Phantastische Verschwörer

Für ForscherInnen, die sich mit Verschwörungstheorien beschäftigen, bot 2020 überreichlich Anschauungsmaterial. Waren die ersten Wochen der Corona-Pandemie zumindest in den Demokratien Westeuropas noch von einem Zusammenrücken und dem Vertrauen geprägt, dass die Regierenden die gewaltige Herausforderung zwar vielleicht nicht optimal, aber doch zumindest mit den besten Absichten angingen, zeigten sich in diesem harmonischen Bild früh Risse. Schon bald meldeten sich die Stimmen, die hinter Lockdown, Maskenpflicht und den angekündigten Impfstoffen keine volksgesundheitlichen Maßnahmen sahen, sondern die üblen Machenschaften verborgener Akteure.

In den USA wiederum fügten sich Corona-Verschwörungstheorien nahtlos in die bereits wild wuchernde QAnon-Erzählung ein, die zwar niemand wirklich durchschaut, die aber zu belegen scheint, dass Donald Trump einen im durchaus wörtlichen Sinne biblischen Kampf gegen dunkle Mächte führt. Dass Trump seine Wahlniederlage gegen Joe Biden mit einem gigantischen Wahlbetrug erklärte, war da nur folgerichtig (und auch nicht überraschend, da er diese Strategie über Monate hinweg angekündigt hatte).

Es ist an dieser Stelle nicht nötig, all die Geschichten über Bill Gates und Hillary Clinton, Kinderporno-Ringe in Pizzerien, angeblichen Impfzwang, G5-Chips und was noch so alles an absurden Erzählungen in der digitalen Sphäre kursiert, zu wiederholen. Wir alle sind ihnen in den vergangenen Monaten in der einen oder anderen Form begegnet, und sei es auch nur in der Berichterstattung über Verschwörungstheorien, an deren bizarrsten Auswüchsen die Medien besonders Freude zu haben scheinen (wie Andreas Anton in seinem Forumsbeitrag kritisch bemerkt).

Verschwörungstheorien, so lesen wir immer wieder, erleben derzeit eine Blüte. Um ein neues Phänomen handelt es sich dabei aber nicht. Wie eine Reihe von AutorInnen argumentiert, stellten Verschwörungstheorien bis Mitte des 20. Jahrhunderts im Westen eine legitime Form des Wissens dar, ihre Delegitimierung – zumindest im öffentlichen Diskurs – ist eine verhältnismäßig neue Erscheinung.

Michael Butter vertritt nachdrücklich die Position, dass weniger der Glaube an Verschwörungstheorien zugenommen habe, sondern dass diese, vor allem dank Online-Medien, heute viel schneller verbreitet werden und größere Sichtbarkeit erlangen (179–218). Aber selbst wenn man von einer Zunahme ausgeht, ist die aktuelle Situation für Butter dennoch eine grundsätzliche andere als vor 1950: Verschwörungstheorien stellen nach wie vor heterodoxes Wissen dar und werden zumindest in den Qualitätsmedien entsprechend kritisch behandelt: »Was in den Medien diskutiert wird, sind in der Regel Verschwörungstheorien und nicht Verschwörungen. Die Berichterstattung geht davon aus, dass Menschen Komplotte sehen und behaupten, wo in Wirklichkeit keine existieren« (152).

Butter betrachtet Verschwörungstheorien keineswegs als harmlosen Unfug. Insbesondere in Verbindung mit populistischen Bewegungen sieht er eine echte Gefahr für den demokratischen Rechtsstaat. Eine Diagnose, deren Richtigkeit sich beispielhaft an Trumps Weigerung zeigt, seine Wahlniederlage anzuerkennen.

Andere AutorInnen zeigen sich hier weniger besorgt und stehen dem Begriff ›Verschwörungstheorie‹ selbst skeptisch gegenüber. Während Butter dafür plädiert, die Bezeichnung als neutrale Kategorie zu verstehen, ist ›Verschwörungstheorie‹ für AutorInnen wie Andreas Anton oder Alan Schink per se pejorativ konnotiert und damit im wissenschaftlichen Kontext unbrauchbar. Es gebe keine formalen oder inhaltlichen Kriterien, anhand derer sich angebliche Verschwörungstheorien von Beschreibungen realer Verschwörungen wie der Ermordung Cäsars, dem Stauffenberg-Attentat oder der Watergate-Affäre unterscheiden ließen. Die Einstufung als Verschwörungstheorie sei letztlich immer ein Ausdruck diskursiver Hoheit.1

