1 Hinführung

Mit diesem Beitrag verfolge ich zwei Ziele. Einerseits möchte ich zeigen, dass Stephen Kings Klassiker It (1986), anders als die gängige Horror-Etikettierung prima facie suggeriert, vor allem als Adoleszenz- bzw. Coming-of-Age-Roman zu verstehen ist.1 Diese These zu vertreten, bedeutet, das äußere Horrorgeschehen in erster Linie als inneres Entwicklungsgeschehen zu lesen. Ich werde textnah begründen, dass die phantastischen Elemente (nicht nur, aber in besonderem Maße) auf psychosoziale Entwicklungsprozesse verweisen, deren Movens die Bewältigung kindlicher Ängste ist. Bleibt diese Bewältigung aus, so verfestigt sich etwas, das sich erhellend mit den Begriffen »Liminalität« von Victor Turner und »psychosoziales Moratorium« von Erik H. Erikson beschreiben lässt. Der Roman entfaltet damit ein allgemeines kulturanthropologisches Narrativ von adoleszenter (Fehl-)Entwicklung.

Andererseits möchte ich die räumliche Codierung dieser (Fehl-)Entwicklung nachzeichnen. Damit versuche ich exemplarisch zu zeigen, wie phantastische Welten bei Stephen King mit semantisch stark funktionalisierten Raumkompositionen zusammenhängen. Die These ist, dass räumliche Grenzen und Grenzüberschreitungen als zentrale kompositorische Gestaltungselemente der Handlung fungieren. Und mit diesen Gestaltungselementen korrespondieren Aufgabenbereiche, die mit der ontogenetischen Entwicklung der Hauptfiguren verknüpft sind. Damit besitzt der Roman eine Darstellungsqualität, die von der kürzlich erschienenen Neuverfilmung des Romans durch Andrés Muschietti (2017) – ob beabsichtigt oder nicht – ausgespart wird, was Folgen für das darin vermittelte Narrativ von Jugend hat.2

Die beiden Thesen hängen zusammen und werden im Folgenden wechselseitig aufeinander bezogen. Ich werde dabei weitgehend texthermeneutisch vorgehen. Da die komplexen ästhetischen Funktionszusammenhänge im Roman ganz allgemein auf den phantastischen Umgang mit Angst in der Kindheit und die damit verbundenen Entwicklungsanforderungen rekurrieren, werde ich an entscheidenden Stellen interdisziplinäre (vor allem ethnologische, entwicklungspsychologische und psychoanalytische) Theorieansätze aufgreifen, die generell einen hohen Erklärungswert für phantastische Literatur haben.

Die hier vertretene Lesart versteht sich nicht als Ersatz oder Konkurrenz, sondern Ergänzung zur gesellschaftskritischen Lesart, nach der Kings Horror in It als Spiegel gesellschaftlicher Missstände fungiert. Dass das Monster mit sozialen und kulturell-historischen Problemfeldern wie Rassismus, Homophobie und Misogynie koinzidiert und der Roman durch die Thematisierung von struktureller Gewalt und Ausschluss eine klar kultur- und machtkritische Dimension aufweist, darauf wurde in der Forschung zu Recht hingewiesen (vgl. Rehberger). Diese Lesart berücksichtigt aber nicht ausreichend die klare motivische Verknüpfung des Gestaltenwandlers Es mit der individualspezifischen Entwicklung der einzelnen Figuren. Das Grauen fungiert nicht nur als Spiegel der kulturellen und sozialen Probleme, wie sie in Derry wiederholt diagnostiziert werden, es hat auch eine auffällig entwicklungspsychologische Note, die sich nur über die Erschließung der individuellen Figurengestaltung verstehen lässt.3 Das wiederum erfordert eine sehr textnahe Auseinandersetzung mit dem Roman.

2 It als Adoleszenzroman

Dass das Horrorgeschehen im Roman It primär als Adoleszenzgeschehen zu verstehen ist, wird zwar von der globalen Romanhandlung und ihrer kompositorischen Struktur nahegelegt, erschließt sich aber nicht auf den ersten Blick. Was geschieht im Roman?

Es gibt zwei zeitlich voneinander getrennte Handlungsstränge, die anachronistisch miteinander verwoben sind und in Derry, einer fiktiven Stadt in Maine, spielen. Der erste Strang widmet sich dem Sommer 1958. Es geht um sieben 11-jährige Kinder, deren Gemeinsamkeit darin besteht, ein verstörendes Erlebnis mit einer bedrohlichen Gestalt zu haben, die sie Es nennen. Dieses Es scheint mit einer Reihe von grausamen Mordserien zusammenzuhängen, die Derry im Zyklus von 27 Jahren heimsuchen. Die Kinder tun sich zusammen, sie gründen – wie sie sagen – den »Losers’ Club« (King 890), und nehmen gemeinsam den Kampf gegen Es auf. Der Kampf endet in der Kanalisation, dem Lebensraum von Es, wobei Es schwer verletzt, nicht aber getötet wird. Die Kinder leisten einen Schwur, Es, wenn es wieder auftaucht, zu vernichten.

Der zweite Strang setzt 27 Jahre später ein, im Jahr 1985. Die sieben Kinder sind mittlerweile sehr erfolgreiche Erwachsene, die Derry hinter sich gelassen haben und von ihrer Konfrontation mit Es nichts mehr wissen. Durch eine neuerliche Mordserie in Derry erinnern sie sich an ihren einst geleisteten Schwur und nehmen den Kampf gegen Es erneut auf. Sie beenden schließlich, was sie als Kinder versäumt haben.

Zwischen diesen beiden Strängen, dort, wo psychosozial die Adoleszenz und der eigentliche Übergang in die Erwachsenenwelt angelegt ist, befindet sich erzählerisch eine große Ellipse, die durch das, was sie ausspart, bedeutungsvoll ist. »It was the white spot on the map which lay between 1958 and 1985, an area an explorer might have called the Great Don’t Know« (King 586), räsoniert Bill, der Anführer des »Losers’ Club«, als die sieben Figuren nach 27 Jahren wieder zusammenkommen. Alles, was ihnen in dieser entwicklungspsychologisch wichtigen Zeit passiert, erfährt der Leser nur schemenhaft, zumeist rückblickend erzählt von den Figuren selbst. Direkt erzählt wird nur die Rahmung, in der sich der Horror abspielt.

