ganz wesentlich beeinflusst; ein Mensch, der übrigens keine Ahnung von SF hatte und sich auch nie dafür interessiert hätte. Mein Vater war Chemiker und der Chef der Qualitätskontrolle in der griechischen Stahlindustrie. Er liebte Metall – er war ein regelrechter Metall-Freak – und lehrte mich schon als kleiner Junge, dass Geschichte von technischen Neuerungen angetrieben wird. Er nahm mich auch in die Fabrik mit; ich kann mich gut daran erinnern, wie ich mit großer Ehrfurcht zusah, wie das flüssige Metall aus dem Hochofen floss.

Mein Vater war zudem sehr an Geschichte interessiert. Er liebte es, mir zu erklären, wie Neuerungen in der Metallverarbeitung den Gang der Geschichte verändert hatten. Die Menschheit machte den Übergang von Kupfer zu Eisen, und mit einem Schlag wurde Geschichte nicht mehr in Jahrtausenden, sondern in Jahrhunderten gemessen. Mit der Industriellen Revolution kam dann der Stahl, und nun war das Jahrzehnt die entscheidende Maßeinheit. Später, mit dem Elektromagnetismus und der Maxwell’schen Gleichung, wurde alles in Jahren gezählt. Ich kann mich erinnern, wie er prophezeite, dass sich die Geschichte im Minutentakt ändern würde, wenn wir erst einmal Computer in unseren Wohnungen und Häusern hätten. Das war in den 1960er-Jahren!

Mein Vater war aber alles andere als ein naiver Techno-Optimist. Er betonte immer, dass die gleichen technischen Verfahren, die den Bau des Parthenon ermöglichten, auch Zivilisationen zerstörten und das Leben unzähliger Menschen ruinierten. Kernenergie hat in der Medizin unglaubliche Dinge möglich gemacht, aber sie hat uns auch Hiroshima gebracht. Gleichzeitig ein Technik-Optimist und technophob zu sein, stellte für mich nie einen Widerspruch dar. Ich bin vielmehr davon überzeugt, dass dies die einzige vernünftige Haltung ist.

ZFF: Sie sind kein Anhänger der sogenannten Silicon-Valley-Ideologie, also der Vorstellung, dass sich politische und soziale Probleme technisch lösen lassen?

Yanis Varoufakis: Ganz und gar nicht. Technik stellt Werkzeuge bereit, diese sind aber nicht in einem Vakuum wirksam. Technik kann Prozesse beschleunigen, aber sie ändert nichts an den Grundlagen. Der Glaube, dass sich politische Probleme alleine mit technischen Neuerungen lösen lassen, ist im besten Fall naiv. In meinem Buch steht die Figur von Costa für diese Haltung. Allerdings verlässt er Silicon Valley schließlich völlig desillusioniert.

ZFF: Sie haben selber schon für eine Silicon-Valley-Firma gearbeitet. Für ein Jahr waren Sie economist in residence bei Valve, der Firma hinter der Gaming-Plattform Steam. Was genau macht ein economist in residence?

Yanis Varoufakis: Den Titel habe ich mir selbst gegeben. Ursprünglich wurde ich als chief economist angeheuert. Aber ich wollte kein »chief« [=Häuptling] sein, ich bin viel lieber Indianer. Also erfand ich eine neue Bezeichnung. Mein Abstecher zu Valve kam sehr unerwartet. Gabe Newell, der Gründer von Valve, las meinen Blog, auf dem ich mich zur Euro-Krise äußerte, und schrieb mir eines Tages eine E-Mail. Darin erklärte er, dass er viele der Phänomene, die ich untersuchte, auch in seinen Games beobachtete. Das hat mich natürlich gereizt.

ZFF: Worin bestehen denn die Parallelen?