Dass es reale Verschwörungen gab und gibt, ist zweifellos richtig. Ebenso, dass die Frage, was überhaupt als mögliche Erklärung für ein Phänomen in Betracht gezogen wird, nie nur von ›objektiven‹ Fakten abhängt, sondern immer auch eine Frage der Diskurshoheit und somit von Macht ist. Allerdings stellt Butter dies gar nicht in Abrede. Zudem gilt für ihn nicht jede heterodoxe Verschwörungserzählung bereits als Verschwörungstheorie; als wesentliches Kriterium macht er aus, dass die Verschwörung nicht als isolierte Episode, sondern als Teil eines groß angelegten Plans erscheint. Wer Zweifel an den offiziellen Versionen hegt, wie die Ermordung Kennedys oder die Anschläge auf das World Trade Center abgelaufen sind, ist noch kein Verschwörungstheoretiker. Entscheidend ist, dass es nicht beim Hinterfragen bleibt, sondern dass als Alternative ein umfassendes Konstrukt mit deutlicher ideologischer Schlagseite präsentiert wird. Die Verschwörung wird vom Einzelereignis zum Baustein einer umfassenden Weltanschauung. Anton, Schink und Pfahl-Traughber bevorzugen hierfür den Begriff der Verschwörungsideologie. So uneinig sich die beiden Seiten bei den Begrifflichkeiten sind, beim untersuchten Korpus liegen sie dann nicht allzu weit auseinander. Mit anderen Worten: Ob Verschwörungstheorie oder -ideologie – es scheint bei allen begrifflichen Differenzen doch weitgehend Einigkeit zu herrschen, ab welchem Punkt wir den rationalen Diskurs verlassen und es nicht mehr mit einer ergebnisoffenen Suche nach Erklärungen, sondern mit einer in sich geschlossenen, nicht falsifizierbaren Welterklärung zu tun haben, bei der jedes Gegenargument nur als weiterer Beweis für den Umfang der Verschwörung interpretiert wird.

Verschwörungstheorien dienen, so der allgemeine Konsens, der Komplexitätsreduktion sowie der Kontingenzbewältigung. In einer für die Einzelnen längst nicht mehr durchschaubaren, geschweige denn beherrschbaren Welt liefern sie einfache Antworten auf komplexe Phänomene. Diese Erklärung ist überzeugend, wir möchten in diesem Forum aber für einmal nicht der Frage nachgehen, wer aus welchen Gründen und mit welchen Folgen an Verschwörungstheorien glaubt respektive sie verbreitet. So berechtigt und relevant diese Fragen sind, interessieren wir uns an dieser Stelle primär für Verschwörungstheorien als narratives Phänomen.

Der Erfolg von Verschwörungstheorien gründet – so unsere Arbeitshypothese – in erheblichem Maße in ihrer Erzählbarkeit. Versucht man jemandem zu erklären, wie es zur aktuellen Pandemie kommen konnte, warum das Virus trotz relativ geringer Sterblichkeit eine Gefahr darstellt und was sich dagegen tun lässt, landet man rasch bei einem ganz Knäuel von Gründen; dann muss man über Globalisierung sprechen, über die spezifischen Eigenschaften des Virus und vor allem über Statistik und Wahrscheinlichkeiten, über Wachstumskurven, Basisreproduktionszahlen und freie Spitalbetten. Corona ist keine Geschichte im klassischen Sinn, sondern ein Ereignis, das sich im Grunde nur als Netzwerk oder Datenbank adäquat darstellen lässt.

Wie viel einfacher und vor allem aufregender, schlicht unterhaltender ist da eine Erzählung, in der Bill Gates, George Soros oder sonst jemand, der aufgrund seines gigantischen Reichtums ohnehin nicht geheuer ist, mittels G5-Antennen und Schutzmasken die Menschheit unterjochen will. Carolin Amlinger spricht in ihrem Forumsbeitrag treffend von einer »narrativen Kombinatorik«, bei der einzelne Elemente neu konfiguriert werden; ähnlich Johannes Pause, der hervorhebt, dass das Hinterfragen der ›offiziellen Wahrheit‹ jeweils mit der »Herstellung eines dominanten neuen Narrativs« einhergeht. Dass das Ergebnis dieses durchaus kreativen Akts einer genaueren Überprüfung nicht standhält, ist nicht so wichtig, denn das tut der durchschnittliche Hollywood-Blockbuster ja oft auch nicht. Dafür bedienen Verschwörungstheorien Muster, die uns aus Literatur und Film bestens bekannt sind – nicht zuletzt aus phantastischen Erzählungen. Zwar ist der größenwahnsinnige Bösewicht, der mittels eines raffinierten Plans die Weltherrschaft an sich reißen will, nicht nur in phantastischen Genres anzutreffen, er ist in ihnen – prototypisch in der Figur des Mad Scientist – aber besonders prominent vertreten. Tatsächlich muss der Wissenschaftler noch nicht einmal verrückt oder bösartig sein, um als Verschwörer zu agieren; oder ist die Psychohistorie, die Hari Seldon in Isaac Asimovs Foundation-Zyklus (1942–1993) entwickelt, denn etwas anderes als ein groß angelegter Plan zur langfristigen Kontrolle des galaktischen Imperiums? Oder man nehme Dune (1965) von Frank Herbert, dessen Neuverfilmung durch Denis Villeneuve coronabedingt auf 2021 verschoben wurde. Schauplatz ist ein von Intrigen geprägtes kosmisches Reich, in seinem Zentrum der Schwestern-Orden der Bene Gesserit, der ein über Jahrhunderte angelegtes geheimes Zuchtprojekt verfolgt, das dereinst zur Geburt des messiasähnlichen Kwisatz Haderach führen soll.

