Cyberpunk als (Sub-)Genre und Bewegung wird meist in den 1980er-Jahren und in der Literatur verortet – das Bild prägen Autoren wie William Gibson, Bruce Sterling oder John Shirley. Zeitgenössische Ausformungen des Genres lassen sich hingegen eher im Bereich des Films – etwa BLAME! (JP 2017, Regie: Hiroyuki Seshita,), GHOST IN THE SHELL (US 2017, Regie: Rupert Sanders), BLADE RUNNER 2049 (US 2017, Regie: Denis Villeneuve), MUTE (GB/DE 2018, Regie: Duncan Jones), READY PLAYER ONE (US 2018, Regie: Steven Spielberg), ALITA: BATTLE ANGEL (US 2018, Regie: Robert Rodriguez,) –, der TV-Serien MR. ROBOT (USA Network 2015, Idee: Sam Esmail) und ALTERED CARBON (Netflix 2017, Idee: Laeta Kalogridis) sowie des Videospiels1 und damit verstärkt in visuellen Medien finden. Während die Technologie und Digitalisierung alle Aspekte des alltäglichen menschlichen Lebens verändert und restrukturiert, scheinen die thematischen wie visuellen Ausformungen des Cyberpunk aktueller denn je – »we are surrounded, inundated, and saturated by media technologies« (xxii). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, Cyberpunk als immer auch rückwärtsgewandte und historisierte Form produktiv in die sozial- und kulturtheoretische Spezifik des 21. Jahrhunderts, in aktuelle und visuelle Modi des »techno-cultural engagement« (xvii) zu integrieren.

Mit dieser Absicht versammelt der vorliegende Sammelband einige große Namen der Science-Fiction-, Fantastik- und Cyberpunk-Forschung, um eine wichtige Leerstelle in der bisherigen Beschäftigung mit Cyberpunk als allgegenwärtigem und ausgeprägt visuellem Bestandteil der zeitgenössischen Medienkultur zu füllen. Diese wurde so explizit zuvor nur – wohlweislich gebunden an einen sehr viel engeren nationalen wie theoretischen Kontext – in Tokyo Cyberpunk: Posthumanism in Japanese Visual Culture von Stephen T. Brown angesprochen (welcher allerdings nur in einem Artikel kurz Erwähnung findet (97) und es nicht einmal in den Index schafft). Als grundlegende theoretische Herangehensweise wird die Visualität – die Sichtbarkeit im Sinne der Fähigkeit zu sehen und gesehen zu werden in Anlehnung an Nicholas Mirzoeff (xxv) – von Cyberpunk-Narrativen ins Zentrum der akademischen Untersuchung wie auch der kulturellen Relevanz des Genres gerückt. Gleichwohl wird Cyberpunk viel weniger als Genre denn als ästhetische Position (51) und vor allem als kulturelle Formation nach Thomas Foster verstanden (xxi). Wie Mitherausgeber Graham J. Murphy in seinem Beitrag abschließend feststellt: »Cyberpunk-as-genre may continue to have traction, but it is cyberpunk-as-cultural-formation where cyberpunk truly lives and thrives in the 21st century« (52). Eine wichtige Rolle spielt hierbei die Einordnung von Cyberpunk als Element der visuellen Kultur in den Kontext der Postmoderne (xxi), in welchem das Sichtbare und die Bilder zunehmend den Alltag dominieren und die mediale Perspektive sich auf primär visuell konzipierte Formen verschiebt, deren Verständnis und Analyse wiederrum nach ebensolchen neuen theoretischen Systemen verlangen (xxiii).

Das elegant geschriebene Vorwort von first-wave-Cyberpunk-Forscher Scott Bukatman liefert neben einer kurzen theoriegeschichtlichen Einordnung gleichzeitig die Terminologie für die inhaltliche Grundstruktur, entlang derer sich die Argumentation in den folgenden drei Teilen entfaltet: von der literarischen zur visuellen Form, vom Visuellen zum Virtuellen und von dort aus hin zur Fruchtbarmachung des Cyberpunk als »fiction capable of engaging with the world as shaped by information technology« (xvi).

