Der Cyberspace und die Vorstellung, sich körperlos, aber völlig immersiv in einem digitalen Raum bewegen zu können, sind fixer Bestandteil des Cyberpunk, von seinen Anfängen in den 1980er-Jahren bis zu zeitgenössischen Fiktionen – und es ist wohl auch eines der Motive, wofür das Genre am meisten Zynismus geerntet hat. Wieso sich mit Cyber-Cowboys identifizieren, wenn die täglichen Computerwelten sich nicht mittels Avatar nach eigenem Design, sondern vorwiegend mittels schnöder Email- und Textverarbeitungsprogramme bereisen lassen? Dass der Austausch im virtuellen Raum in jedem Fall ganz anders ist als im »real life« wird umso deutlicher in Zeiten, in denen es untersagt beziehungsweise nicht ratsam ist, sich in größeren Gruppen und geschlossenen Räumen zu treffen. Lars Schmeink hat als Organisator der ersten CyberPunk Culture Conference 2020 (CPCC20) folgerichtig gar nicht erst versucht, Tagungshotels und Seminarräume im SecondLife zu buchen, sondern hat den viel cyberpunkigeren Weg gewählt und die Teilnehmer*innen auf eine möglichst direkte und niedrigschwellige Art verbunden.
In der Woche vor dem offiziellen Start der Tagung waren alle 33 Präsentation auf der Konferenz-Webseite versammelt;1 die meisten sind als Videos verfügbar, einige als kommentierte Folien beziehungsweise Artikel. Die zwei Tage der Konferenz waren dann ganz dem Austausch und der Diskussion gewidmet. Auf der Plattform Discord war eine großartige Infrastruktur für CPCC20 vorbereitet, jede*r Sprecher*in bekam einen eigenen Chatroom, in dem man das jeweilige Paper zu einem bestimmten Zeitslot, aber nach Belieben auch schon zuvor oder danach, diskutieren konnte. Außerdem gab ein einzelne Räume, in denen geplaudert und über Allgemeines gesprochen werden konnte. Alles geschah über Text-Chat, was viel Tippen bedeutete, aber unterschiedliche Rhythmen der Konversation zuließ. Obwohl es nur ein einziges Live-Video-Event gab – eine Round-Table-Discussion am Ende der Konferenz – hatte ich nach diesen intensiven zwei Tagen nicht nur spannende Wissenschafter*innen gehört und gelesen, sondern hatte zudem den Eindruck viele Menschen ›getroffen‹ zu haben.2 Das dürfte vielen Teilnehmer*innen so gegangen sein – der CPCC20-Kanal auf Discord ist nach wie vor offen und eine wachsende Community tauscht sich darauf aus, teilt Texte und verabredet sich zu Lesekreisen. Als Folge verwandelte der engagierte Lars Schmeink unter allgemeiner Begeisterung diese Community umgehend ins CyRN: The Cyberpunk Culture Research Network.
Die Gruppe, die sich hier gefunden hat, besteht aus Menschen, die sich schon lange hauptsächlich mit Cyberpunk beschäftigen und deren wissenschaftliche Neugier aus der Science-Fiction-Fan-Kultur ihrer Jugend gewachsen ist, aber auch aus Wissenschafter*innen verschiedener Disziplinen, die erst seit kurzem in dem Feld tätig sind oder sich auch nur für einen bestimmten Aspekt des Genres interessieren. Die Cyberpunk-Narrative, die bei CPCC20 besprochen wurden, kamen überwiegend aus Literatur, TV, Film und Videospiel, aber auch aus visueller und performativer Kunst. Auch thematisch war die Tagung sehr breit gehalten, wobei stets die Frage im Raum stand, inwiefern Cyberpunk als »a more generalized cultural formation« verstanden werden kann, wie das Thomas Foster in seinem Buch The Souls of Cyberfolk (2005) vorschlug. Ist das Genre mehr als ein gewisser Moment innerhalb der Geschichte der Science-Fiction, mehr als eine Ansammlung von bestimmten Topoi und Motiven? Bietet es einen Referenzrahmen aus Begriffen, visuellen Eindrücken, vielleicht sogar bestimmten sozialen und politischen Konstellationen, die helfen könnten, unsere Zeit und Situation besser zu verstehen?
»Cyberpunk feiert heute eine Renaissance«, leitete Paweł Frelik seine Keynote »Takeshi Was Here: Viral Revelations, Globalized Power, and Cyberpunk Myopia« ein. Er bekräftigte darin Frederic Jameson berühmte Feststellung, Cyberpunk sei das Genre der Postmoderne und des Spätkapitalismus par excellence. Außerdem sei die Trope des Virus hier besonders präsent und spannend behandelt worden, man denke an Pat Cadigans Synners (1991), Neal Stephensons Snow Crash (1992), aber auch den rezenteren Roman The Tiger Flu (2018) von Larissa Lai. Dennoch, das Jahr 2020, das sich ohnehin auf vielen Ebenen science-fiktional anfühle, und die Pandemie, die diverse soziale und politische Phänomene ausgelöst habe, machen für Frelik eines deutlich: »Das Genre ist politisch kurzsichtig«. Durch alle Medien und Formate hindurch müsse man feststellen: Cyberpunk habe das Aufkommen von anti-intellektueller und neo-konservativer Politik ignoriert. »Die Realität sieht mehr aus wie Hunger Games als Snow Crash«. Während sich Frelik auch von dem Computerspiel Cyberpunk 2077, das Ende 2020 erscheint, in diese Richtung wenig erhofft, lobte er die Takeshi-Kovacs-Trilogie von Richard Morgan: Altered Carbon (2002), Broken Angels (2003) und Woken Furies (2005).