Dadurch, dass der Horror als kompositorische Klammer um eine 27-jährige Aussparung modelliert ist, die auf Finalität drängt – unvollendeter Kampf am Anfang, vollendeter Kampf am Ende –, erscheint die Mitte als ein einziges retardierendes Moment. Der Kampf wird vor diesem Hintergrund als zentrale Aufgabe markiert, die es zu bewältigen gilt. Und dass die Bewältigung dieser Aufgabe als notwendige Bedingung für die psychosoziale (Weiter)Entwicklung der Hauptfiguren konzipiert ist, dafür gibt es sowohl in der Makrostruktur der Handlung als auch in der Mikrostruktur der verschiedenen Figurenentwicklungen auffällige Hinweise.

3 Auf der Schwelle zwischen Kindheit und Erwachsensein

Keine der sieben Hauptfiguren kann in der Lebensphase zwischen den beiden Erzählsträngen Kinder zeugen. Sie sind zwar oberflächlich erwachsen und körperlich zeugungsfähig – darauf weisen einige von den Figuren erzählte Anekdoten hin –, sie haben aber trotz entsprechender Absichten und Anstrengungen keine Kinder. Offenbar wirkt hier eine schwerwiegende Hemmung. Und was diese Hemmung ist, woher sie kommt, womit sie zu lösen ist, scheint dem Bewusstsein der Figuren nicht zugänglich zu sein. Denn keiner kann sich richtig erinnern, was damals in Derry passiert ist. Statt aber ihre Vergangenheit zu kennen, sich mit ihr auseinanderzusetzen, beschäftigen sich alle sehr erfolgreich mit der Gegenwart, wie Mike, eine der sieben Hauptfiguren, bei ihrem Wiedersehen in Derry nach 27 Jahren feststellt.

›Things are out of order with your own lives, too, you know. None of you left Derry untouched … without Its mark on you. All of you forgot what happened here, and your memories of that summer are still only fragmentary. And then there’s the passingly curious fact that you’re all rich.‹ (King 615)

Das Vergessen, der berufliche Erfolg und die Zeugungsunfähigkeit hängen offenbar motivisch zusammen. Die Figuren scheinen zu verdrängen und zu sublimieren, was sie zugleich konservieren. Sie tragen – und das wird klarer, wenn ich mich den Einzelfiguren zuwende – eine seit 27 Jahren unbewältigte Aufgabe mit sich herum, die jeden auf seine eigene Weise zwischen Kindheit und Erwachsenenalter festsetzt. Die Figuren sind, so kann man es mit Victor Turner sagen, »betwixt and between«, in einem liminalen Zustand, der weder der einen Seite, der Seite der Kinderwelt, noch der anderen Seite, der Seite der Erwachsenenwelt, angehört. Statt sich der Vergangenheit zuzuwenden, finden die Figuren ertragreiche Ersatzhandlungen – Bill ist erfolgreicher Schriftsteller, Ben erfolgreicher Architekt, Beverly erfolgreiche Modedesignerin usw. –, durch die sie auf der Schwelle retardieren.

Und dieser Schwellenzustand ist topologisch codiert, denn er vollzieht sich räumlich getrennt vom Hauptschauplatz des Horror-Geschehens. Alle Figuren – bis auf eine Ausnahme – fliehen nach dem ersten Kampf gegen Es aus Derry. Und für den finalen Kampf kehren sie nach Derry zurück. Aufbruch und Heimkehr markieren so Anfangs- und Endpunkt einer retardierenden Zwischenphase, die die Vergangenheit nicht mehr kennt und die Zukunft noch nicht erreicht. Interessanterweise ist Mike die einzige Figur, die die Stadt nach dem ersten Kampf nicht verlässt. Und Mike ist es auch, der nicht durch Ersatzhandlungen reich wird; als Bibliothekar in Derry setzt er sich aktiv mit seiner Vergangenheit auseinander und initiiert den finalen Kampf (ohne ihm schlussendlich beizuwohnen), indem er den »Losers’ Club« nach 27 Jahren zusammenruft. Für die anderen Figuren sind die Stadtgrenzen die Grenzen einer retardierenden Schwellenphase zwischen Kindheit und Erwachsensein.

Wenn sich phantastische Literatur in Anlehnung an die Überlegungen Jurij M. Lotmans als Struktur verstehen lässt, »die selbst als Grenzüberschreitung spezifischer Teilwelten definiert werden kann« (Krah 28), bietet es sich bei It an, der Schwelle zwischen diesen spezifischen Teilwelten besondere Aufmerksamkeit zu schenken. In der Phantastikforschung wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass sich für die Beschreibung von Grenzüberschreitungen und Zwischenräumen vor allem solche wissenschaftlichen Modelle eignen, die an kulturanthropologische Diskurse anschlussfähig sind (vgl. Simonis 54 f.). Zu denken ist z. B. an die Arbeiten von Victor Turner, der mit seinem ethnologischen Begriff der Liminalität den Blick auf ritualisierte Übergangsphasen zwischen sozial bestimmten Zuständen und Positionen richtet. Turner meint mit diesem Begriff ausdrücklich entwicklungsbezogene Schwellen zwischen Welten mit divergierenden sozialen Anforderungen. Tatsächlich findet sich in Kings Roman eine solche entwicklungsbezogene Schwelle. Anders als bei Turner ist die damit verknüpfte Entwicklungsphase aber eher als psychischer ›Aufschiebezustand‹, weniger als ritualisierter Übergang zwischen sozialen Positionen zu verstehen. Die Figuren fliehen aus der Kindheitswelt A (= Derry), schieben auf in der Zwischenwelt B (= außerhalb von Derry), kommen zurück in die Kindheitswelt A (= Derry), um schließlich in der Erwachsenenwelt C (= außerhalb von Derry) anzukommen. Der Entwicklungspsychologe Erikson hat für die Zwischenwelt B den wohl passenderen Begriff des psychosozialen Moratoriums, mit dem er eine aufschiebende und in der modernen Welt verlängerte Auszeit meint, die in der Adoleszenz häufig notwendig ist, um die kindlichen Identitätselemente mit den gesellschaftlichen Ansprüchen an die Erwachsenenrolle zu integrieren (vgl. Erikson 123).