Foundation und Dune stellen innerhalb der SF keine Exoten abseits des Mainstreams dar, sondern sind zentrale Werke in der Geschichte des Genres, deren Einfluss bis heute anhält. Was für die SF gilt und von Solvejg Nitzke in ihrem Beitrag noch genauer ausgearbeitet wird, lässt sich in ähnlicher Weise auch für die Fantasy beobachten. Vom Erzverschwörer Sauron in J. R. R. Tolkiens The Lord of the Rings (1954–55) bis zu den in ihren zahlreichen Verästelungen kaum noch durchschaubaren Ränkespielen von George R. R. Martins A Song of Ice and Fire (1996–) bzw. GAME OF THRONES (US 2011–2019, Idee: David Benioff und D. B. Weiss) wimmelt es in der High Fantasy von Verschwörungen. Etwas anders gelagert, aber durchaus zum Thema passend präsentieren sich die Welten von H. P. Lovecraft. Zwar sind hier nur selten menschliche Verschwörer am Werk, aber die Vorstellung, dass die sichtbare Welt nur ein Trugbild ist, hinter dem die wahren Herrscher des Universums ihren jegliche menschliche Vorstellung übersteigenden Machenschaften nachgehen, durchzieht Lovecrafts ganzes Œuvre.

Schließlich sei hier noch auf die Nähe von Verschwörungstheorie und Utopie hingewiesen. So unterschiedlich die beiden Formen auf den ersten Blick scheinen mögen, was Verschwörungstheorie und die klassische Utopie in der Tradition von Thomas Morusʼ Utopia (1516) verbindet, ist die Vorstellung, dass gesellschaftliche Entwicklungen präzise planbar sind, dass es nur darum geht, am richtigen Punkt in die Mechanik des Weltgefüges einzugreifen – im einen Fall mit positiven, im anderen mit negativen Konsequenzen. Utopie und Verschwörungstheorie sind beide Kinder der Aufklärung, stellen Säkularisierungsphänomene dar, die erst entstehen konnten, als die Welt sich allmählich von einer von allmächtigen Gottheiten beherrschten zu einer von Menschen gestaltbaren wandelte (vgl. Spiegel, »Im Innern«).

Es ist kein Zufall, dass der Begriff der Verschwörungstheorie bzw. der »conspiracy theory of society« (306) in seiner heutigen Bedeutung von Karl Popper in dessen ursprünglich 1945 in zwei Bänden erschienenem Werk The Open Society and its Enemies geprägt wurde, das sich gegen »Utopian social engineering« (xlii) richtet, also die Vorstellung, dass historische bzw. gesellschaftliche Prozesse gesetzmäßig verliefen und somit planbar seien. Utopien – wobei Popper politische Ideologien und nicht ein literarisches Genre meint – und Verschwörungstheorien sind beide Ausdruck dieser Vorstellung.

Dass phantastische Genres derart verschwörungsaffin sind, dürfte auch damit zusammenhängen, dass sie oft Konflikte von ›globalem Charakter‹ inszenieren. Während im Krimi, dem Thriller, aber auch in der Komödie oder dem Liebesdrama das Problem, welches den Plot antreibt, meist ›lokaler‹ Natur ist – wer ist der Mörder, kann der Serienkiller überführt werden, finden die Liebenden zusammen? –, geht es in der Phantastik regelmäßig ums Ganze, steht oft das Überleben der Menschheit oder die Zukunft des Universums auf dem Spiel.

Über die soeben skizzierte ›natürliche Nähe‹ zwischen Verschwörungstheorien und phantastischen Genres hinaus hat in den vergangenen drei Jahrzehnten zudem eine Entwicklung eingesetzt, welche die beiden Phänomene noch enger hat zusammenrücken lassen. Vor allem im Bereich der Fernsehserien hat sich ein narratives Muster durchgesetzt, das der Fernsehwissenschaftler Matt Hills als »hyperdiegesis« bezeichnet (104); »the creation of a vast and detailed narrative space, only a fraction of which is ever directly seen or encountered within the text« (ebd.); also eine erzählerische Haltung, bei der die jeweils gezeigte Handlung nur einen winzigen Ausschnitt der fiktionalen Welt offenbart. Unter der Oberfläche wartet ein ganzes Universum darauf, entdeckt zu werden.

