Die Zukunftsstadt ist der privilegierte Topos der Utopie, beide sind oft gleichbedeutend. Dementsprechend reichhaltig ist die Forschungsliteratur, die sich mit Zukunftsstadtdarstellungen in verschiedenen Medien und Künsten wie Literatur, Architektur oder Film beschäftigt. Der Zukunftsstadt im Medium Film widmet sich die umfangreiche, 692 Seiten zählende Studie von Peter Podrez, eine überarbeitete Fassung seiner an der Universität Erlangen-Nürnberg eingereichten Dissertation, die hinsichtlich ihres Formats und Gewichts auch als Habilitation gelten könnte. Allein die Filmographie umfasst weit über 200 Filme, von denen 160 in der vorliegenden Studie berücksichtigt werden. Damit ist ein repräsentatives Korpus gegeben, das auch weniger bekannte Filme umfasst. Im Rahmen dieser Besprechung können nur einige Aspekte dieser außergewöhnlich kenntnisreichen Studie herausgestellt werden.

Das Buch besticht durch ein ausgewogenes Verhältnis von Theorie und differenzierten Einzelanalysen. Wenn sich auch die ersten Kapitel dem Usus von Qualifikationsarbeiten entsprechend etwas langatmig in Definitionsritualen und historischen Ableitungen ergehen, werden hier Grundlagen der Analyse wie etwa diverse Zukunftskonzepte oder Funktionen der Stadt dargelegt. Einleuchtend zeigt der Verfasser die historische Affinität von Film und Stadt: Für die Verbreitung und Nutzung massenmedialer Technologien ist die Stadt als von vornherein medial durchdrungener und geformter Raum ausschlaggebend (73–78). Das vierte Kapitel (89–148) bietet einen gut lesbaren Überblick über die Geschichte der Stadtvisionen von der Antike bis zur Gegenwart, wobei sich das historische Resümee auf vorhandene Forschungsergebnisse stützen kann. Eigenständig gestaltet sich die Argumentation ab dem 5. Kapitel. Der Verfasser führt genauer aus, dass der Film als Bildmedium prädestiniert ist, zukünftige, sprich: visionäre Inhalte darzustellen.

Kritisch positioniert sich Podrez zu Eric Rohmers Auffassung vom Film als Kunst der Raumorganisation und stellt ihr eine dem Film zugrundeliegende dynamische Raumkonzeption entgegen. Im Sinne der Topologie entfalte der Film die einzelnen filmischen Orte als relationale. Eine weitere Dimension, die für ein topologisches Raumkonzept in Anschlag gebracht wird, ist die akustische. Visuelle und akustische Räume können im Film zusammenwirken, aber auch divergieren. In diesem Zusammenhang und anknüpfend an die filmtheoretischen Arbeiten von Gilles Deleuze stellt Podrez die Frage nach der Semantik, insbesondere nach der erzählerischen Funktion der Raumdarstellung. Der Bedeutungsverlust und die Dysfunktionalität filmischer Räume wird etwa in Anschluss an Deleuze am Beispiel des Filmwerks von Yasujiro Ozu gezeigt.

Mit dem sechsten Kapitel beginnt die Auseinandersetzung mit spezifischen utopischen bzw. dystopischen Stadtvisionen. Was Podrez über den einflussreichen Filmklassiker Metropolis (DE 1927, Regie: Fritz Lang) im Kontext späterer, an ihn anknüpfender oder ihn konterkarierender Filme ausführt, ist teilweise bereits bekannt, etwa die Eigenschaft des Neuen Turms Babel als Blick- und Machtzentrum einer patriarchalen ökonomischen und politischen Herrschaft. In diesem Zusammenhang stellt sich die vom Verfasser vernachlässigte Frage, wie sich die für Metropolis prägenden Formen weiblicher Führerschaft in der Stadtvision manifestieren. Überzeugend ist die Analyse der unterirdischen Stadträume in Metropolis, wonach die irritierende Inkohärenz der repräsentierten Räume mit der Orientierungslosigkeit der Figuren, die sich in ihnen bewegen, korreliert (326).