Bei King umrahmt das Horror-Geschehen in Derry lokal, temporal und entwicklungspsychologisch ein solches psychosoziales Moratorium, das eine zentrale Entwicklungsaufgabe aufschiebt. Die Figuren sind und bleiben psychosozial adoleszent, sie bleiben 27 Jahre in einer liminalen Phase zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt gefangen, solange, bis sie sich endgültig ihrer aufgeschobenen Aufgabe stellen.

4 Das Es der Figuren

Worin besteht nun diese Aufgabe, deren Bewältigung die Figuren retardieren? Was ist also das Es für die Figuren? Auf der Handlungsebene ist Es eine angsteinflößende, polymorphe und offenbar übernatürliche Entität, die sich von Kindern ernährt. In der angloamerikanischen Literatur wird z. B. die Cultural-Studies-Lesart vertreten, nach welcher Es zugleich die Verheißungen und die Zerstörungskraft kapitalistischer Gesellschaftsformen spiegelt. Angesichts der Gestalt des spaßversprechenden, kinderlockenden und kinderfressenden Clowns Pennywise, der eine Spur zu Ronald McDonald legt, leuchtet das auch ein.

[…] the novel becomes a confrontation with the forces of contemporary society that promise fulfillment (i.e., Pennywise always entices its victims by promising them peace and happiness) but never deliver. […] The monster, ›It‹, remains indefinable, having the appearance that is most often compared to Ronald McDonald, a clown that King in Danse Macabre calls the most pervasive representative of consumption that we have in American culture. (Rehberger 5)

Jenseits dieser gesellschaftsspiegelnden und -kritischen Dimension, die der Roman zweifelsfrei in sich trägt – man denke nur an den rassistisch motivierten Brand des »Black Spot«, dem in Anwesenheit des Clowns mehr als 30 Personen zum Opfer fallen (vgl. King 562–566)4 – scheinen die unterschiedlichen Gestalten, die Es für die Figuren annimmt, aber vor allem auf individualspezifische Konflikte hinzuweisen. Denn Es ist für jeden etwas anderes und insgesamt doch dasselbe.

Der Roman erzählt – und damit komme ich zur psychosozialen Deutung von Es – von der Herausforderung, sich aktiv seinen individuellen kindlichen Ängsten (meist im Rahmen der familialen Bedingungen) zu stellen, um so angstinduzierte und verstetigte Hemmungen zu lösen. Man muss sich vor Augen führen, dass das Pronomen ›Es‹ – jedenfalls in dieser hypostasierten Form – in unserem kulturellen Gedächtnis mit zwei Namen verknüpft ist, mit Stephen King und mit Sigmund Freud. Das ist kein Zufall, gleichwohl das Freudsche Es nicht plump mit dem Kingschen Es gleichzusetzen ist. Dennoch ist es lohnenswert, der psychosozialen Funktion des Kingschen Es nachzugehen, denn die Zusammenhänge zwischen den individuellen kindlichen Ängsten und den späteren Figurenentwicklungen sind motivisch überaus klar gezeichnet; das Es ist von Stephen King unverkennbar tiefenpsychologisch chiffriert.5 Wenn im Folgenden stellenweise psychoanalytische Terminologie genutzt wird, dann nicht, um auf naiv-fiktionalitätsverkennende Weise die Figuren auf Freuds Couch zu legen, sondern um zu zeigen, wie stark das monströse Es motivisch mit den Tiefenschichten und familialen Bedingungen der Figuren assoziiert ist.6 Denn der Roman nutzt beinahe horrortypisch – ähnlich wie z. B. die Filme PSYCHO (US 1960, Regie: Alfred Hitchcock), SHUTTER ISLAND (US 2009, Regie: Martin Scorsese) oder BEFORE I WAKE (US 2016, Regie: Mike Flanagan) – bekannte psychoanalytische Erklärungsmuster, die dem Leser auf narrative Weise das Werden und Gewordensein der Figuren verständlich machen.7 Das Monster in It fungiert als motivischer Kitt, als bildgewordene, zwischen Kindheit und Erwachsensein stehende Angst,8 die zwar erzählerisch zwischen beiden Welten vermittelt, aber inhaltlich beide Welten trennt. Der Clown wird so zu dem, was Daniel Kehlmann in allen Horrorgestalten von Stephen King sieht: eine »Erweiterung des einen und einzigen allumfassenden Diesseits« (Kehlmann 64); Es ist nicht nur außen, sondern auch und vor allem innen, – das jedenfalls legen die motivischen Verweisungszusammenhänge zwischen den beiden Erzählsträngen nahe.

Bei allen Figuren in Kings Roman finden sich Hemmungen, die – wie nach Freuds Verständnis – als unbewusste »Verzichte auf Funktion« firmieren, »bei deren Ausübung Angst entwickelt werden würde« (Freud, »Angst« 114). Oder anders gesagt: Der Roman erzählt, wie Personen etwas unterdrücken, das sie insgeheim begehren, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht begehren dürfen:9 Da gibt es Beverly, die ihren Vater regelrecht verehrt und zu ihm eine sehr körperbezogene Beziehung hat, und das, obwohl dieser sie regelmäßigt körperlich misshandelt.

She felt her love for him. I never hit you when you didn’t deserve it, Beverly, he told her once when she had cried out that some punishment had been unfair. And surely that had to be true, because he was capable of love. Sometimes he would spend a whole day with her, showing her how to do things or just telling her stuff or walking around town with her, and when he was kind like that she thought her heart would swell with happiness until it killed her. She loved him, and tried to understand that he had to correct her often because it was (as he said) his God-given job. (King 479)

Beverly heiratet später Tom, einen Mann, der nicht nur ihrem Vater verblüffend ähnlich sieht, sondern Beverly gegenüber auch auf dieselbe Art und Weise gewalttätig ist.10 Was zeigt sich in dieser Reproduktion? Was ist Es also entwicklungspsychologisch gesehen für Beverly? Es, das Beverly häufig in Gestalt ihres Vaters erscheint, verweist motivisch auf eine Art unbewältigte Vaterfixierung, auf die schmerzbesetzte Entwicklungsaufgabe, sich vom Vater zu lösen und dabei – wie es nach Freuds Verständnis in jungen Jahren geschieht – eine »Inzestschranke« (Freud, Sexualtheorie 94) zu errichten. Der Aufbau dieser Schranke ist durch Beverlys starke Liebe zu ihrem Vater gehemmt und führt mit der Heirat ihre Vaterebenbildes Tom zu einer – wie Freud sagen würde – »inzestuösen Objektwahl« (ebd. 96), es kommt zu einer »inzestuösen Fixierung der Libido« (ebd. 97). Mit der Bekämpfung des Es stellt sich Beverly am Ende dann doch dieser Entwicklungsaufgabe. Sie stellt sich der Angst, sich von ihrem Vater zu lösen. Folgerichtig ist der Tod von Es eng verknüpft mit dem Tod ihres vaterähnlichen Mannes. Beide sterben beim finalen Kampf in der Kanalisation.