Seien es Marvel-Superheldenfilme, Star Wars oder epische Fantasy-Serien wie GAME OF THRONES – sie alle folgen dem Prinzip der Hyperdiegese und entwerfen umfassende erzählerische Universen. Dass die Filmindustrie Gefallen an dieser Form findet, liegt nicht zuletzt daran, dass sich hyperdiegetisches Erzählen ideal mit Franchising verbinden lässt. Ein Film ist kein abgeschlossenes Werk mehr, sondern Teil eines crossmedialen Kosmos. Wer sich einen MCU-Film anschaut, muss, um alle Zusammenhänge zu verstehen, auch das Sequel schauen. Und das Prequel. Und die Fernsehserie. Und das Game spielen sowie die Comics lesen.

Hillsʼ Konzept der Hyperdiegese ist eng mit dem verbunden, was Jason Mittell als »narrative complexity« bezeichnet und allgemein als Charakteristikum zeitgenössischen seriellen Erzählens verstanden wird: das Vermischen von Genres und insbesondere das Entwickeln langer, episodenübergreifender Handlungsstränge. Letzteres stellt geradezu eine Voraussetzung für hyperdiegetisches Erzählen dar. Das allmähliche Freilegen der wahren Zusammenhänge bedingt einen großen narrativen Bogen. Dabei wird dem Publikum fortlaufend suggeriert, dass sich die erzählerischen Mosaiksteine irgendwann zu einem Gesamtbild zusammenfügen werden, dass sich, wenn wir nur lange genug dranbleiben und die richtigen Verbindungen herstellen, die Regeln der fiktionalen Welt offenbaren werden. Der ganzen Anlage unterliegt somit von Anfang an eine verschwörungstheoretische Logik.

Als ein zentrales Beispiel für die von ihm beschriebene erzählerische Komplexität dient Mittell LOST (US 2004–2010, Idee: Damon Lindelof, Carlton Cuse und J. J. Abrams), eine Serie, deren Welt von derart vielen Verschwörungen, Intrigen und falschen Spielen geprägt ist, dass schließlich selbst ihre Macher die Übersicht verloren. Rückblickend kann LOST zudem als Vorreiter in Sachen crossmediales Franchising gelten; die Ausstrahlung der Serie wurde von Tie-in-Romanen und -Computerspielen sowie einer in dieser Form neuartigen Online-Kampagne und einem Alternate Reality Game begleitet.

Dass die von Hills und Mittell beschriebenen Formen ideal zu verschwörungstheoretischen Inhalten passen, lässt sich bereits an zwei Serien beobachten, die gemeinhin als frühe Vertreter hyperdiegetischen bzw. komplexen Erzählens und damit als Vorläufer der heutigen Qualitätsserien gelten: TWIN PEAKS (US 1990–1991, Idee: Mark Frost und David Lynch) und THE X-FILES (US 1993–2002, Idee: Chris Carter). Insbesondere Chris Carters Serie um die FBI-Agenten Mulder und Scully gilt als geradezu paradigmatische Verschwörungserzählung. Zwar entpuppt sich auch die vermeintliche heile Welt in David Lynchs Kleinstadt als ein von dunklen Mächten beherrschter Sündenpfuhl, THE X-FILES treibt die paranoide Verschwörungslogik, bei der hinter jedem enthüllten Geheimplan ein noch infameres Komplott steht, aber auf die Spitze. Noch heute gilt die Serie als die popkulturelle Verschwörungserzählung schlechthin. Dass die drei Serien alle einen deutlichen phantastischen Einschlag haben, versteht sich von selbst.2

Die skizzierten Veränderungen im Aufbau populärer Erzählungen korrelieren zeitlich auffällig mit dem konstatierten Boom – oder vielmehr der neuen Sichtbarkeit – von Verschwörungstheorien. Der Hauptgrund für diese Gleichzeitigkeit dürften die veränderten technischen Rahmenbedingungen sein, sprich: das Internet, das Distribution und Rezeption von Medieninhalten und Verschwörungstheorien gleichermaßen verändert hat. Butter schreibt, das Internet habe »großen Einfluss auf die Zirkulation und die Wirkung von Verschwörungstheorien« (180) und zudem deren »Form und Erzähllogik« (181) verändert. Beides gilt in ganz ähnlicher Weise für populäre Erzählungen. Bereits um TWIN PEAKS bildete sich eine Online-Gemeinde – damals noch mittels Newsreadern im Usenet –, die jede neue Folge ausgiebig diskutierte. Was hier noch ungeplant war, wurde bei LOST bereits zu einem integralen Teil der Vermarktungsstrategie.