Yanis Varoufakis: Die Games von Valve sind riesige Multi-Player-Universen, und in diesen virtuellen Welten sind gewisse Güter knapp. Es gibt Zubehör wie Waffen oder Kleidungsstücke, die man nicht einfach kaufen kann, sondern die man zufällig entdeckt, sogenannte Drops. Ursprünglich gab es kein Konzept hinter diesen Drops, und manche Objekte waren nur deshalb rar, weil die Macher das Design eines bestimmten Hutes oder Schwerts nicht mehr interessant fanden und es aufgaben. Bei Valve beobachtete man aber, dass sich um diese Drops Märkte bildeten. Die User begannen zu handeln – mit echtem Geld. Man traf sich im Spiel und einigte sich auf einen Preis, der dann außerhalb des Spiels überwiesen wurde, zum Beispiel per Paypal. Es konnte als vorkommen, dass eine Spielerin aus Illinois einem Teenager aus Shanghai, den sie nur als Avatar im Spiel kannte, für einen besonders schönen Schild 2’000 Dollar überwies.

Valve hatte ohne jede Absicht oder Plan ein Wirtschaftssystem erschaffen. Ich wurde engagiert, um diese Wirtschaft zu regulieren. Dabei ging es einerseits darum, die User zu schützen; vor Blasenbildung, aber ebenso vor Betrug. Natürlich wollte Valve auch von dieser Wirtschaft profitieren und den Gewinn nicht anderen Firmen überlassen.

ZFF: Wie ist es für einen Ökonomen, wenn er ausnahmsweise mal völlige Kontrolle über ein Wirtschaftssystem hat?

Yanis Varoufakis: Es war einfach großartig! Man sagt ja, dass Gott keine Statistiken braucht, weil sie ohnehin alles weiß. Genau so war es auch bei mir. Bis dahin musste ich Labor-Experimente durchführen, was eine mühsame Angelegenheit ist. Man muss Anträge für die Finanzierung stellen, bei der Ethikkommission vorstellig werden und die ganze Sache dann aufbauen. Von der Idee bis zur Durchführung des Experiments dauert es gut ein Jahr. Bei Valve benötigen meine Experimente lediglich zehn Sekunden. Dabei standen mir 100 Millionen Spielerinnen und Spieler zu Verfügung.

ZFF: Sind Sie selber ein Gamer?

Yanis Varoufakis: Ich muss gestehen, dass ich mit Games nie viel anfangen konnte. Als junger Mann habe ich Games wie Space Invaders gespielt, also Dinge, die heute restlos antiquiert und gänzlich irrelevant sind. Moderne Games wie beispielsweise Minecraft haben mich nie angesprochen. Daran hat auch meine Zeit bei Valve nichts geändert.

ZFF: Eine Technologie, die in Ihrem Buch eine wichtige Rolle spielt, ist die Blockchain. Kryptowährungen wie Bitcoin scheinen sich aber vor allem zum Erzeugen von Blasen und dem Verschwenden von Energie zu eignen.

Yanis Varoufakis: Man muss zwischen der Blockchain als grundlegender Technologie und Kryptowährungen wie Bitcoin unterscheiden, die sich dieser Technologie bedienen. Mich hat Bitcoin schon sehr früh fasziniert, ich habe damals sogar den Code gelesen, der als Open Source verfügbar ist. Wie ich bereits 2013 in einem Artikel geschrieben habe,2 ist die Blockchain eine großartige Antwort auf eine Frage, die wir noch nicht kennen. Wie immer die Frage auch lauten mag – es ist nicht Bitcoin. Bitcoin steht für das, was ich das Fantasiegebilde des unpolitischen Geldes nenne. Als solches ist es regelrecht gefährlich.

ZFF: Bitcoin basiert auf der libertären Idee, dass Geld nicht von einer zentralen Institution wie einer Zentralbank gesteuert werden soll, sondern einzig und allein durch den Markt. Allerdings hat Bitcoin vor allem unter Beweis gestellt, dass dies schlichtweg nicht funktioniert. Der Wert der Währung ist derart volatil, dass sie als Zahlungsmittel unbrauchbar ist.