Interessant sind in diesem Zusammenhang die konkreten Erscheinungen, die Es für Beverly annimmt. Als Kind erscheint ihr Es als Blutfontäne aus einem Abfluss in unmittelbarer Nähe zu ihrem Vater:

A gout of blood suddenly belched from the drain, splattering the sink and the mirror and the wallpaper with its frogs-and-lily-pads pattern. Beverly screamed, suddenly and piercingly. She backed away from the sink, struck the door, rebounded, clawed it open, and ran for the living room, where her father was just getting to his feet. (King 475)

Der Vater allerdings kann das Blut, das Beverly so verängstigt, nicht sehen und bestraft sie für ihren Schrei.

His hand suddenly swung and spatted painfully against her buttocks. She uttered a cry, her eyes fixed on his. There was a tiny stipple of blood caught in his bushy right eyebrow. If I look at that long enough I’ll just go crazy and none of this will matter, she thought dimly. ›I worry a lot,‹ he said, and hit her again, harder, on the arm […]. ›An awful lot,‹ and punched her in the stomach. […] ›You got to grow up, Beverly,‹ he said, and now his voice was kind and forgiving. ›Isn’t it so?‹ She nodded. (King 447 f.)

Und als Erwachsener dann erscheint ihr Es als sexuell übergriffiger Vater. Beverly besucht das Haus ihres Vaters, von dem sie nicht weiß, ob er noch lebt. Herein lässt sie eine freundliche alte Frau, die bald zur Hexe mutiert und dann, als Beverly verängstigt die Flucht ergreift, offenkundig als ihr Vater figuriert. Das »I worry a lot« wird zum Leitmotiv, das einen Konnex zwischen dem Vater und der sexuellen Reife von Beverly schlägt.

›I worry about you, Bevvie … I worry a LOT!‹ She turned, swirls of red hair floating around her face, to see her father staggering toward her down the hallway, wearing the witch’s black dress and skull cameo; her father’s face hung with doughy, running flesh, his eyes as black as obsidian, his hands clenching and unclenching, his mouth grinning with soupy fervor. ›I beat you because I wanted to FUCK you, Bevvie, that’s all I wanted to do, I wanted to FUCK you, I wanted to EAT you, I wanted to eat your PUSSY, I wanted to SUCK your CLIT up between my teeth, YUM-YUM, Bevvie, oooohhhh, YUMMY IN MY TUMMY, I wanted to put you in the cage … and get the oven hot … and feel your CUNT … your plump CUNT … and when it was plump enough to eat … to eat … EAT.‹ (King 689)

Es repräsentiert – so legen diese drastischen Bilder nahe – genau das, was Beverly begehrt und wovor sie sich fürchtet. Immer wieder muss sie sich vor ihrem Vater schützen und sucht doch seine Nähe. Ihre Entwicklungsaufgabe besteht motivisch final darin, sich von ihrem Vater im Rahmen ihrer körperlichen Reife zu lösen, d. h. auch, sich von seinen Übergriffen und seinen sexuellen Verheißungen zu befreien. Ihr gelingt das im finalen Kampf. Ihr vaterähnlicher Ehemann stirbt und sie ist befreit und kann sich am Ende tatsächlich auf eine vaterunabhängige Beziehung (mit Ben) einlassen.

Dann ist da Eddie, bei dem es ganz ähnlich ist. Eddie lebt allein mit seiner Mutter, die sich um ihn sorgt, so sehr, dass sie ihm alles verbietet, was mit körperlicher Anstrengung oder körperlichen Fremdkontakten einhergeht. Eddies Emanzipation von der Mutter ist psychosomatisch gehemmt. Eddie ist Asthmatiker. Sein Apotheker gesteht ihm aber eines Tages, dass das Asthma-Spray, das seine chronischen Anfälle lindert, nur Wasser ist. »Your asthma is the result of a nervous tightening of the diaphragm that is ordered by your mind … or your mother. You are not sick« (King 936).

Eddies Hilfsbedürftigkeit, die ihn an seine Mutter bindet, ist offenbar inszeniert, inszeniert von seiner Mutter und inszeniert von seiner eigenen Psyche. Die Emanzipation ist blockiert. Immer wenn er sich anstrengt und gegen seine Mutter auflehnt, bekommt er einen Anfall. Interessanterweise hindert ihn das Geständnis des Apothekers nicht daran, sein Asthmaspray bis zum finalen Kampf gegen Es weiter zu verwenden. Eddie heiratet während seines psychosozialen Moratoriums eine Frau, die körperlich und habituell seiner Mutter gleicht und verstetigt seinen Zustand der Hilfsbedürftigkeit. Was ist Es also für Eddie? Was muss er bewältigen?

Eddie hat als Kind mehrfach eine Konfrontation mit einem körperlich auffällig deformierten Landstreicher, der sich später als Es herausstellt. Dieser Landstreicher bietet Eddie Sex gegen Geld an. Im inneren Monolog setzt sich Eddie an einer Stelle mit diesem Landstreicher, also mit seiner eigenen Es-Erscheinung, gleich.