Wenn Fans den neusten Trailer ihres Lieblingsfranchise analysieren und anhand von für den Uneingeweihten scheinbar belanglosen Details Thesen entwickeln, mit welchen Überraschungen im angekündigten Film zu rechnen ist, dann verfahren sie ähnlich wie VerschwörungstheoretikerInnen, die in allem einen Hinweis auf die große Kabale sehen. Oder man schaue sich die Karten an, mit denen der Grafiker Dylan Louis Monroe auf seiner Website Deep State Mapping Project die QAnon-Verschwörung und die wahren Hintergründe der Corona-Pandemie erklärt (Abb. 1a–c). Eine »grandiose subliminal linkage of all the code words and half-verified stories that hint at a darker history of the world« (Goldstein), eine gleichermaßen faszinierende wie abstruse Darstellung einer Super-Verschwörungstheorie, die von Atlantis über Rosenkreuzer, Freimaurer und Illuminaten bis zum Roswell-Absturz, dem Kennedy-Attentat und 9/11 alles miteinander verbindet. Es ist wie Monroe im Interview mit Sam Jaffe Goldstein selber sagt, weniger eine Erklärung, sondern eher »a collection of keywords that lead you into different topics that have been extensively written about«, eine Art visueller Index für die gesammelte Verschwörungstheorie-Literatur.

Abb. 1a–c
Abb. 1a–c

Ausschnitte aus Dylan Louis Monroe Karte »Q-web«.

In ihrem Bestreben (und ihrem Scheitern), eine riesige und extrem disparate Menge von Informationen visuell aufzubereiten, erinnern Monroes Karten auch an die Kunstwerke, mit denen Fans die Welten von Star Trek oder Middle-earth kartografisch zu erfassen versuchen. Der Wunsch nach Vollständigkeit, der Drang, alles mit allem in Zusammenhang zu setzen, zeichnet sowohl Fans als auch VerschwörungstheoretikerInnen aus.

Der Hang zur kompletten Durchdringung einer fiktionalen Welt ist in der Phantastik freilich nicht nur auf Rezeptionsseite anzutreffen. SF, Fantasy, Horror und Utopie sind »›world building‹ genre[s]« (McHale 220), sie erzählen von Welten, deren Gesetze sich von denen der Welt, in der wir leben, unterscheiden. Gesetze, die sich jemand ausgedacht hat, um damit einen bestimmten erzählerischen Effekt zu erzielen. Phantastische ErzählerInnen glauben nicht nur an die Planbarkeit von Welten, sie praktizieren sie auch. Sie sind, mit Popper gesprochen, alle Anhänger »utopischer Sozialtechniken«, sie sind Urverschwörer, die zurückgezogen in ihren Schreibstuben alle Einzelheiten ihrer Welten steuern.

Autor

PD Dr. Simon Spiegel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich im Forschungsprojekt ERC Advanced Grant FilmColors. Forschungsschwerpunkte: Science-Fiction-Film, utopischer Film, Phantastiktheorie, Genretheorie. Ausgewählte Publikationen: Utopia and Reality. Documentary, Activism and Imagined Worlds (2020); Bilder einer besseren Welt. Die Utopie im nichtfiktionalen Film 2019 (2014); Theoretisch phantastisch: Eine Einführung in Tzvetan Todorovs Theorie der phantastischen Literatur (2010); Die Konstitution des Wunderbaren: Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films (2007). www.simifilm.ch.

Willkommen in der Paranoia-Gesellschaft!
Verschwörungstheorien in Zeiten von Corona

Die Aussage, dass Verschwörungstheorien derzeit Hochkonjunktur haben, hat derzeit Hochkonjunktur. Bereits vor der Corona-Pandemie entstand in der Öffentlichkeit die Wahrnehmung, dass Verschwörungstheorien immer populärer werden, immer mehr in die Gesellschaft einsickern, eine wachsende Bedrohung für die Demokratie darstellen. Am 17. Mai 2019 wurde im Kloster Dalheim bei Lichtenau eine Ausstellung mit dem Titel Verschwörungstheorien früher und heute eröffnet. Die Ausstellung stand unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, der zur Eröffnung eine Rede hielt, bei der er den Kampf gegen »Desinformation und Verschwörungstheorien« als eine der »großen Herausforderungen für die liberale Demokratie« bezeichnete.3 Die Corona-Pandemie, so ist häufig zu lesen, wirke wie ein Brennglas auf gesellschaftliche Problemlagen und Fehlentwicklungen. Jedenfalls haben sich die gesellschaftlichen Diskussionen rund um das Thema Verschwörungstheorien während der Covid-19-Pandemie noch einmal erheblich intensiviert und zugespitzt. Folgt man den Einschätzungen unzähliger alarmierender Presseartikel, aber auch einiger Politiker und Experten, so haben sich während der Pandemie neben den gefährlichen Corona-Viren mindestens ebenso pandemisch gefährliche Fake News und Verschwörungstheorien ausgebreitet, die u. a. einen Soulsänger zum Weinen, einen Vegan-Koch zum Durchdrehen, Reichsflaggen vor den Reichstag und den ansonsten arg vernachlässigten Buchstaben Q zu ungeahnter Präsenz brachten. Was ist hier eigentlich los?