Yanis Varoufakis: Das ist vollkommen richtig. Die Leute, die hinter Bitcoin stehen, haben ein grundlegend falsches Verständnis von Geld. Sie sind der Überzeugung, dass Geld seinen Wert durch Knappheit erhält. Aber das ist schlicht und ergreifend falsch. Der Wert von Geld gründet in dem Umstand, dass ich damit meine Steuern bezahlen kann. Geld ist inhärent politisch, und das muss auch so sein. Insbesondere, wenn kapitalistische Produktionsbedingungen herrschen, denn in einem solchen System muss die Möglichkeit bestehen, die Geldmenge zu regulieren. Bitcoin ist im Grunde nichts anderes als eine digitale Version des Goldstandards. Der Goldstandard war aber bereits in den 1920er-Jahren eine schlechte Idee, und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Was die Blockchain in meinen Augen interessant macht, ist, dass sie dezentral, transparent und anonym funktioniert. Es gibt keinen einzelnen Punkt, von dem aus sich das System manipulieren ließe. Alles ist über ein Netzwerk verteilt. Und obwohl man jede Transaktion nachverfolgen kann, bleiben die einzelnen Benutzerinnen und Benutzer anonym.

ZFF: Sie haben die Blockchain ursprünglich als Antwort auf eine noch unbekannte Frage bezeichnet. Sind Sie mittlerweile auf eine sinnvolle Frage gestoßen?

Yanis Varoufakis: In meiner Zeit als griechischer Finanzminister habe ich eine Parallelwährung entwickelt, die auf der Blockchain basierte. Die Idee dahinter war, der Regierung mehr Freiheit, einen größeren finanzpolitischen Spielraum zu verschaffen. Der Nennwert dieser Währung war an den Euro gekoppelt, sie wäre aber nicht exportierbar gewesen, hätte das Land also nicht verlassen können. Alles war bereit, das Projekt wurde aber nicht umgesetzt. Premierminister Alexis Tsipras gab mir nie grünes Licht, was letztlich auch der Grund war, warum ich von meinem Amt zurücktrat.

Das Hauptproblem einer solchen Parallelwährung war in meinen Augen das mangelnde Vertrauen. Wie hätten die Leute angesichts der allseits bekannten Korruption des griechischen Staates dieser neuen digitalen Währung vertrauen können? Wie könnten sie sicher sein, dass die Politiker nicht einfach beliebig viele Einheiten dieser Währung produzieren würden? Dieses Problem haben im Grunde alle Währungen. Niemand weiß mit letzter Sicherheit, wie viel Geld die Fed druckt, wir müssen den offiziellen Aussagen vertrauen. Bei einer auf der Blockchain basierenden Währung ist aber jederzeit bekannt, wie viele Einheiten im Umlauf sind. Diesbezüglich herrscht volle Transparenz, zugleich ist bei privaten Transaktionen aber nach wie vor Anonymität gewährleistet.

ZFF: In Another Now entsteht das Paralleluniversum, das Other Now, im Jahr 2008. Das ist kein Zufall.

Yanis Varoufakis: 2008 ist ein historischer Wendepunkt. Ich würde sogar so weit gehen zu behaupten, dass der Kapitalismus 2008 zu seinem Ende gekommen ist. Kapitalismus ist eine Bestie, die von Rentabilität oder – in marxistischer Terminologie – von Kapitalakkumulation angetrieben wird: Profit wird in neue Kapitalgüter investiert, was neuen Profit bringt, der wieder investiert wird, und so weiter. Das ist eine der Säulen des Kapitalismus und wird von niemandem bestritten, unabhängig von der jeweiligen politischen Position. Die zweite Säule ist ein Mindestmaß an Wettbewerb. Dieser garantiert, dass auch große Konzerne im Zaum gehalten werden. Darum ging es auch Adam Smith, als er über die Macht des Wettbewerbs schrieb.