I’m a hobo, Eddie thought incoherently. I’m a hobo and I ride the rods. That’s what I do. Ain’t got no money, ain’t go no home, but I got me a bottle and a dollar and a place to sleep. I’ll pick apples this week ad potatoes the week after that and when the frost locks up the ground like money inside a bank vault, why, I’ll hop a GS&WM box that smells of sugar-beets and I’ll sit in the corner and pull some hay over me if there is some and I’ll drink me a little drink and chew me a little chew and sooner or later I’ll get to Portland or Beantown, and if I don’t get busted by a railroad security dick I’ll hop one of those ‘Bama Star boxes and head down south and when I get there I’ll pick lemons or limes or oranges. And If I get vagged I’ll build roads for tourists to ride on. Hell, I done it before, ain’t I? I’m just a lonesome old hobo, ain’t got no money, ain’t got no home, but I got me one thing; I got me a disease that’s eating me up. My skin’s cracking open, my teeth are falling out, and you know what? I can feel it happening, eating from the inside to the out, eating, eating, eating me. (King 375)

Es repräsentiert – so deutet dieser Tagtraum an – seine Furcht vor und die Faszination für die Ablösung von seiner Mutter, für Einsamkeit, Landstreicherei, Kriminalität, Prostitution, Homosexualität und Krankheit. Das ist die internalisierte Furcht seiner Mutter, ohne Hilfe in etwas abzudriften, was ihren Moralvorstellungen nicht entspricht. Die aufgeschobene Emanzipation von dieser internalisierten Angst erfolgt dann am Ende beim finalen Kampf. Eddie setzt sein Placebo-Spray nicht mehr als Medizin für sich, sondern als Waffe gegen Es ein. Er erkennt also dessen psychische Funktion, seine Hilfsbedürftigkeit zu verfestigen, und kehrt sie um. Das endet allerdings mit Eddies Tod, Es reißt ihn in Stücke. Sein Körper, der im Rahmen der inszenierten Hilfsbedürftigkeit sein Leben lang von Gefahren und Belastung isoliert war, hält dem Kampf nicht statt.

Dann ist da Bill, der Kopf des »Losers’ Club«. Bill fühlt sich für den Tod seines kleinen Bruders und die damit verbundene Beziehungskonfusion seiner Eltern zu ihm und untereinander verantwortlich. Der Roman beginnt damit, dass Bill seinem Bruder George ein Papierboot baut, das dieser im Regen die Straße herunterfahren lässt. George wird bei diesem Ausflug von Es getötet. Bill gibt sich die Schuld dafür, weil er erkältet im Bett liegt und nicht auf George aufpassen kann. Dieses Schuldgefühl, das Bill als Ausdruck einer beinahe anmaßenden Omnipotenzphantasie bis zum finalen Kampf mehr oder weniger bewusst mit sich trägt, ist mit einem psychosomatischen Stottern verknüpft, das er erst am Ende des Romans in den Griff bekommt. Als Erwachsenem erscheint ihm Es in der Kanalisation als sein toter Bruder: »›My boat!‹ Georgie’s lost voice rose, wavering, in the tunnel. ›I can’t find it, Bill, I’ve looked everywhere and I can’t find it and now I’m dead and it’s your fault YOUR FAULT –‹« (King 375).

Zuerst ist Bill regungslos, schließlich artikuliert Es nur seine eigenen Gedanken, seine eigene Furcht, der er sich seit 27 Jahren nicht stellt. Doch Bill besinnt sich und wendet eine Strategie an, mit der er – in der Regel erfolglos – sein Stottern unterbindet. Er spricht einen schwierigen, aber seine Hemmung aufhebenden Zungenbrecher: »He thrusts his fists against the posts and still insists he sees the ghost! Bill thundered. He advanced on the George-thing. ›You’re no ghost! George knows I didn’t mean for him to die!‹« (King 1257).

Schuld, Schuldsymptom und Schuldbekämpfung kommen in dieser Szene zusammen. Bill erhebt sich über sein 27 Jahre andauerndes Schuldgefühl und bekämpft Es aktiv. Damit bekämpft er auch seine unbewältigte infantile Omnipotenzphantasie. Bis zum finalen Kampf gegen Es glaubt Bill, die Verantwortung für die Familienzerstörung zu tragen, und bis zum finalen Kampf ist er der Meinung, diese durch ein bestimmtes Verhalten rückgängig machen zu können. Mit der Ablegung dieser Vorstellung überwindet Bill auch sein Stottern.11

Tatsächlich werden solche aufgeschobenen Entwicklungsaufgaben bei allen Figuren manifest. Alle Mitglieder des »Losers’ Club« sind von Symptomen angstinduzierter Hemmungen gezeichnet. Zu nennen sind nicht nur die regressive Unterwürfigkeit von Beverly, das psychosomatische Asthma von Eddie und das Stottern von Bill, sondern auch die Fettleibigkeit von Ben, die unkontrollierte Persönlichkeitsdissoziation von Ritchie und die Überängstlichkeit von Stan. Die diesen Symptomen zugrundeliegenden unbewältigten Ängste, die Es in seinen Erscheinungen aufgreift, sind in der Regel neurotischer Natur, also – um mit Freud zu sprechen – »Triebängste«.

Der Roman erzählt aber auch von »Realängsten« (vgl. Freud, »Angst« 408), die sich auf unmittelbare äußere Gefahren oder Traumata beziehen. Das lässt sich am besten an Mike veranschaulichen, bei dem die Freudsche Psychologisierung, die man mir hier vorwerfen kann, von Es selbst betrieben wird. Für Mike erscheint Es als ein riesiger, lebensbedrohlicher Vogel. In einem inneren Monolog am Ende des Romans klärt Es auf, warum es für Mike genau diese Vogelgestalt annimmt:

Oh but the glamours were amusing. Hanlon, for instance. He would not remember, not consciously, but his mother could have told him where the bird he had seen at the Ironworks came from. When he was a baby only six months old, his mother had left him sleeping in his cradle in the side yard while she went around back to hang sheets and diapers on the line. His screams had brought her on the run. A large crow had lighted on the edge of the carriage and was pecking at baby Mikey like an evil creature in a nursery tale. He had been screaming in pain and terror, unable to drive away the crow, which had sensed weak prey. She had struck the bird with her fist and driven it off, seen that it had brought blood in two or three places on baby Mikey’s arms, and taken him to Dr. Stillwagon for a tetanus shot. A part of Mike had remembered that always – tiny baby, giant bird – and when It came to Mike, Mike had seen the giant bird again. (King 1230 f.)