Verschwörungstheorien haben keinen besonders guten – man könnte auch sagen, einen außerordentlich schlechten – Ruf. Sie gelten geradezu als Paradebeispiel für irrationale, abwegige, illegitime oder gar gefährliche Haltungen (vgl. Anton et al. 10). ›Verschwörungstheorie‹ und ›Verschwörungstheoretiker‹ haben sich inzwischen zu leidlich potenten Kampfbegriffen zur Diskreditierung missliebiger Meinungen gemausert, was man alleine schon daran erkennen kann, dass es eigentlich niemanden gibt, der sich selbst in der Öffentlichkeit gerne als Verschwörungstheoretiker bezeichnet (vgl. Butter 45). Hinzu kommt, dass Anhängern von Verschwörungstheorien spätestens seit dem paradigmatischen Essay »The Paranoid Style in American Politics« (1964) des US-amerikanischen Historikers Richard Hofstadter mit einer gewissen Regelmäßigkeit ein Hang zu paranoidem Denken unterstellt wurde. Hofstadter sah eine spezielle Bewusstseinsform, einen paranoid style, als Ursache für Verschwörungstheorien, grenzte diesen aber klar von der klinischen Paranoia ab: Ein wesentlicher Unterschied zwischen klinischer Paranoia und dem paranoid style bestehe darin, dass bei ersterer davon ausgegangen wird, dass sich die wahrgenommenen Bedrohungen und Verschwörungen gegen die Betroffenen selbst richten, während bei letzterem ganze Nationen, Kulturen oder Lebensweisen als Angriffsziel oder Opfer verschwörerischen Wirkens gesehen werden (vgl. Hofstadter 4).4 Dies verhinderte allerdings nicht, dass sich in der Folge ganze Scharen von Psychologen auf die Suche nach psychopathologischen Merkmalen von Verschwörungstheoretikern machten. Sie kamen u. a. zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass sich Paranoia und Verschwörungserzählungen zwar teilweise überschneiden, »aber in ihrem Umfang sowohl in Bezug auf die wahrgenommene Bedrohung als auch auf das ›Ziel‹ deutlich zu unterscheiden« seien (Nocun und Lamberty 35). Dies ist ein beruhigender Befund, bedenkt man, dass diejenigen, die an irgendeine Verschwörungstheorie glauben, in den meisten Gesellschaften die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen dürften (vgl. etwa Oliver und Wood). Verschwörungstheorien sind ein hochkomplexes, vielschichtiges soziales Phänomen. Ihre Erscheinungsformen reichen von vollständigem Unfug bis hin zu legitimen und faktenbasierten Überlegungen. Nach übereinstimmenden psychologischen oder gar psychopathologischen Merkmalen ihrer Anhänger zu suchen, ist in etwa so sinnvoll, wie die Psychologie von SPD-Wählern, Katholiken oder Harry-Potter-Fans zu ergründen.

Als kulturwissenschaftliche Metapher hingegen ergibt die Rede von der Paranoia im Zusammenhang mit Verschwörungstheorien durchaus Sinn. Verschwörungstheorien wohnt eine gewisse Stimmung inne. Sie bilden ein Geflecht aus spezifischen Denkformen und Emotionen. Grundlegend ist zunächst einmal: Misstrauen. Dieses Misstrauen kann sich etwa auf die Äußerungen einzelner Personen oder Personengruppen, auf die ›offiziellen‹ Erklärungen für bestimmte Ereignisse oder auch auf ganze gesellschaftliche Systeme oder Institutionen wie etwa ›die Medien‹ oder ›die Politik‹ beziehen, kommt also innerhalb von Verschwörungstheorien in höchst unterschiedlichen Dosen vor. Aus diesem Misstrauen erwächst schließlich der Verdacht oder die Gewissheit, dass ›etwas nicht stimmt‹, dass die Dinge nicht so sind, wie sie dargestellt werden, sich ›hinter den Kulissen‹ etwas abspielt, dass es eine geheime, verborgene Verschwörung gibt. Sodann beginnt die Suche nach Belegen für die angenommene oder behauptete Konspiration, nach Ungereimtheiten, Widersprüchen, Fehlern in der offiziellen Berichterstattung, aber auch nach Gleichgesinnten, nach der Wärme geteilter Deutungen und Gewissheiten. So entstehen ganze Inseln alternativer Wirklichkeitsbestimmungen, die teilweise so weit vom Festland der orthodoxen Wirklichkeit entfernt sind, dass aus Sicht der Festlandbewohner wahrhaft verrückt sein muss, wer sich dort aufhält.

