Nicht anders als monumental kann man die in den vergangenen beiden Jahren vorgelegte Studie zu den Philosophischen Grundproblemen in der Science Fiction bezeichnen, die von dem Bonner Philosophen Holger Nielen ausgearbeitet wurde. Auf nicht weniger als 1350 Seiten führt der Autor in die Thematik und ihre Geschichte ein und fügt daran fünf analytische Hauptkapitel, die sich großen Fragen der klassischen Philosophie widmen: der Geschichtsphilosophie, der Metaphysik, der Erkenntnistheorie, der Anthropologie, der Ethik und der politischen Theorie.

Ausführlich widmet sich Nielen zunächst der literaturwissenschaftlichen Debatte um die Einordnung der Science Fiction und ihrer Abgrenzung zur Phantastik, Utopie und Fantasy. Mit John Rieder begreift er die Gattung als eine »gewachsene« und »weiter wachsende«, deren Akzente sich stets weiterentwickeln, die aber als narrativen Kern stets das Verhältnis des Menschen zur Technik problematisiert (Bd. 1, 48). Dieser Logik folgend schließt sich ein einführendes Kapitel zum Problem der Technik an, das neben einer Klärung des Begriffes vor allem technikkritische Philosophen wie Karl Marx, Günther Anders, Oswald Spengler rezipiert. Mit Martin Heidegger und Wolfgang Giegerich ermutigt Nielen jedoch dazu, Technik – und damit auch Narrative von Technik – als heuristisches Mittel »auf der Suche nach den Grenzsituationen des Menschlichen zu nutzen« (Bd. 1, 16, 54–67). Hierbei ist anzumerken, dass der Autor davon ausgeht, der Mensch verfüge über ein »unwandelbares Wesen «, da er sprach- und vernunftbegabt sei (Bd. 1, 52). Eine kundig geschriebene, kleine Geschichte der Science Fiction rundet die Prolegomena ab.

Ausgangspunkt der nachfolgenden Untersuchung ist Nielens These, dass die Probleme, mit denen sich die Science Fiction befasst, vor allem philosophische seien und die Science-Fiction-Literatur gleichsam als Seismograph der Gesellschaft – als Geschichtsphilosophie und Selbstverständnis unserer Zeit – fungiere: »Schon seit einiger Zeit leben wir in der Zukunft. Wir leben mit ihr und von ihr«. (Bd. 1, 5). Die analytischen fünf Kapitel gliedern sich stets in die zwei Teile einer philosophischen Einleitung und daran anschließenden thematischen Beispielen aus der Science Fiction, wobei Nielen nicht nur literarische Werke europäischen und US-amerikanischen Ursprungs heranzieht, sondern ebenso Filme und Fernsehserien.

Wenn Nielen nun den Beginn der Geschichtsphilosophie im Christentum verortet (in der biblischen Eschatologie und bei Augustinus), so korrespondiert dies mit seiner Auffassung, dass die Science Fiction »prinzipiell ein Phänomen des christlichen Abendlandes ist« (Bd. 1, 99). Die geschichtsphilosophischen Theorien von Auguste Comte, Immanuel Kant, Georg Wilhelm Hegel, Karl Marx und Friedrich Engels, Friedrich Nietzsche, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sowie Hayden White präsentiert Nielen prägnant, bevor nun verschiedene Zeitmotive der Science Fiction diskutiert werden wie Zeitreisen, das Ende der Menschheit sowie alternative und parallele Geschichte(n).

In seiner Studie zur Metaphysik berührt Nielen zunächst die Frage nach der Wirklichkeit und der virtuellen Realität und anschließend das Problem der Identität des Ich, die er philosophisch mit zahlreichen Positionen – von René Descartes, Kant, David Hume, John Locke bis zu Jean-Paul Sartre, Paul Ricœur und Emmanuel Lévinas – illustriert. Literarisch thematisiert er an dieser Stelle vornehmlich die Werke von Philip K. Dick und Stanisław Lem.

Ludwig Wittgenstein, Edmund Gettier und Willard Van Orman Quine sind Nielens Bezugspunkte, wenn er in seinem dritten analytischen Kapitel das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Science Fiction vertieft. Dabei interessiert ihn insbesondere das Verstehen des Fremden, zu dem ihm die Science Fiction ein »kognitives Modell« liefert, wie er es mit Hilfe von Romanen hauptsächlich von Lem und der Brüder Arkadi und Boris Strugazki veranschaulicht.