Mikes Entwicklungsaufgabe besteht darin, eine vergessene traumatische Erfahrung mit einer für ihn lebensbedrohlichen Krähe zu bewältigen. Anders als bei allen anderen Figuren wird bei Mike allerdings kein räumlich getrenntes Moratorium wirksam. Mike bleibt in Derry und behält als einziger all die Jahre die Vergangenheit im Blick. Mike ist auch der einzige Überlebende des »Losers’ Club«, der beim finalen Kampf nicht anwesend ist.12 Bezeichnenderweise bezwingen die Kinder schon beim ersten Kampf mit Es in der Kanalisation einen Riesenvogel (King 1247 f.). Mikes Trauma, der Riesenvogel, wird also schon in der Kindheit besiegt. Folglich – so legt die Abweichung vom Erzählmuster nahe – bedarf es keiner Flucht, keiner weiteren Aufarbeitung der Angst und keines erneuten Abstiegs in die (eigene) Tiefe zu einer späteren Zeit. Die Ängste der anderen Figuren dagegen werden 27 Jahre konserviert und erst am Ende final bewältigt, positiv durch Überwindung oder negativ durch Tod.13 Diese Entwicklungen sind bei allen Figuren motivisch, vor allem räumlich, sehr klar gestaltet.

5 Die räumliche Mehrfachcodierung der Figurenentwicklung

Die Entwicklung der Figuren – also der Verlauf von einer unbewältigten Aufgabe zu einem 27-jährigen Aufschub bis zur finalen Bewältigung – ist räumlich mehrfach codiert.

Einerseits lässt sich eine globale Raumsemantik von Flucht vor der Angst und Heimkehr zur Angst nachweisen. »Duh-Duh-Derry is It. D-D-Do you uh-uh-understand m-m-me« (King 1303), stottert Bill in einem luziden Augenblick, bevor die Figuren nach dem ersten Kampf gegen Es in ihre individuellen Leben fliehen. Danach vergehen 27 Jahre, bis die Figuren nach Derry zurückkehren und Es besiegen. Die zwei Kämpfe in Derry rahmen somit das psychosoziale Moratorium, Derry wird so als Raum der eigenen Angst(-Bewältigung) konstituiert. Markant ist, dass diese globale Raumsemantik, die äußerlich andeutet, was innerlich passiert, auch auf der Ebene der Figurenempfindungen durchschlägt. Die Figuren verarbeiten Entwicklungsprozesse häufig raummetaphorisch. Auffällig ist das zum Beispiel bei der Rückkehr nach Derry. Bei allen Figuren wird die Bewegung nach Derry zur Metapher für zeitliche Rück- und psychologische Innenschau. Bei Richies Rückkehr mit dem Auto heißt es:

He put the car in gear and went, feeling again how easy it had been to slip through an unsuspected fissure in what he had considered as solid life – how easy it was to get over onto the dark side, to sail out of the blue into the black. (King 84)

Eddie denkt im Zug sitzend: »Going north, he thought, but that was wrong. Not going north. Because it’s not a train; it’s a time machine. Not north; back. Back in time« (King 122).

Und bei Bens Rückkehr im Flugzeug heißt es:

But it’s bells at twenty-seven thousand feet as the plane breaks into the clear again, […] and as he sleeps the wall between past and present disappears completely and he tumbles backwards through years like a man falling down a deep well […]. It’s 1981, 1977, 1969; and suddenly he is here, here in June of 1985. (King 199)

Die Reise nach Derry indiziert also die Reise in die Vergangenheit und damit die Rückkehr in die (verdrängte) Kindheit. Und in dieser Kindheit wartet – und zwar in der Tiefe der (je eigenen) Kanalisation14 – eine noch unerledigte Aufgabe, die mit dem finalen Schlag gegen Es bewältigt wird.

Andererseits wird die Entwicklung der Figuren durch ein zentrales Bild gespiegelt. Am Anfang des Romans dreht sich die Handlung sehr lange um einen Staudamm, den die sieben Freunde in den Barrens, einer sumpfigen Flusslandschaft, errichten. ›Barrens‹ lässt sich als Kurzform von ›barrennes‹ mit Unfruchtbarkeit übersetzen, was auf die spätere Zeugungsunfähigkeit der Figuren verweist. Der Staudamm ist das gemeinsame Projekt der Freunde, die Barrens sind ihr konstitutiver Wir-Raum.

There seems to be a spatial meta-structure especially, but not only, in the part of the individual ‘places’ and come together in the Barrens to form a circle of friends, thereby creating a ‘We-space’ (Van Peer/Graf 147).

Die Barrens und der Staudamm, das also, was den »Losers’ Club« eint, verweisen großflächig auf die globale Romanhandlung. Die Entwicklung staut sich in dem Stadium, in dem sich die Kinder schon am Anfang und dann nach dem ersten, unvollendeten Kampf gegen Es bis zum finalen Kampf befinden. Zwar müssen sie als Kinder den Staudamm wieder einreißen, weil die Kanalisation überzulaufen droht, doch der psychische Staudamm, der sie daran hindert, eine Familie zu gründen, eint die Figuren bis zum Ende, bis zum finalen Einriss. Als die Figuren Es dann endlich in einem spektakulären Endkampf als Erwachsene töten, zieht in Derry ein Sturm auf, der gestalterisch wie die Entladung einer aufgestauten Urkraft, wie das Brechen eines Staudamms, wie das Brechen ihres gemeinsamen inneren Staudamms inszeniert wird. So schließt sich die kompositorische Klammer der Kinder- und Erwachsenenwelt – sowohl innerlich als auch äußerlich. Der am Ende getätigte Entwicklungsschritt, der das psychosoziale Moratorium beendet, – man denke an Beverlys Lösung von ihrem Vater oder an Eddies Überwindung seiner psychosomatischen Hilfsbedürftigkeit in der Kanalisation –, wird von einer eruptiven Naturgewalt begleitet, die ikonisch die Entladung gestauter Entwicklungsprozesse codiert.

