Der zweisprachige Sammelband Au-delà de la littérature fantastique et du réalisme magique / Más allá de la literatura fantástica y del realismo mágico (Abb 1.) präsentiert die Arbeitsergebnisse der gleichnamigen Sektion, welche die Herausgeberinnen Sarah Burnautzki, Daniela Kuschel und Cornelia Ruhe beim Romanistiktag 2019 in Kassel gemeinsam geleitet haben. Gemäß der gesamtromanischen Ausrichtung der Tagung und der Sektion widmen sich die Beiträge im Forschungsfeld der Phantastik verschiedenen Sprach- und Kulturräumen der Romania. So finden neben mehreren französischen und frankophonen sowie spanischen und lateinamerikanischen Autor*innen auch brasilianische wie Murilo Rubião und rumänische wie Mircea Cărtărescu Berücksichtigung, die in der Romanistik sonst eher selten im Fokus stehen. Dieser transromanisch vergleichende Ansatz verdeutlicht das aktualisierte komparatistische Phantastikverständnis der Herausgeberinnen und Beiträger*innen. Dieses berücksichtigt sowohl literaturhistorisch als auch textimmanent die antirealistischen narrativen Mittel, mit denen alternative Erzählwelten in den Literaturen und Kulturen der Romania konstruiert werden.

Abb. 1
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Au-delà de la littérature fantastique et du réalisme magique / Más allá de la literatura fantástica y del realismo mágico

Die Einleitung der Herausgeberinnen greift die Corona-Pandemie aus der Entstehungszeit des Sammelbands auf, welche die Wirklichkeit unserer Lebenswelt durch den Lockdown schlagartig verändert hat. In dieser herausfordernden Zeit sind in der Öffentlichkeit neue Fragen an Realitätsansprüche, Machtstrukturen und soziale Konstruktionen gestellt worden, die auch die Phantastik und den magischen Realismus beschäftigen. Bereits im Jahr 2022, in dem der Sammelband erschienen ist, hatte die Corona-Pandemie durch die schrittweise Lockerung der Quarantäne- und Sicherheitsmaßnahmen allerdings schon an Geltung verloren und scheint inzwischen fast vollkommen vergessen. Dennoch bleibt sie ein konkreter und relevanter Bezugspunkt für die Aushandlung von Realitäten und möglichen alternativen Welten, um die es auch im Forschungsfeld der Phantastik geht.

In der Einleitung stellen die Herausgeberinnen die einzelnen Beiträge mit ihrer jeweiligen Kernaussage präzise vor und beziehen sie gegenseitig aufeinander. Als theoretische Grundlage dienen daraufhin die Ausführungen der deutschen Phantastik-Expertin Renate Lachmann, die eigens für den Sammelband ins Spanische übersetzt wurden. Lachmann unterscheidet unter Bezugnahme auf die Phantastik-Theoretiker Tzvetan Todorov, Jaime Alazraki und Paul Angel Flores drei Versionen des Phantastischen: Ausgangspunkt ist die ›traditionelle‹ Phantastik der Romantik im 19. Jahrhundert über unheimliche und zweifelhafte Vorkommnisse, etwa im Werk von Guy de Maupassant oder Prosper Mérimée aus Frankreich. Hinzu kommen Mitte des 20. Jahrhunderts die Neo-Phantastik, vor allem in den Kurzgeschichten des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar, und der magische Realismus in den Romanen anderer Autoren des lateinamerikanischen ›Booms‹ wie Gabriel García Márquez aus Kolumbien. Die Bewegung dieses ›Booms‹ hat die lateinamerikanische Literatur in den 1960er-Jahren in kürzester Zeit auf dem internationalen Buchmarkt etabliert, nicht zuletzt durch diese zwei neuen Formen der Phantastik und Bestseller-Romane wie Rayuela (1963) von Julio Cortázar und Cien años de soledad (1967) von García Márquez. Die Neo-Phantastik und der magische Realismus verbinden das übernatürliche Fremde mit dem bekannten Eigenen in der Lebenswelt der Figuren, welche die unerklärlichen Ereignisse weder hinterfragen noch deren Echtheit bezweifeln. Die viel diskutierte Abgrenzung zwischen Neo-Phantastik und magischem Realismus, die sich vor allem in der lateinamerikanischen Forschungsliteratur durchgesetzt hat, bleibt bis heute auch für Lachmann in mancher Hinsicht unklar. Es scheint jedoch, dass der magische Realismus mit einer noch größeren Selbstverständlichkeit und Objektivität als die Neo-Phantastik eine Erzählwelt mit eigenen Regeln schafft, in der das für uns Antireale durchweg real und normal ist.