Im ersten Teil wird Cyberpunk erfolgreich von seinen literarischen Wurzeln losgelöst, indem ausführlich und aus differenzierten Blickwinkeln die Dominanz visueller Metaphern und die notwendige Allgegenwart bildhafter, hyperdeskriptiver Sprache in der Cyberpunk-Prosa verdeutlicht wird, deren visuelle Ästhetik wiederum als maßgeblich für Konstitution und Verbreitung des Cyberpunk geltend gemacht wird (u. a. 81). Indem Cyberpunk als visuelle Ausformung der sozialen Wirklichkeit und dementsprechend als visuelle Kultur verstanden wird (xxiii), erklärt sich gleichzeitig auch seine fortdauernde Präsenz und Relevanz in zeitgenössischer (Pop-)Kultur und im kulturellem Bewusstsein, wo er von primär visuellen Medien wie Videospielen, Comics, Film, Fernsehen und digitaler Kunst festgehalten und weiter geprägt wurde, wie im zweiten Teil des Bandes näher erläutert wird.

Die Beiträge bewegen sich dabei auf einem nahezu durchgängig hohen Niveau und verfolgen eine gemeinsame theoretische Grundlage, die im Verlauf des Buches aufrechterhalten, geteilt und erweitert wird. Als gemeinsame Referenzpunkte dienen unter anderem Marshall McLuhan, N. Katherine Hayles, Donna J. Haraway, Frederic Jameson, Jean Baudrillard, aber auch Rosi Braidotti, Nicholas Mirzoeff, Thomas Foster und Sherryl Vint. Diese und andere häufig zitierte Autoren knüpfen die einzelnen Beiträge zu einem konzeptuellen Ganzen zusammen, wiederholen sich mitunter allerdings doch auch etwas zu häufig. Was bei Vints Diagnose der Möbiusband-ähnlichen Verflechtung des Materiellen und des Simulierten in der heutigen Welt (xxiii, 36, 104, 187, 191, 194, 247) noch durchaus verkraftbar und der Argumentation zuträglich ist, wird bei der vierten und fünften Wiederholung von William Gibsons berühmter Anekdote zu spielenden Kindern in Game-Arkaden als Inspiration für seinen Entwurf des Cyberspace (21, 101, 155, 178, 264), so passend sie auch sein mag, etwas mühsam.

Doch durch die kurzen Einführungen zu den einzelnen Sektionen werden diese redaktionell sehr gut in der Gesamtargumentation situiert und verlieren trotz ihrer teils engeren theoretischen oder analytischen Ausrichtung auf ihren spezifischen Gegenstand nie völlig die Relevanz zur Grundthese des Werkes. Murphy bindet beispielweise mit seiner Analyse der Volltext-Comic-Adaption von Do Androids Dream of Electric Sheep? auch Philip K. Dick trotz des zeitlichen Abstands stimmig in eine Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Cyberpunk ein – und zwar recht kontrovers nicht nur als einen das Genre antizipierenden, sondern es gleichsam definierenden Autor (52). Immer wieder wird auch der retrofuturistische Bezug des Genres fruchtbar erläutert, angefangen in Christian Hviid Mortensens Diskussion von Transmetropolitan, in welcher er immer wieder auf anachronistische Momente und Technologien zu sprechen kommt, um diese Verbindung von Medienfuturismus und Medienanachronismus als zentral für eine Cyberpunk-Poetik herauszuarbeiten (6, 13). Paweł Freliks medien- und epochenübergreifendes Kapitel »›Sillhouettes of Strange Illuminated Mannequins‹: Cyberpunk’s Incarnations of Light« beschäftigt sich hingegen mit der Verwendung bestimmter Lichtinszenierungsstrategien, deren visuelle Nostalgie er mit gelungener Bezugnahme auf Jamesons Überlegungen zur kulturellen Amnesie und der Vergangenheit als Bildersammlung (93, 97) feststellt.

