Stefan Lampadius greift in seiner Studie The Human Future? Artificial Humans and Evolution in Anglophone Science Fiction of the 20th Century den wohlbekannten und im Bereich der Science-Fiction-Literatur oft diskutierten Topos des Künstlichen Menschen auf und untersucht Werke des klassischen Kanons der englischsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts in diesem Bereich. Wohl wissend, dass es sich hier um ein viel bearbeitetes und auch weites Feld handelt, schafft Lampadius es dennoch, in seinen Analysen eine bislang wenig beachtete Perspektive zu ergänzen. Im Gegensatz zum oft zitierten Diskurs um eine mögliche drohende Machtübernahme durch menschengemachte KI beleuchtet er die Werke im Spannungsfeld des modernen Meta-Narrativs der Evolution: Inwieweit können artificial humans als künstliche Alternativen zur langsamen biologischen Entwicklung des Menschen gesehen werden? Und welche Erkenntnisse ergeben sich daraus? Zusätzlich zum religiösen Narrativ der göttlichen Schöpfung, das angewendet auf die Kreation künstlicher Wesen oftmals Aspekte der Verantwortung und Legitimation diskutiert, offeriert das wissenschaftliche Narrativ der geleiteten Evolution die Perspektive des andauernden Wandels und der Selbstkreation durch Technik und bietet somit eine Überwindungsstrategie der binär fokussierten Analyse Mensch vs. Maschine im Kontext von künstlichen Menschen als erzählerischem Topos. Zwar betont Lampadius, dass künstliche Menschen noch immer als »important Other«, als Alterität gelten, die zur Definition des eigenen Selbst Differenzen und Grenzen markiert. Jedoch können – und müssen – diese Limitierungen durch die Evolutionsperspektive bereichert werden. Man könnte sagen, dass Lampadius hier eine Sichtweise der aktuellen Interkulturalitätsdebatte integriert, in der Alteritätsgrenzen zur Selbst- und Fremddefinition zumindest kritisch hinterfragt werden.

In seinen Betrachtungen geht der Autor chronologisch vor, um so zusammenhängende Entwicklungen, die das 20. Jahrhundert formten, in den typischen Werken der SF zu spiegeln. Dabei identifiziert er vier Großthemen: Massenproduktion, Humanisierung von Maschinen, Mechanisierung von Menschen und Virtualisierung. Diesen vier Bereichen ordnet er vier Typen von künstlichen Wesen zu, die exemplarisch als logische Konsequenz innerhalb des Meta-Narrativs der Evolution entwickelt werden und so eingebettet in kulturelle Entwicklungen zu einer wachsenden Diversität des Motivs führen. Wichtig ist ihm dabei, die zeitlichen, kulturellen, gesellschaftlichen sowie motivgeschichtlichen Interdependenzen und Intertexte aufzuzeigen, so dass die Diskussion und Analyse maßgeblicher Texte über und von künstlichen Wesen wie Mary Shelleys Frankenstein (1818), H. G. Wells A Modern Utopia (1905), Karel Čapeks R.U.R. (1920), Bernard Shaws Back to Methuselah (1921) und Olaf Stapledons Last and First Men (1930) sinnstiftend integriert werden.

Repräsentativ für die motivgeschichtliche Verarbeitung des künstlichen Menschen im Bezug zum Großthema Massenproduktion betrachtet Lampadius Aldous Huxleys Brave New World (1932). Neben der häufig geführten Diskussion, inwieweit es sich um die Utopie der friedlichen, glücklichen Gesellschaft oder um die Dystopie bezüglich des ethisch-moralischen Preises, den eine Gesellschaft für Frieden und Glück zu zahlen hat, handelt, steht bei Lampadius’ Analyse die Reproduktion im Sinne eines künstlichen, evolutionären Selektionsprozesses im Zentrum, der die idealtypische Übereinstimmung von Individuen mit ihrer Umgebung zum Ziel hat. Selbst das Staatsgebilde wird im Sinne der Evolution als sich entwickelnder Organismus identifiziert. Am Fließband massenproduzierte Menschen etablieren die Verbindung zu Fords ökonomischem Denken und garantieren ein reibungsloses Funktionieren des utopischen Experiments. Lampadius zeigt überzeugend auf, wie das Motiv des künstlichen Menschen bei Huxley den paradigmatischen Wechsel hin zu totalitären Strukturen verkörpert, die aus zusammenhängenden Entwicklungen in Wissenschaft, Politik und Wirtschaft entstehen können. Die evolutionäre Sicht unterstreicht dabei, dass es für die Entwicklung hin zu einer optimalen Gesellschaft vonnöten ist, die Entwicklung bei künstlich erschaffenen Menschen auch zurück zu einem früheren Entwicklungsstadium zu forcieren.

Isaac Asimovs Kurzgeschichten in I Robot (1950) wiederum werden wenig überraschend von Lampadius als Illustration für das Großthema der Humanisierung von Maschinen angeführt. Die wohl berühmten drei Gesetze der Robotik und deren Auswirkungen auf die Debatte um Maschinenethik ebenso wie die optimistische Sicht auf technische Möglichkeiten sind dabei weithin bekannt. Roboter werden, so Lampadius, als bessere Menschen inszeniert, moralisch integer und von Natur aus gut. Dabei zeigt er auf, dass Roboter als Unterstützer dargestellt werden, die die Menschheit hin zu einer friedfertigen Kooperation im Sinne einer friedlichen Ko-Evolution führen können.