Beide Säulen existieren heute nicht mehr. Die Nationalbanken haben 2008 den Finanzsektor gerettet, indem sie ihn mit Geld überschwemmten, mussten in der Folge aber feststellen, dass sie sich nicht mehr zurückziehen konnten. Offiziell wurde Quantitative Easing, wie diese Strategie genannt wird, zwar beendet, tatsächlich haben die Notenbanken aber nie damit aufgehört. Sie reinvestieren weiterhin in Obligationen und Aktien und halten so das System am Laufen. Bei den kleinsten Anzeichen von Schwierigkeiten, sei es 2018 oder zu Beginn der Pandemie, begannen sie sofort wieder mit dem Drucken von Geld. Die Bestie ist nun vollständig von staatlichem Geld abhängig, was dazu führt, dass der Profit, den große Konzerne erwirtschaften, komplett vom Reichtum, den sie schaffen, abgekoppelt ist. Firmen wie Tesla, Facebook oder Amazon machen kleine oder sogar gar keine Gewinne, ihr Wert steigt aber dennoch in absurde Höhen. Und jene Firmen, die einen Gewinn machen, legen diesen auf die Seite, anstatt ihn zu investieren, wie es die Regeln des Kapitalismus eigentlich vorschreiben würden. Firmen wie Volkswagen oder Apple horten Milliarden, was aus kapitalistischer Perspektive völlig sinnlos ist. Vom Standpunkt eines feudalistischen Systems aus gesehen ergibt es aber sehr wohl einen Sinn.

Zur zweiten Säule ist zu sagen, dass wir bei digitalen Plattformen wie Airbnb, Uber, Facebook oder Amazon längst jenseits dessen sind, was normalerweise als Monopol bezeichnet wird. Wenn ich mich auf die Website von Amazon begebe, verlasse ich faktisch den Kapitalismus – hier gibt es keinen Markt mehr. Man kann es mit einem Dorf vergleichen, in dem ein Mann – es ist meistens ein Mann – nicht nur die einzige Hamburgerbude besitzt, sondern auch alle anderen Läden und Gebäude, alle Gehsteige und das Straßenpflaster, alle Kirchen sowie die Luft, die wir atmen. Darüber hinaus kann er unsere Blicke lenken und auf diese Weise steuern, was wir sehen. Das ist nicht mehr Kapitalismus, sondern Feudalismus. Gestützt durch den König, der in diesem Fall staatliches Geld ist. Ich nenne dieses System Technofeudalismus, angelehnt an das von John Kenneth Galbraith geprägte Konzept der Technostruktur (»technostructure«).

ZFF: Galbraith ist einer der wenigen, deren Name in Another Now explizit erwähnt wird. Andere, deren Einfluss ebenfalls sichtbar ist – etwa John Maynard Keynes –, werden dagegen nicht direkt genannt. Ist das ein Zufall?

Yanis Varoufakis: Das ist kein Zufall. Keynes hat mich in der Tat sehr stark beeinflusst. Man hat mir immer wieder eine zu stark keynesianische Ausrichtung vorgeworfen. Allerdings ist das Wirtschaftssystem, das ich in Another Now entwerfe, ausdrücklich nicht keynesianisch. Es ist richtig, dass das International Monetary Project, das ich darin beschreibe, stark an Keynes’ ursprüngliches Konzept der International Clearing Union angelehnt ist, aber damit enden die Gemeinsamkeiten bereits. Galbraith dagegen erwähne ich, weil ich ihn persönlich sehr mochte und zudem der Ansicht bin, dass er nicht genug Anerkennung erhält. Vor allem war seine Idee der Technostruktur die Inspiration für mein Konzept des Technofeudalismus, und diesen Einfluss wollte ich ausdrücklich anerkennen.

Der Hauptgrund, warum ich jemanden wie Keynes nicht erwähne, ist aber wohl, dass ich meinen Figuren treu bleiben wollte. Eva ist eine libertäre Ökonomin, für die Leute wie Adam Smith oder Friedrich Hayek von Bedeutung sind, aber sicher nicht Keynes. Sie würde lieber sterben, als ihn zu erwähnen. Eine marxistische Feministin wie Iris wiederum lehnt das Projekt der Sozialdemokratie in Bausch und Bogen ab; für sie ist jemand wie Keynes nicht mehr als eine Ablenkung. Ein Computer-Geek wie Costa schließlich steht Galbraiths Technostruktur deutlich näher.

ZFF: Sie haben zu Beginn dieses Interviews gesagt, dass Another Now für Sie keine Utopie darstellt. Zweifellos beschreiben Sie darin aber detailliert eine positive Alternative zur Welt, in der wir leben. Wo sehen Sie die Unterschiede zur utopischen Tradition?