Misstrauen geht oft Enttäuschung voraus – und zwar im doppelten Wortsinne. Dieser Zusammenhang ist durchaus proportional, das heißt: je mehr Enttäuschung, desto mehr Misstrauen. Wenn also derzeit von einer ›Hochkonjunktur‹ von Verschwörungstheorien die Rede ist, muss auch die Enttäuschung groß sein. Enttäuschung besteht aus einem Missverhältnis zwischen Erwartetem, Erhofftem und der Realität. Oder eben aus dem willentlichen oder unwillentlichen Heraustreten aus einer Täuschung, einer Desillusionierung. Die Covid-19-Pandemie schien zu Beginn eher das Gegenteil zu bewirken, eine Rückbesinnung auf traditionelle, etablierte Institutionen, einen Vertrauensgewinn für Wissenschaft, Politik und Medien nach dem Motto: im Zweifelsfall lieber an dem Bewährten orientieren. Doch die »größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg«, wie die ansonsten mit Superlativen eher sparsame Bundeskanzlerin die Corona-Pandemie bezeichnete, entfaltete sehr schnell ein erhebliches Enttäuschungspotenzial. Schon bald zeichnete sich das Problem ab, dass den ›Lockdown-Maßnahmen‹, zu denen Einschränkungen von Bürger- und Freiheitsrechten gehörten, die in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland beispiellos sind, eine unklare Datenbasis gegenüberstand, die durchaus unterschiedliche Interpretationen zuließ – etwa, was die Gefährlichkeit und die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Virus anbelangt. Einige der Informationen und Deutungen, die zu Beginn der Pandemie von Wissenschaft, Politik und Medien über das Virus verbreitet wurden, erwiesen sich im Nachhinein als einigermaßen postfaktisch – oder zumindest unvollständig. So war zum Beispiel der rasante Anstieg der Fallzahlen zu Beginn der Corona-Krise nicht nur, aber auch auf den ebenso rasanten Anstieg der Zahl der Testungen zurückzuführen. Dann wurde klar, dass nicht jeder statistische Corona-Tote auch ein ›echter‹ Corona-Toter sein muss, da in die offizielle Zahl der Corona-Toten alle einfließen, die vor ihrem Tode positiv auf Sars-CoV-2 getestet wurden. Hierzu vermeldet das Robert Koch-Institut: »Sowohl Menschen, die unmittelbar an der Erkrankung verstorben sind (›gestorben an‹), als auch Personen mit Vorerkrankungen, die mit SARS-CoV-2 infiziert waren und bei denen sich nicht abschließend nachweisen lässt, was die Todesursache war (›gestorben mit‹) werden derzeit erfasst«.5 Die Gefährlichkeit des ›neuartigen‹ Corona-Virus wurde anfangs auch damit begründet, dass es in der Bevölkerung keinerlei Grundimmunität gäbe und das Virus sich daher ungehindert ausbreiten könne. Doch bald meldeten sich Wissenschaftler zu Wort, die die These von der fehlenden Grundimmunität bezweifelten und die These von der Kreuzimmunität ins Spiel brachten, die wiederum von anderen Wissenschaftlern bezweifelt wurde. Und so weiter. Und so fort.

Dies alles und etliche weitere offene Fragen in Bezug auf die Corona-Pandemie führten in Teilen der Bevölkerung zu einer erheblichen Verunsicherung, in anderen Teilen zur offenen Ablehnung der offiziellen Deutung der Ereignisse, zu dem Verdacht, dass sich hier, ähnlich wie die Finanz- von der Realwirtschaft, das offizielle Narrativ von der Realität abgekoppelt hat. Hinzu kam der Eindruck vieler, dass berechtigte Zweifel an der amtlichen Corona-Erzählung im öffentlichen Diskurs zu wenig Platz bekommen oder gar systematisch ausgeschlossen würden. Die Enttäuschung trat also auf beiden Bedeutungsebenen ein: Die Erwartung, dass derart drastische Einschränkungen des wirtschaftlichen und alltäglichen Lebens der Menschen auf einer eindeutigen, nachvollziehbaren und widerspruchsfreien Datengrundlage beruhen müssen, ist für viele Menschen nicht erfüllt. Die damit einhergehenden Zweifel sehen sie im öffentlichen Diskurs zu wenig berücksichtigt oder sie fühlen sich durch einseitige Berichterstattung gar getäuscht. Kurzum: Sie wurden misstrauisch.