Die 15 Beiträge, die auf Lachmanns Ausführungen folgen, beziehen sich jeweils auf mindestens eine der drei beschriebenen Versionen des Phantastischen. Allerdings könnten sie ihr eigenes Phantastikverständnis an einigen Stellen expliziter darlegen, da es wie der Untersuchungsgegenstand selbst teilweise etwas unpräzise bleibt. Die Aufsätze präsentieren praktische Fallstudien zu Lachmanns theoretischen Überlegungen. Diese selbst illustriert ihre Erläuterungen ebenfalls mit mehreren passenden Textbeispielen, etwa von Jorge Luis Borges aus Argentinien und E. T. A. Hoffmann aus Deutschland. Die abwechslungsreichen Fallstudien stammen sowohl von renommierten Vertreter*innen der deutschen Romanistik wie Anne-Sophie Donnarieix, Gesine Müller und Jobst Welge als auch von Nachwuchswissenschaftler*innen. Die Texte bewegen sich ausnahmslos auf einem hohen Niveau, wozu sicherlich auch die Peer Review der Herausgeberinnen beigetragen hat, die wie Renate Lachmann ausgewiesene Expertinnen im Forschungsfeld der Phantastik sind. Diesbezüglich richtet sich der Sammelband auch an ein vorgebildetes Fachpublikum, da an mehreren Stellen Grundlagenwissen der Phantastik vorausgesetzt wird.

Die Vielfalt der behandelten Autor*innen und Werke in ihren jeweiligen historischen, sprachlichen und kulturellen Kontexten verdeutlicht die innovative komparatistische Ausrichtung des Sammelbands. Etwas unerwartet ist allerdings die Reihenfolge der Beiträge, da sie anders angeordnet sind als in der Einleitung vorgestellt. Dort werden Themenfelder wie die Konstruktion kultureller Identität und Alterität, die Bewältigung individueller und kollektiver Traumata sowie die Aushandlung sozialer Machtstrukturen aufgezeigt. Das Inhaltsverzeichnis ist dagegen chronologisch nach Erscheinungsjahr der Primärtexte strukturiert. Dadurch springen die Beiträge fortwährend zwischen den verschiedenen Themenfeldern und Forschungsparadigmen sowie den unterschiedlichen Sprach- und Kulturräumen der Romania hin und her. Dies erfordert eine aktive und partizipatorische Haltung der Leser*innen, wenn sie den Sammelband als Gesamtwert rezipieren wollen. Für diesen Fall wären Zwischenüberschriften hilfreich gewesen, die in anderen Bänden derselben Reihe (Studien zu den romanischen Literaturen und Kulturen / Studies on Romance Literatures and Cultures, herausgegeben von Olaf Müller, Christian von Tschilschke, Ulrich Winter und Samia Kassab-Charfi) zur thematischen Strukturierung genutzt werden.