An diese Überlegungen schließt Nielen auch im nächsten Hauptkapitel zur Anthropologie an, in dessen Rahmen er sich zum Teil kritisch, zum Teil affirmativ mit den Theorien von Kant, Nietzsche, Max Scheler, Helmuth Plessner und Giorgio Agamben auseinandersetzt. Anthropologie ist für Nielen stets auch die Begegnung mit dem Anderen und Fremden, auch dem Nicht-Menschlichen, den Tieren. Er wehrt sich dabei ausdrücklich gegen die modisch gewordene Position, die definitorische Grenze zwischen Mensch und Tier durchlässiger werden zu lassen. Diese Diskussion verdanke ihre Relevanz für Nielens Studie der Tatsache, dass das Tier die erste Begegnung des Menschen mit einer anderen Lebensform ist, die nun prägend sei für das Verhältnis zu Robotern, Cyborgs und künstlichen Intelligenzen (Bd. 2, 80–86). Als besonders innovativ erweist sich Nielens Erörterung, wenn das in der Science Fiction meist marginalisierte Thema der Sexualität und ihren Machtstrukturen aufgegriffen wird. Eingehend werden diese Fragen nun mit vielfältigen Literaturbezügen bedacht (von H. G. Wells und Aldous Huxley bis zu George Orwell und Isaac Asimov). Auch aktuelle Filme wie Denis Villeneuves Arrival (US 2016), Wally Pfisters Transcendence (US 2014) und mehrere Star-Trek-Episoden und -Filme rezipiert Nielen in diesem Zusammenhang.

Diese Diskussion führt den Verfasser nun zu ethischen Fragestellungen, auch der Ethik des Fremden und der Menschenrechte, deren Grundlagen er mit Verweis auf Hume, Kant, John Stuart Mill, John Rawls, Jürgen Habermas und anderen skizziert. Im Zentrum stehen in diesem Kapitel die Roboterethik und biotechnologische Probleme der Gentechnik, des Klonens und von Transplantationen. Narrativ spannt Nielen an dieser Stelle den weitesten Bogen von Mary Shelleys Frankenstein (1818) bis zu Star Trek und GATTACA (US 1997, Regie: Andrew Niccol).

Ist der gesamte dritte Band der politischen Theorie vorbehalten, so fällt auch die theoretische Herleitung ungleich ausführlicher aus als in den vorhergehenden analytischen Kapiteln. In drei Schritten werden die Grundlagen der politischen Theorie (von Platon bis Jean-Jacques Rousseau), sozialistische Staatstheorien (von Camille Saint-Simon bis Michel Foucault) und der utopische Diskurs (von Karl Mannheim bis Ernst Bloch) entfaltet. Es schließen sich sechs Unterkapitel zu klassischen Utopien und Dystopien, zu ökologischen Alternativen und feministischen Utopien sowie zum Cyberpunk und zu indifferenten Utopien an. Ein resümierendes Kapitel identifiziert die drei Themenkreise der Ökonomie, der Unsterblichkeit und der Erlangung von Transzendenz innerhalb dieser utopischen und dystopischen Entwürfe.

Nielens Studie endet mit einem kurzen Plädoyer für eine »Kritische Science Fiction«, die fragt, »inwiefern sich der Mensch vom Roboter unterscheidet und nach dem Wesen des Menschen unter dem Aspekt der Mehrheit der Welten«. Kritische Science Fiction will Nielen zufolge in der Begegnung mit Außerirdischen und Robotern die ethischen und anthropologischen Fragen behandeln, »nach welchen Zielen, Zwecken und Werten der Mensch handeln soll«. Sie soll auf diese Weise zur »Mahnerin und Warnerin« vor bedrohlichen gesellschaftlichen Zukunftsszenarien werden (Bd. 3, 388).