Die ausführliche Darstellung der Zerstörung der Maschinen- und Arbeiter*innenstadt in Metropolis bildet eine Brücke zu Kapitel 7, das sich mit »postapokalyptischen Stadtvisionen« in neueren Filmen beschäftigt. Hier handelt es sich zu einem Teil um kupierte Apokalypsen, bei denen auf den Untergang kein Neubeginn folgt, zum anderen Teil wird der Wiederaufbau der Stadt nach der Apokalypse ins Bild gesetzt. Mehr erfahren hätte man in diesem Zusammenhang gern über den Bezug dieser Stadtvisionen zur Architekturavantgarde seit den 1960er-Jahren, die in Kapitel 4 (140–147) kurz abgehandelt wurde. Das Verhältnis zwischen (Stadt-)Architekturtheorie und filmischen Zukunftsstädten bzw. filmisch dargestellten beweglichen posturbanen Räumen wäre eine lohnende Aufgabe, wird in der vorliegenden Studie aber nur sporadisch angesprochen.

Kapitel 8 befasst sich mit »extraterrestrischen Stadtvisionen«. Besonders hervorzuheben ist die postkoloniale, antiimperialistische Wende, die Podrez am Beispiel von Filmen wie Interstellar (US 2014, Regie: Christopher Nolan) oder Star Trek Beyond (US 2016, Regie: Justin Lin) demonstriert. Es geht nicht mehr um die Eroberung und Besiedlung fremder Planeten, sondern darum, »orbitale Städte in Form riesiger Raumstationen zu erschaffen« (554). Eine andere Form der Widersetzlichkeit repräsentieren die frühen antikapitalistischen Stadtvisionen im sowjetischen Film, deren Untersuchung das 8. Kapitel abschließt.

Das Buch wird durch ein 44-seitiges Fazit abgerundet. Für die filmischen Stadtdarstellungen bringt der Verfasser drei Bewegungsmuster in Anschlag: die vertikale, die horizontale und die konzentrische. Der Auffächerung der verschiedenen urbanen Funktionen, die in den Filmen thematisiert werden, stehen dysfunktionale Räume gegenüber, die besonders in postapokalyptischen Visionen in den Vordergrund treten. Diskussionswürdig sind die intermedialen Differenzen zwischen Film, Literatur und Architekturzeichnung, die der Verfasser hervorhebt: Auf thematischer Ebene spielen im Film im Vergleich zur Literatur Bildung und Erziehung eine geringere, Handel und Konsum sowie Verkehr und Medien dagegen eine größere Rolle. Ebenso wie die moderne Literatur und im Unterschied zur Architekturzeichnung betont der Film audiovisuell die Dynamik der dargestellten Stadträume (605). Podrez schließt daran folgende These an: Die Architekturzeichnung betrachte den städtischen Raum aus einer Außen-, die Literatur aus einer Innenperspektive. Der Film synthetisiere diese beiden Blickmuster, indem er »permanent zwischen dem Status einer göttlich-kontrollierenden und einer kreativ-involvierten Instanz changiert« (605). Was die Literatur betrifft, ist diese Differenzierung nicht überzeugend. Denn eine zwischen Innen- und Außensicht gleitende Erzählperspektive ist gerade eines der markantesten Merkmale der Architekturdarstellung in der modernen Literatur.

Solchen simplifizierenden vorschnellen Verallgemeinerungen auf theoretischer Ebene stehen die vielen Einzelanalysen gegenüber. Wenn das Buch auch aufgrund der Fülle des bearbeiteten Materials passagenweise den Eindruck vermittelt, zwischen einem Hang zu kompendiösem Auflisten und einer übergestülpten Kategorisierung zu oszillieren, so kann es doch als nicht zu übergehendes Standardwerk betrachtet werden.

Autor

Roland Innerhofer, emeritierter Universitätsprofessor für Neuere deutsche Literatur am Institut für Germanistik der Universität Wien. Zahlreiche Beiträge zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; Phantastik, Utopie und Science-Fiction; Theorie und Praxis der Avantgarden; Medienästhetik, Medienkulturwissenschaft und Wissenspoetik; Wechselverhältnis von Literatur, Technik, Architektur, Film und neuen Medien. Zuletzt erschienen: Architektur aus Sprache. Berlin 2019; Mitherausgeber: Planen – Wohnen – Schreiben. Architekturtexte der Wiener Moderne. Wien 2021; Teilweise Musil. Kapitelkommentare zum »Mann ohne Eigenschaften«. Dritter Band: Bauform und Lebensform – erzählte Architektur. Berlin 2022.

Konkurrierende Interessen

Der Autor hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Filmografie

Interstellar. Regie: Christopher Nolan. US 2014.

Metropolis. Regie: Fritz Lang. DE 1927.

Star Trek Beyond. Regie: Justin Lin. US 2016.