Die mit dem zerstörerischen Sturm abgeschlossene Figurenentwicklung wird obendrein mit einem unzweideutigen Schlussbild beglaubigt, das sich auf die Bibliothek von Derry, den konventionellen Ort der kulturellen Erinnerung, bezieht:

The glass corridor connecting the adult library to the Children’s Library suddenly exploded in a single brilliant flare of light. Glass flew out in an umbrella shape, whickering through the straining whipping trees which dotted the library grounds. Someone could have been severely hurt or even killed by such a deadly fusillade, but there was no one there, either inside or out. The library had not been opened that day at all. The tunnel which had so fascinated Ben Hanscom as a boy would never be replaced; there had been so much costly destruction in Derry that it seemed simpler to leave the two libraries as separate unconnected buildings. In time, no one on the Derry City Council could even remember what that glass umbilicus had been for. (King 1333)

Der Grenzgang zwischen den beiden Welten, der »glass corridor«, ist somit am Ende zerstört, der räumliche Übergang zwischen den zwei getrennten Lebenswelten geschlossen. Damit ist der Zustand »betwixt and between« Kindheit und Erwachsenenwelt überwunden. Das psychosoziale Moratorium bzw. die liminale Phase, in der sich die Figuren 27 Jahre lang befinden, endet also mit einem lauten Knall.

6 Fazit

Der Horror erscheint in Kings Roman nicht nur als Spiegel gesellschaftlicher Fehlentwicklung, sondern auch als Sprache der kindlichen Angst, der Angst vor Entwicklung, vor Ablösung, vor Neuem und Unbekanntem. Damit bekommt der Roman eine anthropologische Dimension. Stephen King macht in It explizit zum Thema, was Horror in der heutigen Medienkultur generell zu leisten vermag: »wie einst das Märchen fungiert nun das Horror-Genre als Vorwegnahme von Ablösungsprozessen und ›Subjektbildung‹« (vgl. Seesslen 522). Das mit dem Roman vermittelte Narrativ von entwicklungstreibenden Angstbewältigungsprozessen geht uns alle an. Das Monster als phantastischer Ausdruck individueller Angst vor den Anforderungen und Bedingungen der Welt, in die wir im Zuge unserer psychosozialen Entwicklung als nächstes eintreten, lauert in allen von uns. Vor allem lauert es in den Kindern. Dass die Neuverfilmung von 2017 diesem komplex gestalteten Narrativ mit der Formel ›Werde körperlich wehrhaft und setze dich durch!‹ begegnet (vgl. Reitzenstein und Steinmetz), ist bedauerlich, denn der Roman zeigt gerade die Individualspezifik von entwicklungsbezogenen Angstbewältigungsprozessen.

Über das anthropologische Narrativ hinaus erscheint Kings Klassiker – was seine Darstellungsstrategien angeht – von vorn bis hinten ästhetisch eindrucksvoll durchkomponiert. Wie gezeigt, spielt sich der eigentliche Horror nicht außerhalb, sondern innerhalb der Figuren ab. Die Monster und phantastischen Gefahren, die nur Kinder wahrnehmen und bekämpfen können, verweisen auf infantile Ängste, die zu überwinden eine zentrale Aufgabe der Adoleszenz ist. Das erfolgt bei den Figuren in It verzögert. Der Roman codiert diese verzögerte Entwicklung durch räumliche Grenzen und Grenzübergänge motivisch sehr klar. Die Flucht vor infantilen Ängsten führt zu räumlich isolierten Entwicklungshemmungen. Um diese zu lösen, bedarf es der Rückkehr an den Ursprungsort der Ängste. Die Ängste sind allerdings nicht an der Oberfläche zu bekämpfen, sondern nur in der (eigenen) Tiefe; sie erfordern den Eintritt in die Kanalisation. Diese und ähnliche Bewegungen spiegeln und wiederholen sich im Großen wie im Kleinen über den gesamten Roman hinweg. Der Roman unterhält nicht nur durch den Horror, der vom kinderfressenden Clown Pennywise ausgeht, sondern auch durch das komplexe Gefüge formensprachlicher Verweisungszusammenhänge, die entdeckt werden wollen. Der Reiz des Romans – und It steht dabei exemplarisch für eine Reihe von Romanen von Stephen King – geht nicht nur von dem Schrecken, sondern vor allem von den komplex konstruierten und mehrfach codierten Welten aus.

