Fünfzehn Jahre nach der ersten Ausgabe des Routledge Companion to Science Fiction haben sich die Herausgeber:innen Mark Bould, Andrew M. Butler und Sherryl Vint (diesmal ohne Adam Roberts) entschlossen, eine Neuauflage und -konzeption des Bandes zu wagen. Ihr Argument hierfür, so entnehmen wir der Einleitung, ist die Tatsache, dass das Feld in den letzten Jahren eine Reihe von signifikanten Entwicklungen gesehen habe. So hat die Produktion von SF jenseits der anglophonen Welt (in Südamerika, Südkorea, Japan, China sowie bei indigenen Kulturen) einen enormen Aufschwung erlebt. Zudem hat sich SF außerhalb der Printmedien ausgebreitet (Film, Fernsehen, Podcasts, Comics, Computerspiele). Schließlich sehen viele die Welt heute mit woken Augen: Das Genre eignet sich hervorragend für Gedankenexperimente, in denen die Stimmen von Minderheiten (LGBTQ+, PoC, Indigene, Dissidenten) Aufnahme finden.

Die Frage aus der ersten Ausgabe, was denn nun SF sei, können die Herausgeber:innen mittlerweile ad acta legen – hier hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass das Genre jedweder Klassifizierung und Einordnung widersteht. Allerdings wird der Begriff SF im Band oft (und nicht immer nachvollziehbar) mit dem Begriff ›Speculative Fiction‹ (ausgehend von der Leitfrage »was wäre, wenn?«) gleichgesetzt bzw. um ihn erweitert. So gibt es Kapitel über utopische Weltentwürfe und chinesische Philosophie, zu Game Studies und Biopolitik, zu Post- sowie Transhumanismus und Animal Studies, zu Alternativwelten und Feminismen, zu Sonic Studies und Social Activism. Da auch Star Wars, Harry Potter und Lord of the Rings (z. B. im Kapitel über Fan Fiction oder dem über Kinder- und Jugendliteratur) diskutiert werden, wäre der Begriff ›Fantastik‹ (auf den sich die Zeitschrift für Fantastikforschung und die GFF geeinigt haben) vielleicht angemessener gewesen.

Auch besteht mittlerweile Einigkeit darüber, dass unsere Welt zunehmend ›science fictional‹ wird, weil die rasante Entwicklung von Wissenschaft und Technologie heute alle Lebensbereiche durchdringt. So beginnt die Einleitung mit der Beobachtung: »We all live in science fiction times« (1), und ein Kapitel widmet sich dem Space Tourism, wo der Schauspieler William Shatner tatsächlich, wenn auch nur kurz, die ›final frontier‹ erforschte. Insofern ist ein globaler Ansatz, der versucht, den polyphonen Diskurs innerhalb und über SF zu reflektieren, ausdrücklich zu begrüßen. Erfreulich ist außerdem, dass der Band der Homogenisierung des Genres durch unternehmensbezogenes geistiges Eigentum (Disney) sowie den Verheißungen der ›tech bros‹ im Silicon Valley eine gehörige Portion Skepsis entgegensetzt.

Im Gegensatz zur ersten Ausgabe mit ihrer klaren Struktur (»History«, »Theory«, »Issues and Challenges« sowie »Subgenres«) verzichten die Herausgeber:innen in der neuen Fassung hierauf. Der voluminöse Band ist in zwei Teile aufgeteilt (»Science Fiction histories«, »Science Fiction praxis«), wobei der erste Teil angeblich chronologisch vorgeht, es aber tatsächlich lustig durcheinander geht mit Beiträgen zur nordafrikanischen und arabischen SF, Kunst als SF, lateinamerikanischer SF, russischer und süd-ost-asiatischer SF, Afrofuturismus, Comics sowie zum SF-Film im 21. Jahrhundert. Dazwischen finden wir, fast verschämt und versteckt, einschlägige Beiträge zur althergebrachten SF-Geschichte (Golden Age, New Wave, Cyberpunk). So widmen sich zehn der 31 Kapitel im ersten Teil dieser anglophonen Tradition, sei es im Buch, in Film und Fernsehen, im Theater, im Radio oder in Comics. Hier hätte man sich eine breitere Aufstellung gewünscht. Beiträge zur französischen oder deutschen SF sucht man vergeblich.