Im Stil von William Gibson sind viele Dinge und Geschehnisse nur angedeutet, aber nicht ausgeführt, was die fiktionale Welt sehr reichhaltig macht. Obwohl die Romane von Testosteron und Brutalität nur so triefen, ist die Trilogie einzigartig in ihrer Anerkennung von politischen Verhältnissen, die wir zunehmend in unserer Realität erfahren,
erklärte Frelik und meinte konkret: eine ultra-konservative Regierung, eine stetig präsente globalisierte Militärmacht und generell autoritärere Politiken.
Viele der Präsentationen der CPCC20 klopften Klassiker des Genres nach den oben genannten Fragen ab. María Ferrández San Miguel sprach über Cadigans Roman Synners und seine spezifische Gestaltung der Motive Cyborg und Cyberspace. Sie beleuchtete dabei, wie die Aneignung von Technologie – vor allem der Zutritt zu einer virtuellen oder erweiterten Realität – mit dem Begriff der posthumanen Resilienz gedacht werden kann. Gedanken zu einem neueren Text von Cadigan, nämlich »AI and the Trolley Problem« (2018),3 wurden von Steven Shaviro eingebracht. Wie der Kulturkritiker zeigte, bietet die Kurzgeschichte neue Möglichkeiten über Maschinenethik und die moralische Urteilsfähigkeit von Künstlicher Intelligenz nachzudenken, anstatt sie, wie üblich, als von vornherein empathielos und über-rational zu charakterisieren. Michael Szul sprach über den Cyberpunk-Klassiker Max Headroom und darüber, wie die exzentrische TV-Figur die Jugendbewegung der 1980er-Jahre perfekt einfing. Protagonist Max Headroom, der meist als komisch und ungeschickt beschrieben wird, habe eine dunkle und abgründigere Seite, die im Rückblick – insbesondere vor dem Hintergrund des heutigen Konsumkapitalismus – deutlicher zutage trete. Spannende Bearbeitungen von klassischen Cyberpunk-Motiven unternahmen außerdem Rachel Hill und Karina Patrascanu. Erstere sprach in ihrem Paper »›Earth Materialises‹: Cyberpunks Construction of The Planetary« über »the sprawl« und wie sich diese unkontrollierte ausgefranste Ausbreitung einer menschlichen Population, wie sie so oft im Cyberpunk dargestellt wird, mit dem Begriff und der Idee des »Planetaren« in Verbindung bringen lässt. Zweitere zeigte anhand von zwei Fallstudien, wie sich die TV-Serie Star Trek den Cyberspace vorstellt – und vor allem, welche spirituellen und philosophischen Fragen das berühmte Holodeck, bestimmte Holospaces und schließlich Hololives aufwerfen. Sasha Myerson untersuchte anhand von Emma Bulls Bone Dance (1991) und Nalo Hopkinsons Brown Girl in the Ring (1998), die »Utopian Enclaves«, die der feministische Cyberpunk im Raum der Stadt findet.
Darüber hinaus gab es einige Beiträge, die sich auf neuere Cyberpunk-Fiktionen bezogen. Benjamin Ross dachte anhand des Songs und des Musik-Videos Double Bubble Trouble (2013) von M.I.A. darüber nach, was das Punkige im Cyberpunk charakterisiert. Die Technologie habe sich seit dem Aufkommen des Genres gewandelt, gleich geblieben sei aber das Verlangen, eine digitale Erfahrung zu schaffen, die die herkömmlich erlebte Realität transzendiert. Zeitgenössischen Cyberpunk außerhalb des nordamerikanischen Rahmens stellte Sumeyra Buran in ihrem Talk »Fabulation of Alternate Parallel Universes: Queertopia in Turkish Science Fiction« vor, in dem sie sich auf die Autorin Sheida Aiden fokussierte. In seiner Präsentation über »Imagining Islamic(ate) Futures in Cyberpunk and Beyond« sprach Muhammad Aurangzeb Ahmad u. a. über G. Willow Wilsons Alif the Unseen (2012), Pashazade (2001) von Jon Courtenay Grimwood und The Dervish House (2001) von Ian McDonald sowie über den von Fatima al-Qadiri und Sophia Al-Maria 2007 geprägten Begriff des »Gulf Futurism«. Der Informatiker sprach aber auch über sein Experiment, einen KI-Chatbot auf der Basis seines Vaters zu entwickeln, der es seinen zukünftigen Kindern ermöglichen soll, mit einem Avatar ihres Großvaters zu sprechen.4 Andere Vorträge widmeten sich der visuellen Ästhetik von Cyberpunk. Die Papers von Stina Attebery und Esko Suoranta sprachen über Cyberpunk-Mode, von schlichter, unmarkierter Funktionskleidung bis zu Make-up- und Hair-Styles, die Überwachungskameras foppen soll. Julia Gatermanns Präsentation »Nostalgia for the Future« zeigte, inwiefern Sängerin und Model Viktoria Modesta an einem »Post-Disability Image« arbeitet. Im Fokus stand Modestas Video PROTOTYPE (2016), in dem sie ihre unterschiedlichen Beinprothesen (ihr linkes Bein ist unterhalb des Knies amputiert) auf ungewöhnliche und interessante Weise inszeniert.