Holger Nielen hat sich mit seinem Werk große Verdienste erworben, indem er den klassischen philosophischen Diskurs mit den drängenden technologischen, gesellschaftlichen und ökologischen Fragen der Gegenwart verbindet, wie sie in der Science Fiction ihren Ausdruck finden. Seine Studie zeugt von einer breiten Kenntnis der europäischen Philosophie und der Science Fiction, von der die pointierten und leserfreundlichen Kapitel enorm profitieren. Es ist ihm durchweg zuzustimmen, wenn er es als ein »Gebot der Zeit« bezeichnet, sich philosophisch mit Science Fiction auseinanderzusetzen (Bd. 1, 1). Für die Schule und das Studium der Philosophie und Literatur hat Nielen mit seiner Publikation eine äußerst nützliche roadmap‹ erarbeitet, die es erleichtern wird, den intellektuellen Nachwuchs mitten im Leben abzuholen.

Eine Schwäche des Werkes liegt in der in einigen Kapiteln nur skizzenhaft ausgearbeiteten Verbindung zwischen den philosophischen Ausführungen und den Beispielen aus der Science Fiction; diese Arbeit ist in den meisten Fällen noch von der geneigten Leserschaft zu leisten. Als Beispiel für dieses Defizit sei auf Nielens Analyse von The Time Machine (1895) des wohl bekanntesten klassischen Science-Fiction-Autoren, H. G. Wells (1866–1946), verwiesen: Die Ausführungen Nielens bleiben fast vollständig werkimmanent, die zeitgeschichtliche Verortung von Wells Biografie und sein politischer Standpunkt sowie die philosophischen Kontexte seiner Zeit bleiben unberücksichtigt (er war Mitglied der sozialistischen Fabian Society, lange Zeit pazifistisch engagiert, traf sowohl Lenin als auch Stalin persönlich).

Undurchsichtig bleibt auch Nielens eigenes Vorverständnis als philosophischer Autor. Präsentiert er sich im Allgemeinen als ein kundiger Vergil, der uns durch die philosophischen Untiefen der Science Fiction führt, so scheint an zahlreichen Stellen auch ein scharfer Literaturkritiker und ein Philosoph mit deutlichen Positionen durch, zum Beispiel wenn er resümiert, dass die »menschliche Natur überhaupt« aufgelöst werde, »wenn alle Organe austauschbar sind, wenn das Geschlecht zur Disposition steht« (Bd. 2, 511). Seine philosophische Position wird allerdings nirgends systematisch expliziert, was hilfreich wäre, um seine teils kulturkritischen Kommentare einordnen zu können. Zudem wirkt die Rede von dem »Selbstverständnis unserer Zeit« und gar der »abendländischen Menschheit« an manchen Stellen zu holzschnittartig und wird der Heterogenität des gesellschaftlichen Zeit- und Zukunftsverständnisses – wie es sich ja auch in der Science Fiction zwischen naiver Technikeuphorie und Dystopie wiederspiegelt – nicht gerecht.

Leider gibt der Autor auch keinen Einblick in die Logik seiner materialen Auswahl im Rahmen der Science Fiction. Unklar bleibt daher, warum einige literarische Klassiker wie Samuel Butler, Alfred Kubin, Herbert Franke oder jüngere Werke von Veronica Roth und Suzanne Collins sowie Film- und TV-Produktionen – wie Interstellar (US 2014, Regie: Christopher Nolan), Altered Carbon (US 2018–2020, Idee: Laeta Kalogridis), The 100 (US 2014–2020, Idee: Jason Rothenberg) – die signifikant neue Akzente setzten, gar nicht berücksichtigt wurden.

Die Philosophischen Grundprobleme in der Science Fiction sind trotz ihres monumentalen Charakters von explorativer Natur. Das bedeutet, dass Nielens Œuvre nicht den Endpunkt einer Philosophie der Science Fiction markiert, sondern deren Beginn. Sie verleiht uns wertvolle Impulse für eine intellektuelle Reise in unbegrenzt phantastische Gefilde, »die nie ein Mensch zuvor gesehen hat«.

Autor

Dr. phil. Holger Nielen (*1966) studierte Geschichte, Philosophie, Religionswissenschaft und röm.-kath. Theologie an den Universitäten Bonn und Düsseldorf. Nach seiner religionswissenschaftlichen Promotion war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter auf verschiedenen Positionen an den Universitäten Bonn und Köln tätig und lebt heute als freischaffender Dozent und Autor.

Konkurrierende Interessen

Der Autor hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.