Abschließend seien an dieser Stelle exemplarisch noch drei Beiträge hervorgehoben, die sich Autor*innen und Werken aus dem lateinamerikanischen Kulturraum widmen. Denn in ihrer Kombination verdeutlichen diese Fallstudien die Vielschichtigkeit der Phantastik besonders gut: Anhand der oben genannten Romane Rayuela und Cien años de soledad untersucht Gesine Müller die Phantastik-Rezeption des lateinamerikanischen ›Booms‹ in anderen Regionen des Globalen Südens wie Ostasien. Dabei zeigt sie interessante Süd-Süd-Verflechtungen der Weltliteratur im Allgemeinen und der phantastischen Literatur im Besonderen auf. Vor dem Hintergrund der Animal Studies widmet sich Matei Chihaia hingegen den tierischen Hauptfiguren (Affen) in ausgewählten Erzählungen von Leopoldo Lugones aus Argentinien und Horacio Quiroga aus Uruguay, die um die Jahrhundertwende Vorläufer des ›Booms‹ waren. In ihren Texten repräsentieren die Affen das kulturell ›Andere‹ der indigenen Volksstämme Lateinamerikas und verbinden die phantastische Fiktion mit wissenschaftlichen Fakten aus der Evolutionsforschung. Im Bereich der Gegenwartsliteratur nach dem ›Boom‹ analysiert Vera Lucía Wurst unter Bezugnahme auf die Gender Studies wiederum die feministische Phantastik von Samanta Schweblin aus Argentinien. Diese hinterfragt die Rolle der Frau in patriarchalen Gesellschaften und entmythisiert in der Kurzgeschichte »Conservas« (2009) die ungewollte Schwanger- und Mutterschaft der Erzählerin durch eine phantastische Darstellung der Abtreibung. Diesen Beiträgen zufolge deckt die Phantastik auch innerhalb der lateinamerikanischen bzw. argentinischen Literatur ganz unterschiedliche Themenschwerpunkte ab. Die weiteren Fallstudien des Sammelbands über Autor*innen und Werke aus Frankreich und dem frankophonen Afrika sowie Spanien, Brasilien und Rumänien ergänzen dieses Panorama sinnvoll, etwa aus der Perspektive der Postcolonial Studies.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass es den Autor*innen gelungen ist, relevante, stichhaltige und kurzweilige Analysen über die phantastische Literatur und den magischen Realismus in der Romania zu verfassen. In ihrer Zusammenstellung durch die Herausgeberinnen überwinden die Beiträge als transromanisches Gesamtwerk zugleich sprachliche, kulturelle, zeitliche und räumliche Grenzen, während sie auf der inhaltlichen Ebene phantastische Grenzüberschreitungen zwischen dem Realen und dem Antirealen untersuchen. In dieser Hinsicht geht der Sammelband gemäß seinem Titel (»au-delà« oder »más allá« gleichbedeutend mit »jenseits«) methodologisch über das bisherige Forschungsfeld der Phantastik hinaus und zeigt vor allem für die Komparatistik neue wissenswerte Perspektiven auf.

Autorin

Laura Wiemer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für französische und spanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Dissertation Großstädte transkulturell erzählen (De Gruyter 2025) erforscht die fiktive Textstadt »Buenos Paris Aires« in argentinischen und französischen Stadttexten. Ihre Habilitation widmet sich der europäischen Märchenkultur im 17. und 18. Jahrhundert. Laura Wiemer war Gastdozentin an verschiedenen Universitäten in Frankreich, Spanien und Argentinien und hat mehrere Preise ihrer Hochschule gewonnen. Sie ist Organisatorin der Wuppertaler Malala Days zum Thema »Gender und Bildung im Globalen Süden« und der Online-Reihe »Was Frankreich bewegt«.

Konkurrierende Interessen

Die Autorin hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Zitierte Werke

Cortázar, Julio. Rayuela. Editorial Sudamericana, 1963.

García Márquez, Gabriel. Cien años de soledad. Editorial Sudamericana, 1967.

Schweblin, Samanta. »Conservas«. Pájaros en la boca. Literatura Random House, 2020 [2009], 19–25.