Den Beiträgen des dritten und letzten Teils liegen die Annahme und der Eindruck einer Konvergenz von Zukunft und Gegenwart, von Science Fiction und realtechnologischen Entwicklungen zugrunde. Besonders hier eröffnen sich spannende Forschungsperspektiven, die ein breiteres internationales Spektrum miteinschließen. So bringen zum Beispiel Evan Torners Fundstücke im bundesdeutschen Kino der 1980er-Jahre eine erfrischende Bewegung weg vom engen Fokus auf US-amerikanische und japanische Kulturerzeugnisse mit sich, die den Horizont und das Verständnis von Cyberpunk als visuelle Kultur erweitert. Seine Analyse des dort zu findenden Zukunftspessimismus (196, 209 f.) liefert eine wohlinformierte und differenzierte Einbettung in die deutsche und europäische Filmgeschichte, die dem Band sehr zugute kommt, wenn auch oder gerade weil sie etwas abseits der sonst recht linearen Argumentation operiert. Ähnlich bereichernd ist Mark Boulds Betrachtung afrikanischer Filme, die nicht nur einen Kontinent in den Vordergrund stellt, der im Kontext des Cyberpunk oft marginalisiert, vernachlässigt oder ganz ausgelassen wird, sondern auch das Augenmerk auf die politischen Aspekte des Cyberpunk lenkt, die im gesamten letzten Teil stärker verhandelt werden.

Die viel zitierte Sherryl Vint ist schließlich auch mit einem eigenen Artikel vertreten, der sich der Konvergenz von Cyber- und Militärkultur im Cyberpunk-Kino annimmt. Besonders ihre Analyse von ENDER’S GAME (US 2013, Regie: Gavin Hood) bindet sich nicht nur nahtlos in den vorher im Buch geführten Diskurs über die Visualität von Videospielen sowie das Raum- und Ideenkonzept des Cyberspace ein, sondern überträgt die Bildsprache des Cyberpunk auch treffsicher auf den Zusammenhang zwischen visueller Science-Fiction-Kultur und militärpolitischer Realität bis hin zu Kriegsführung (257).

Lars Schmeinks verhältnismäßig kurzer, aber konziser Schlusstext fasst die vergangenen Beiträge in jeweils kurzer Erwähnung noch einmal zusammen und integriert sie in seine Argumentation von Cyberpunk als countervisuality im Spätkapitalismus, der in einer post-panoptischen Welt die Möglichkeit bietet, als Subjekt die Autorität über das Sehen und die Interpretation des Gesehenen zurückzugewinnen (277). Verhandlungen einer posthumanen Subjektivität und Verkörperung werden ebenso wieder aufgegriffen wie die fortlaufende Beschäftigung mit Materialität und Menschlichkeit, Simulation und Wirklichkeit sowie dem subversiven Potenzial des cyberpunk-as-cultural-form.

Gerahmt und miteinander in Verbindung gesetzt durch die jeden Teil einführenden Überlegungen der Herausgeber ergibt sich insgesamt eine kohärente und überzeugende Argumentation, die die Visualität des Cyberpunk medienübergreifend in den Vordergrund stellt und im aktuellen Zeit- und Kulturgeschehen verortet. Die eingangs formulierte Einschätzung »Cyberpunk has become part of our cultural web of references and provides a cornerstone of our imagining a technology-driven futurity« (xxv) wird im Verlauf des Bandes ausführlich bestätigt und erweitert, wodurch sich im Ganzen ein beachtenswerter Beitrag zur aktuellen Kultur- und Medienanalyse, besonders natürlich im Bereich der Fantastik, ergibt, dessen Ergebnisse auch als Ausgangspunkt weiterer Arbeiten sinnvoll und langfristig relevant erscheinen.

Notes

  1. Beispielsweise in OBSERVER (2017), RUINER (2017), RAIN OF REFLECTIONS (2018), DETROIT: BECOME HUMAN (2018), THE LAST NIGHT (angekündigt) und CYBERPUNK 2077 (angekündigt). [^]

Autorin

Janine Leona Schleicher studiert derzeit im Master Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin und im Bachelor Medieninformatik an der Beuth Hochschule für Technik Berlin. Zu ihren Interessensgebieten gehören filmische Inszenierungen von Erinnerung, Science Fiction, Neurophilosophie, Körpertheorie und Digital Humanities.

Konkurrierende Interessen

Die Autorin hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

References

Brown Steven T. (2010) Tokyo Cyberpunk: Posthumanism in Japanese Visual Culture, Palgrave Macmillan