Das Kapitel zu Philip K. Dicks Do Androids Dream of Electric Sheep? (1968) konzipiert Lampadius als Lektüre, in der ganz im Sinne der Postmoderne Konzepte der Realitäts- und Identitätskonstruktionen im Roman diskutiert werden, die als chronologische Weitentwicklung des Motivs des künstlichen Wesens nach Asimov gelesen werden können, ohne den Roman explizit in die von ihm aufgezeigten Großthemen zu kategorisieren. Künstliche Wesen dienen bei Dick dazu, Alteritätsdiskurse zu führen und Normativität zu hinterfragen. Das Andere konstituiert sich in einer ontologischen Differenz dabei vor allem durch das Vorhandensein oder den Mangel an Empathie. Mensch und Menschlichkeit fungieren dabei nicht als Synonyme. Identität entsteht durch relationale Bezüge und entspringt keiner isolierten Essenz. Lampadius geht hier auch auf den postmodernen Diskurs der Realitätskonstruktion ein und konstatiert, dass durch die Erzählsituation Unsicherheit als Status etabliert wird, in dem die Frage danach, was real und authentisch ist, kontinuierlich mitgestellt wird. Die quasi Gleichsetzung von Realität und Authentizität in dieser Formel scheint hier jedoch etwas zu generalisierend, da er beide Konzepte nicht voneinander absetzt: Zum einen wird der Unsicherheitsdiskurs als ontologische, ethische und rechtliche Demarkationslinie definiert, die durch die Frage danach, was authentisch ist in der erzählten Welt, verwässert wird. Zum anderen konstatiert Lampadius, dass die Atmosphäre der Unsicherheit die Annahme einer objektiven Realität in der erzählten Welt unterminiert.

William Gibsons Neuromancer (1984) hingegen exemplifiziert bei Lampadius das Großthema der Mechanisierung des Menschen. Hybridität charakterisiert eine cybernetic revolution, die Cyborgs als neue künstliche Wesen etabliert. Doch nicht nur motivgeschichtlich vollzieht sich ein Wandel, auch ästhetisch markiert Neuromancer, wie Lampadius zeigt, einen fundamentalen Wandel hin zum postmodernen Schreiben in der SF-Literatur. Der Cyborg wird als postmoderne Kreatur inszeniert, die kulturell geprägte Binarität aufbricht und Identität im Sinne einer technologisierten Evolution als soziales Konstrukt aufzeigt.

Greg Egans Diaspora (1997) analysiert Lampadius schließlich als Beispiel für das vierte Großthema der Virtualisierung. Darin wird die Menschheit als Konglomerat verschiedener kulturell sowie physisch diversifizierte Sub-Spezies begriffen, die einer progressiven Evolution unterliegen. Die Welt wird als be- und errechenbar darstellt, Identitäten können mithilfe biologischer und elektronischer Codes als Muster kreiert werden und führen zu einer Exploration der Geschlechter jenseits binärer Vorstellungen. Der menschliche Körper, so Lampadius, gilt als kulturell beschriebener Text, der für verschiedene Lektüren offensteht, was wiederum die evolutionäre Perspektive des Wandels forciert. Lampadius analysiert, wie hier Diversität und gerichtete Evolution als Weg für menschliches Überleben und Glück gepriesen werden.

Lampadius zeigt in seiner Studie, wie im Motiv des künstlichen Menschen das Meta-Narrativ der Evolution im Sinne des biologischen und kulturellen Wandels realisiert wird. Dass er dabei auf typische kanonische Texte der englischsprachigen SF-Literatur rekurriert, unterstreicht einmal mehr die Komplexität und Vielschichtigkeit dieser Texte, zu deren Rezeption Lampadius durchaus eine weitere interessante Perspektive liefert. Einer Integration der Autorenvita sowie der Einbeziehung biographischer Hintergründe der Schriftsteller:innen hätte es nicht unbedingt bedurft, da die textinhärenten Analysen sehr fundiert und eingebettet in den wissenschaftlichen Diskurs präsentiert werden. Dass Lampadius hierbei konstant Verflechtungen und Vernetzungen der Motive und Diskurse aufzeigt, ist eine weitere große Stärke der Studie. So entsteht ein ausführliches und umfangreiches Werk zum Thema des künstlichen Menschen in der englischsprachigen SF-Literatur des 20. Jahrhunderts, das den Leser:innen einen umfassenden Überblick über die wichtigsten Texte mit einer neuen Perspektive bietet.

Autorin

Prof. Dr. Nicole Brandstetter hat Anglistik und Romanistik an der Universität Regensburg und der Université de la Bretagne Occidentale/Brest studiert. Während ihrer Promotion zum Thema Strategien inszenierter Inauthentizität im französischen Roman der Gegenwart hat sie sich in einem interdisziplinären Graduiertenkolleg mit Formen der ästhetischen Lüge beschäftigt und war am Lehrstuhl für romanische Literaturwissenschaften an der Universität Regensburg tätig. Anschließend war sie PR-Beraterin in einer PR-Agentur und arbeitete danach mehrere Jahre an einer privaten Bildungsinstitution in der Leitungsebene. Seit September 2015 ist Nicole Brandstetter Professorin an der Hochschule München und vertritt den Bereich Englische Philologie (insbesondere Business English and Intercultural Communication) an der Fakultät für Studium Generale und Interdisziplinäre Studien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Narrative der Digitalisierung, Authentizitäts- und Inauthentizitätskonzepte in der Literatur der Moderne und Postmoderne sowie Lehr-Lernforschung.

Konkurrierende Interessen

Die Autorin hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.