Yanis Varoufakis: Das hängt natürlich davon ab, wie man Utopie definiert, aber für mich beschreibt eine Utopie eine Welt, die nicht existieren kann. Und falls sie doch existieren würde, dann gäbe es keine Verbindung, keinen Pfad, der von da, wo wir heute stehen, zu dieser Welt führen würde. Utopien entstehen aus dem Nichts. Ich habe dagegen versucht, die Dinge so zu beschreiben, wie sie tatsächlich hätten eintreten können; unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich. Wie, auf welchem Weg, hätten wir, im Jahr 2008 beginnend, 2020 in einer solchen Welt ankommen können? Es gibt bei mir einen Übergang, ein ganzes Kapitel widmet sich der Frage, wie aus der Krise von 2008 das Other Now hervorgegangen ist. In diesem Sinne ist Another Now weniger eine Utopie als vielmehr Alternate History.

Ich hatte dabei nie vor, eine perfekte Welt zu beschreiben. Deshalb gibt es auch ein eigenes Kapitel mit Einwänden zu dem von mir entworfenen System. Ich habe versucht, einen realistischen Zugang zur Utopie zu finden, und das bedeutet, dass es Unzufriedene geben muss.

ZFF: Sie haben schon zahlreiche Bücher und Artikel verfasst, bisher waren das aber alles akademische oder zumindest Sachtexte. Wie war es für Sie, das erste Mal einen fiktionalen Text schreiben?

Yanis Varoufakis: Es war etwas ganz Neues. Das Einzige was ich bisher geschrieben hatte, das in Richtung Fiktion geht, waren eine Art pseudoplatonischer Dialoge, die ich im Unterricht verwendete. Sie waren als Hilfe für meine Studierenden gedacht, um bestimmte Debatten plastischer darzustellen. Ich hatte aber nie vor, einen Roman zu schreiben. Wenn ich ganz ehrlich bin, hatte ich sogar Angst, als ich damit begann.

ZFF: Für Ihr eigenes Buch lehnen Sie den Begriff der Utopie ab. In früheren Interviews haben Sie dafür andere Ökonomen als Utopisten bezeichnet, da das ökonomische Standardmodell in Ihren Augen eine Märchenwelt beschreibt, die nichts mit der realen Wirtschaft zu tun hat.

Yanis Varoufakis: Im Grunde geht es in den Sozial- und Geisteswissenschaften immer um die verschiedenen Geschichten, die wir uns gegenseitig erzählen. Manche dieser Geschichten sind nützlicher als andere, manche sind progressiver, manche sind toxischer. Wir brauchen diese Geschichten, wir können mit dem Erzählen nicht aufhören; wir müssen uns aber stets bewusst sein, dass wir Geschichten erzählen. Vor allem aber müssen wir die Annahmen offenlegen, auf denen die Geschichten beruhen.

ZFF: Die Macht der Ökonomen beruht nicht zuletzt darauf, dass sie ihre Geschichten als unumstößliche Tatsachen präsentieren. Das gelingt ihnen unter anderem deshalb so gut, weil sie ihre Geschichten mittels mathematischer Modelle erzählen.

Yanis Varoufakis: Was die Wirtschaftswissenschaften verstanden haben, ist, dass Monopole eine lukrative Sache sind. Sie wissen außerdem ganz genau, dass sich viele Menschen durch Mathematik einschüchtern lassen. Deshalb sind die Wirtschaftswissenschaften heute so stark mathematisiert. Niemand, der die Mathematik dahinter nicht versteht, wird es wagen, die dominanten Modelle anzuzweifeln. Also halten die meisten Leute ihren Mund und nehmen nicht an der Debatte teil. Wenn man die Mathematik durchschaut, erkennt man aber auf einmal, dass die Axiome 3a und 4c in einem bestimmten Modell auf die Abschaffung von Zeit und Raum hinauslaufen. Was am Ende übrig bleibt, ist ein wunderschönes Modell ohne jeglichen praktischen Nutzen. Mathematisch ist alles korrekt, aber die Prämissen haben keine Grundlage in der Realität. Solche versteckten Grundannahmen aufzudecken, ist eminent wichtig.