Der zweite Teil zur SF-Praxis bietet 24 Kapitel. An dieser Stelle wäre eine separate Einführung durch die Herausgeber:innen hilfreich gewesen wäre, denn der Hinweis, dass die Kapitel alphabetisch gelistet sind und in jeder beliebigen Reihenfolge gelesen werden können, macht es schwer, hier eine ordnende Hand oder eine übergreifende Argumentation jenseits der Vielfalt möglicher Herangehensweisen zu erkennen. Seltsamerweise finden wir hier einen Beitrag zur Klimakrise, der besser in den ersten Teil gepasst hätte. Das Kapitel »Digital Cultures« streift das Thema Künstliche Intelligenz, hier wäre angesichts der Bezüge zur SF – von 2001: Space Odyssey (GB/US 1968, Regie: Stanley Kubrick) zu Kazuo Ishiguras Klara and the Sun (2021) – ein Verweis auf andere Kapitel im Band nützlich gewesen. Dies wird in dem Kapitel zu den Verbindungen zwischen der Wirtschafts- und Finanzwelt und der SF – z. B. in der Serie Devs (US 2020, Idee: Alex Garland) oder Kim Stanley Robinsons The Ministry for the Future (2020) – besser gelöst. Das Kapitel zum Thema Energie bietet schließlich eine kritische Sicht neuerer SF-Produktionen: Texte wie Neal Stephensons Termination Shock (2021) und Andy Weirs Project Hail Mary (2021) werden als techno-utopische Festschreibungen des Status quo entlarvt.

Die einzelnen Beiträge sind relativ kurz gehalten. Sie bieten Leser:innen einen knappen Überblick zu dem jeweiligen Thema, oft mit einer Liste von relevanten Texten und einer ausführlichen Bibliografie, die weitere Recherchen erleichtert. Wie bei Projekten dieser Größenordnung fast unvermeidlich, schwankt die Qualität der Beiträge deutlich: Während einige als Pflichtlektüre für SF-Forscher:innen gelten sollten, bieten andere wenig mehr als der entsprechende Wikipedia-Eintrag. Eine kritische Bewertung einzelner Beispieltexte oder eine Erklärung der Auswahlkriterien findet sich nur selten, etwa in den Kapiteln zu SF-Illustrationen, zur japanischen SF und zu Diasporic Latinx Futurisms. Hier wird der Einfluss von Mit-Herausgeberin Sherryl Vint deutlich: Ihr geht es weniger um eine traditionelle Bewertung der diskutierten Werke als um die theoretische Einordnung in den Megatext der SF. Ihr eigener Beitrag zu SF-Fernsehproduktionen im 21. Jahrhundert argumentiert eindrücklich, dass auch die populärsten Produktionen das Potential haben, gesellschaftliche Konflikte allegorisch darzustellen und utopische Möglichkeiten aufzuzeigen.

Es stellt sich die Frage, für wen dieses (als Hardcover fast unerschwinglich teure) Handbuch gedacht ist. Es mangelt ja nicht an Alternativen (z. B. von Cambridge oder Edinburgh University Press), und die erste Ausgabe ist mittlerweile im Antiquariat günstig zu erhalten. Auch haben sich die Herausgeber:innen nicht um Open Access gekümmert – nur eines der 55 Kapitel (»Disability Studies«) und die Einführung können kostenlos heruntergeladen werden. Ich sehe drei Gruppen, denen das neue Handbuch zu empfehlen ist: Erstens SF-Forscher:innen. Diese werden mit einem Kaleidoskop von neuen Texten und Ansätzen konfrontiert, die liebgewonnene Einstellungen in Frage stellen. Zweitens Sprach- und Literaturwissenschaftler:innen, für die SF Neuland darstellt. Diese können hier erfahren, welche Entwicklungen es in ihrem Fachgebiet gibt. Drittens Studierenden (so denn ihre Universitätsbibliothek die Anschaffung erlaubt oder sie sich das E-Book anschaffen). Diesen mag das Handbuch zunächst überwältigend scheinen. Andere Überblickswerke sind angesichts der hier waltenden demonstrativen Offenheit für die heutige Vielfalt des Genres allerdings spürbar veraltet.

Trotz einiger Vorbehalte angesichts des »Everything-everywhere-all-at-once«-Ansatzes eröffnet der Band neue Perspektiven und versucht, in seiner Gesamtheit, das Genre und die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihm von verkrusteten Strukturen zu befreien.

Autor

Ingo Cornils ist Emeritus Professor of German Studies an der Universität Leeds in Grossbritannien. Ausgewählte Publikationen: »Hoping against Hope? German Climate Fiction between Dystopia and Utopia«. In: Gegenwartsliteratur: Ein germanistisches Jahrbuch – A German Studies Yearbook 24 (2024): 21–45; New Perspectives on Contemporary German Science Fiction. Palgrave Macmillan, 2022 (mit Lars Schmeink); Beyond Tomorrow: German Science Fiction and Utopian Thought in the 20th and 21st Centuries. Camden House, 2020; Alternative Worlds Blue-Sky Thinking Since 1900. Lang, 2014 (mit Ricarda Vidal). https://ahc.leeds.ac.uk/languages/staff/35/professor-ingo-cornils.

Konkurrierende Interessen

Der Autor hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Filmografie

2001: Space Odyssey. Regie: Stanley Kubrick. GB/US 1968.

Devs. Idee: Alex Garland. US 2020.

Zitierte Werke

Ishiguro, Kazuo. Klara and the Sun, Knopf Publishing Group, 2021.

Robinson, Kim Stanley. The Ministry for the Future. Orbit, 2020.

Stephenson, Neal. HarperCollins, 2021.

Weir, Andy. Project Hail Mary. Ballantine Books, 2021.