Trotz des breit gesteckten Themenfeldes hatte die Tagung eine gewisse Kontinuität und einen gemeinsamen Kanon, was sicherlich auch daran liegt, dass sie drei umfassende Publikationen im Hintergrund hatte: Beyond Cyberpunk: New Critical Perspectives (2010), Cyberpunk and Visual Culture (2018) und den jüngst erschienenen Routledge Companion to Cyberpunk Culture (2019).5 So waren es auch die an diesen Büchern beteiligten Anna McFarlane, Graham J. Murphy, Hugh O’Connell, Lars Schmeink und Sherryl Vint, die die Konferenz mit einer Round-Table-Diskussion abschlossen und darin fragten: »Wie ist es, in Cyberpunk-Zeiten zu leben?« Für alle, die diese spannende Tagung nachleben möchten, die am CyRN-Netzwerk interessiert sind und mit den Cyberpunks in Kontakt treten wollen oder auf der Suche nach einer punkigen Leseliste sind: Alle Talks, die Keynote und der Round-Table sowie alle Chat-Diskussionen sind auf der Webseite cyberpunkculture.com zum Nachlesen und Nachschauen bereitgestellt.
Notes
- Vgl. cyberpunkculture.com, 11. Aug. 2020. [^]
- Über das genaue Verfahren und seine Erfahrungen mit der Organisation und Durchführung der Tagung hat Lars Schmeink in einem Blog-Post berichtet: hochschulforumdigitalisierung.de/de/blog/online-konferenzen-corona, 11. Aug. 2020. [^]
- Die Kurzgeschichte kann auf der offiziellen Seite des Verlags TOR gelesen werden: www.tor.com/2018/10/17/ai-and-the-trolley-problem-pat-cadigan 11. Aug. 2020. [^]
- Vgl. www.cbc.ca/radio/spark/386-attention-residue-new-design-ethics-and-more-1.4548894/when-his-father-died-this-technologist-created-a-chatbot-so-his-kids-could-talk-to-their-grandfather-1.4548924, 11. Aug. 2020. [^]
- Alle bei Routledge. Beyond Cyberpunk wurde von Graham J. Murphy und Sherryl Vint herausgegeben, Cyberpunk and Visual Culture von Murphy und Lars Schmeink, der Companion von Anna McFarlane, Murphy und Schmeink. [^]
Autorin
Julia Grillmayr ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Wissenschaftskommunikatorin in Wien und Linz. Sie forscht an der Kunstuniversität Linz an dem Projekt Science Fiction, Fact & Forecast zu Szenario-Techniken in zeitgenössischer Science-Fiction-Literatur und Futurologie. Sie unterrichtete mehrere Jahre lang Literaturtheorie an der Universität Wien und hat aktuell einen Lehrauftrag an der Universität für Angewandte Kunst. Sie macht die Radiosendung «Superscience Me – Wissenschaft und Fiktion» auf Radio Orange 94.0 und podcastet für die Österreichische Akademie der Wissenschaften und die Universität Wien. Die restliche Zeit verbringt sie in den Wäldern der Donauauen und in Steppschuhen. Letzte Publikationen: »Posthumanism(s)«. Routledge Companion to Cyberpunk Culture. Hg. McFarlane, Anna, Lars Schmeink und Graham Murphy; »Wilde Spekulationen. Feministisch-ökologische Wissenschaftskritik und spekulative Fiktion«. Feministische Spekulationen/spekulative Feminismen. Interdisziplinäre Kritiken und Genealogien. Hg. Angerer, Marie-Luise und Naomie Gramlich.
Konkurrierende Interessen
Die Autorin hat keine konkurrierenden Interessen zu erkläären.
Zitierte Werke
Foster, Thomas. The Souls of Cyberfolk. Posthumanism as Vernacular Theory. University of Minnesota Press, 2005.
McFarlane, Anna, Graham J. Murphy und Lars Schmeink, Hg. The Routledge Companion to Cyberpunk Culture. Routledge, 2019. DOI: http://doi.org/10.4324/9781351139885.
Murphy, Graham J. und Lars Schmeink, Hg. Cyberpunk and Visual Culture, Routledge, 2018. DOI: http://doi.org/10.4324/9781315161372.
Murphy, Graham J. und Sherryl Vint, Hg. Beyond Cyberpunk. New Critical Perspectives. Routledge, 2010. DOI: http://doi.org/10.4324/9780203851968.