Ich gebe Ihnen hierfür ein besonders faszinierendes Beispiel: Das wichtigste wirtschaftswissenschaftliche Modell, das bis heute als Höhepunkt ökonomischer Theorie gilt, das in Harvard, Yale und am MIT gelehrt wird, ist das sogenannte Allgemeine Gleichgewichtsmodell. Seine Ursprünge liegen im Paris des 19. Jahrhunderts, insbesondere bei einem Mann namens Léon Walras (Abb. 3). Walras war ein utopischer Sozialist, ein ziemlich radikaler notabene. So befürwortete er etwa die Beschlagnahmung und Verstaatlichung jeglichen Grundbesitzes. Als er das Allgemeine Gleichgewichtsmodell entwickelte, ging es ihm überhaupt nicht darum, den Kapitalismus, wie er ihn erlebte, zu beschreiben. Vielmehr entsprach das Allgemeine Gleichgewichtsmodell seiner Vorstellung einer idealen Gesellschaft.

Abb. 3
Abb. 3

Léon Walras

Wenn Sie heute einen promovierten Ökonomen, der bei Goldman Sachs arbeitet, fragen, mit welchem Modell er den Kapitalismus erklärt, dann wird er Ihnen die Walras-Geschichte erzählen. Ein Konzept eines utopischen Sozialisten! Ist das nicht großartig?

ZFF: Wird Another Now Ihr einziger Abstecher in die Welt der Fiktion bleiben, oder haben Sie bereits Pläne für weitere Romane?

Yanis Varoufakis: Sobald ich die Zeit dafür finde, will ich auf jeden Fall wieder einen Roman schreiben. Ich mache nach einem Buch immer ein Jahr Pause, um meinen Kopf zu lüften. Mein nächstes Projekt steht zudem schon fest – es wird wieder ein Sachbuch. Danach werde ich aber wieder etwas Fiktionales schreiben. Ich weiß noch nicht, was es werden wird, aber das Schreiben von Another Now hat mir einfach zu viel Spaß gemacht, als dass ich in Zukunft darauf verzichten möchte.

Das Interview wurde in englischer Sprache geführt.

Notes

  1. Siehe Donohoe. [^]
  2. Siehe Varoufakis, »Bitcoin«. [^]

Autor

PD Dr. Simon Spiegel ist Scientific Research Manager am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich im Forschungsprojekt ERC Advanced Grant FilmColors und Privatdozent an der Universität Bayreuth. Er ist Chefredakteur der Zeitschrift für Fantastikforschung und schreibt regelmäßig für diverse Publikationen über Film und verwandte Themen. 2019 ist seine Habilitationsschrift Bilder einer besseren Welt. Die Utopie im nichtfiktionalen Film bei Schüren erschienen. Weitere ausgewählte Publikationen: Utopia and Reality. Documentary, Activism and Imagined Worlds (Mitherausgeber, University of Wales Press 2020); Theoretisch phantastisch. Eine Einführung in Tzvetan Todorovs Theorie der phantastischen Literatur (p.machinery 2010); Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films (Schüren 2007).

Konkurrierende Interessen

Der Autor hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Zitierte Werke

Donohoe, Paschal. »Lucid but Flawed: Paschal Donohoe Reviews Yanis Varoufakis’s Economics Primer«. The Irish Times, 4. Nov. 2017, www.irishtimes.com/culture/books/lucid-but-flawed-paschal-donohoe-reviews-yanis-varoufakis-s-economics-primer-1.3274074.

Sargent, Lyman Tower. »The Three Faces of Utopianism Revisited«. Utopian Studies 5.1 (1994): 1–37.

Schölderle, Thomas. Utopia und Utopie. Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die Kontroverse um ihren Begriff. Nomos, 2011. DOI:  http://doi.org/10.5771/9783845229331

Varoufakis, Yanis. »Bitcoin and the Dangerous Fantasy of ›Apolitical‹ Money«. Yanis Varoufakis. Thoughts for the Post-2008 World, 22. April 2013, www.yanisvaroufakis.eu/2013/04/22/bitcoin-and-the-dangerous-fantasy-of-apolitical-money.

Varoufakis, Yanis. Talking to My Daughter About the Economy. The Bodley Head, 2017.

Varoufakis, Yanis. Another Now. Dispatches from an Alternative Present. The Bodley Head, 2020.