Notes

  1. Ausdrücklich nicht gemeint ist hier, dass Kings Roman (ausschließlich) Jugendliche zur Zielgruppe hätte. Vielmehr ist mit Carsten Gansel darauf hinzuweisen, dass der moderne Adoleszenzroman »bei aller Jugendspezifik keine dezidierte Zielgruppenliteratur mehr« ist (Gansel 172), sondern sich durch einen »offenen Leserbezug« (ebd.) auszeichnet. [^]
  2. Der Film IT (US 2017, Regie: Andy Muschietti) entwickelt durch Verschiebungen in den Details des Handlungsgefüges eine grundlegend andere Aussage zur Adoleszenz als der Roman (vgl. Reitzenstein und Steinmetz). Hinzu kommt, dass die Vernetzung von Kindheit und Erwachsenenwelt, die der Roman inhaltlich und gestalterisch durchgängig umsetzt, durch die isolierte Darstellung der Kinderwelt in Muschiettis Film (noch) gar nicht abgebildet werden kann. In diesem Beitrag wird der Film von Muschietti aber nur am Rande thematisiert; das primäre Referenzobjekt ist Kings Roman und dessen ästhetisch komplexe Gestalt. [^]
  3. In diesem Sinne spricht auch Adrian Daub von »seltsam zwischen dem Subjektiven und dem Kollektiven changierenden Phobien und Allegorien« (Daub, »Alptraum«). Die kollektive, d. h. gesellschaftsbezogene Dimension der im Roman dargestellten Ängste ist nur die eine Seite, die subjektive, d. h. individualpsychologische ist die andere. [^]
  4. Rehberger macht darauf aufmerksam, dass das zyklische Erscheinen von Es und die damit zusammenhängenden Gewaltorgien in Derry stets mit »historical recessions and depressions« (Rehberger 4) verbunden sind. Zwar zeigt die Stadt Derry generell »social ills from incest, child abuse, and battered women to rape, racism, and homophobia« (ebd. 3), zum Exzess werden diese gesellschaftlichen Missstände aber erst in der Rezession. Das Monster spiegelt somit ökonomische und soziale Probleme und deren Auswirkungen auf das soziale Zusammenleben. [^]
  5. Adrian Daub kritisiert diese Chiffrierung sogar als zu durchschaubar. Seiner Meinung nach geht »King beinahe psychoanalytisch an die Sache heran. Phobien und Obsessionen werden geradezu auf die Seite gekotzt, er scheint sich bewusst zu sein, wie klar lesbar sie sind. Aber er hofft eben, dass wir sie doch wiedererkennen, wie die Kinder von Derry, die spüren, dass in ihrer Welt schon lange etwas nicht stimmt« (Daub, »Alptraum«). [^]
  6. Schon Joachim Metzner (1980) sieht das Phantastische in der Literatur durch die »Wiederkehr des Verdrängten« (84) konstituiert und erachtet die Psychologie im Allgemeinen und die psychoanalytische Psychosetheorie im Besonderen als die wichtigsten Bezugsgrößen für die Theoriebildung zur phantastischer Literatur. Diesem bereits in die Jahre gekommenen, aber noch immer aktuellen Gedanken ist mit Blick auf Kings Roman zuzustimmen. Denn dort wird das Phantastische, das Monster, zweifelsfrei genutzt, um die Tiefenschichten des Ichs (im Rahmen seiner sozialen und familialen Bedingungen) auszuleuchten. [^]
  7. Die Zeitstruktur des Romans steht in diesem Funktionszusammenhang. Denn ähnlich wie Bernardo Bertolucci im Film IL CONFORMISTA (DER GROSSE IRRTUM, IT 1969) nutzt Stephen King in seinem Roman »eine anachronistische Erzählweise […], die auf eine Beleuchtung des Gegenwärtigen durch Vergangenes abzielt und sich dabei für psychoanalytische Erklärungsansätze öffnet« (Carpentieri und Fuchs 141). [^]
  8. In diesem Sinne versteht auch Adrian Daub das Monster, wenn er lakonisch feststellt: »Es verkörpert das Erwachsenwerden« (Daub, »Déjà-vu«). [^]
  9. Damit erzählt der Roman etwas, was Robin Wood als Grundthema des Horrors betrachtet: »One might say that the true subject of the horror genre is the struggle for recognition of all that our civilization represses or oppresses, its re-emerge dramatized, as in our nightmares, as an object of horror, a matter of terror, and the happy ending (when it exists) typically signifying the restoration of repression« (Wood 75). Interessanterweise lässt sich an der kinderliterarischen Phantastik des späten 20. Jahrhunderts die Tendenz beobachten, dass wir es »wie in der erwachsenenliterarischen Phantastik mit der Wiederkehr von Verdrängtem und Unterdrücktem zu tun« (Ewers 253) haben. Die Phantastik bekommt also in der Kinder- und Jugendliteratur Horrorzüge, insofern steht die phantastische Formensprache in It im Kontext einer übergreifenden literarischen Tendenz des späten 20 Jahrhunderts. [^]
  10. In einem luziden Augenblick hat Beverly sogar selbst die Einsicht: »I married my father« (King 1253), sagt sie zu ihren Freunden, als sie gemeinsam ihre Vergangenheit aufzuarbeiten versuchen. [^]
  11. Der Roman endet mit einem Dialog zwischen Bill und seiner Ehefrau Audra nach dem finalen Kampf: »She pushed him away so she could look at him. ›Bill, are you still stuttering?‹ ›No,‹ Bill said, and kissed her. ›My stutter is gone.‹ ›For good?‹ ›Yes,‹ he said. ›I think this time it’s for good.‹« (King 1375). [^]
  12. Mike kann den letzten Abstieg in die Kanalisation nicht beiwohnen, weil er schwer verletzt im Krankenhaus liegt. [^]
  13. Stan begeht Selbstmord, weil er sich nicht mit seiner Vergangenheit auseinandersetzen will, Eddie stirbt im Kampf gegen Es. Alle anderen überleben und überwinden ihre Entwicklungshemmungen – jeder auf seine eigene Weise. [^]
  14. Die Kanalisation trägt als Ort des menschlich Verdrängten, des Abgeschiedenen, dessen also, was zwar zu einem gehört, aber nicht gesehen werden möchte, eine konnotative und beinahe schon konventionalisierte symbolische Bedeutung (in Bezug auf psychische Tiefenstrukturen). [^]

Autor

Michael Steinmetz, Dr. phil. habil., Literaturdidaktiker und -wissenschaftler an der Justus-Liebig-Universität Gießen, Studium der Fächer Deutsch und Philosophie für das gymnasiale Lehramt an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Promotion 2012 an der FSU Jena; Habilitation 2019 an der JLU Gießen; Forschungsschwerpunkte: Theorie des literarischen Verstehens, Textkompetenzen, Bildungsstandards; Ausgewählte Publikationen: Der überforderte Abiturient im Fach Deutsch. Eine qualitativ-empirische Studie zur Realisierbarkeit von Bildungsstandards (2013), Materialgestütztes Schreiben. Grundlagen, Aufgaben, Materialien für die Sekundarstufen I und II (mit Helmuth Feilke, Katrin Lehnen und Sara Rezat, 2016), Konkrete Poesie. Spielarten poetischer Sprache im Deutschunterricht (Hg., 2018).

Konkurrierende Interessen

Der Autor hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Filmografie

BEFORE I WAKE (US 2016, Regie: Mike Flanagan).

IL CONFORMISTA (IT 1969, Regie: Bernardo Bertolucci).

IT (US 2017, Regie: Andy Muschietti).

PSYCHO (US 1960, Regie: Alfred Hitchcock).

SHUTTER ISLAND (US 2009, Regie: Martin Scorsese).

References

Carpentieri Saverio, Fuchs Gerhild and Neuhaus Stefan (2008) »Vom konventionellen Roman zum hochkomplexen Film: Bernardo Bertoluccis Moravia-Verfilmung Il Conformista (1970)«. In: Literatur im Film: Beispiele einer Medienbeziehung, 119-142. Königshausen & Neumann

Daub Adrian (2017) »Furcht einflößendes Déjà-vu« https://www.zeit.de/kultur/film/2017-09/es-andres-muschietti-stephen-king.

Daub Adrian (2016) »Unser kollektiver Alptraum« https://www.zeit.de/kultur/literatur/2016-09/stephen-king-es-roman-horror-30-jahre.

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