Situationen, in denen die offizielle Wirklichkeitsbestimmung zu bröckeln beginnt, muss man sich vorstellen wie einen Wald, in dem nach einem heftigen Sturm Äste von Bäumen abgerissen wurden oder gar ganze Bäume umfielen. Auf dem nunmehr sonnenbeschienenen Waldboden wachsen plötzlich Pflanzen, die zuvor keine Chance hatten, darunter auch allerlei eigentümliche Gewächse. So führten die Wirren der Corona-Pandemie zum Erblühen wirrer Gedanken einiger Wirrköpfe. Xavier Naidoo und Attila Hildmann, beide zuvor nicht primär für bestechende politische Analysen bekannt, fühlten sich im Zuge der Corona-Krise offenbar berufen, den Menschen mitzuteilen, was in Wahrheit passiert. Durch ihre Bekanntheit erreichten die beiden mit ihren Botschaften ein großes Publikum – und darunter waren offensichtlich tatsächlich ein paar Menschen, die das aus dem Internet und sozialen Medien zusammengekleisterte Verschwörungs-Geschwurbel ernst nahmen, das der Sänger und der Koch von sich gaben. Es ist, wie wenn in einer großen Runde ein schlechter Witz erzählt wird: Einer lacht immer. Inspiriert wurden die beiden offensichtlich von dem mysteriösen QAnon-Kult aus den USA, in dessen Kern die Behauptung steht, dass eine einflussreiche, weltweit agierende Elite aus Pädophilen und Satanisten Kinder entführe, gefangen halte und foltere, ihnen Blut abzapfe und daraus Adrenochrom gewinne,6 das als Verjüngungsdroge diene. Donald Trump ist für viele Anhänger von QAnon eine Art Erlöser, der gekommen ist, um die düstere Verschwörung zu zerschlagen und die in unterirdischen Bunkern gefangenen Kinder zu befreien. So verkündete Naidoo mitten in der Corona-Krise in einem Video unter Tränen, dass, wenn er es richtig verstehe, »in diesem Moment in verschiedenen Ländern der Erde Kinder aus den Händen pädophiler Netzwerke befreit [werden]. Aber nicht so, wie ihr denkt. […] Adrenochrom, geht auf Adrenochrom, Bilder, wenn ihr das ertragen könnt. Und ich weiß seit mindestens 15 Jahren, was los ist« (Harder 3).

Die bizarren Ausbrüche von Naidoo und Hildmanm kann man traurig oder auch bedenklich finden. Viele Medien sahen darin aber offenbar einen hohen Sensationswert. Vor allem Hildmann entwickelte sich zu einer Art negativem Medienstar, zu einem Vorzeige-Covidioten, zu einer Art Synonym für alle, die im Zuge der Corona-Krise aus der Spur gerieten. Und davon scheint es unzähligen Medienberichten zufolge ja einige zu geben. Jedenfalls war in den letzten Monaten viel über Aluhutträger, Reichsbürger, Verschwörungsideologen etc. zu lesen. Doch genau darin liegt das Problem: Durch die mediale Fokussierung auf das Kuriositäten-Kabinett innerhalb des Feldes der Kritik an der offiziellen Sichtweise auf die Pandemie fühlen sich viele Menschen mit berechtigten Zweifeln nicht ernst genommen, nicht gehört. Menschen, die Attila Hildmann für einen Spinner halten, die aber Kritik an den Corona-Maßnahmen haben und vielleicht auch über die eine oder andere Corona-Verschwörungstheorie nachdenken, etwa zum Ursprung des Virus. Anders ausgedrückt: Jene, die das Festland zwar verlassen haben, aber auf großen Inseln in der Nähe der Küste leben und genau beobachten, was auf der anderen Seite passiert. Auf diesen Inseln gibt es weder Aluhüte noch Reichsflaggen, aber eine Menge Unmut darüber, wenn Politik und Medien legitime Kritik, Spinnereien und Extremismen in einen Topf werfen.

So wie das Misstrauen die Basis für Verschwörungstheorien bildet, scheint umgekehrt das Misstrauen oftmals auch die Basis für den Umgang von Politik und Medien mit Kritik an der offiziellen Corona-Wirklichkeit zu sein. Interessant erscheint mir in diesem Zusammenhang insbesondere die geradezu inflationäre Verwendung der Begriffe ›Verschwörungstheoretiker‹ und ›Verschwörungstheorie‹, die immer häufiger auch dann zur Anwendung kommen, wenn die damit bezeichnete Argumentation gar keine Verschwörungsbehauptung enthält, sondern lediglich eine abweichende Meinung repräsentiert. Mit anderen Worten:

Der Begriff »Verschwörungstheorie« und seine Derivate werden von zahlreichen Medien wie Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens nach dem Gießkannenprinzip ausgeschüttet, sobald ein gewisser Rahmen des Diskurses verlassen wird. Auffällig ist, dass es auch hierbei nicht um Inhaltlichkeit geht, sondern dass offenbar Maßstab für die Anwendung des Begriffs ist, ein unausgesprochen abgestecktes Feld verlassen zu haben, innerhalb dessen ein Diskurs erlaubt ist. (Lorenz)

Die negative Konnotation der Begriffe ›Verschwörungstheorie‹ und ›Verschwörungstheoretiker‹ wird genutzt, um die Illegitimität, Irrationalität und Gefährlichkeit einer abweichenden Meinung zu markieren. Damit wird der Vertrauensverlust, den Politik und Medien erfahren, zurückgespiegelt. Die Devise lautet: Wer uns nicht vertraut, dem ist zu misstrauen! Hinter der Aufgeregtheit, mit der manche Journalisten und Politiker abweichende Meinungen zur Corona-Krise kommentieren, ist deutlich die Angst vor dem Verlust der Deutungshoheit zu spüren, davor, dass sich immer mehr Menschen abwenden und in andere alternative Wirklichkeiten begeben.

Wir leben in einer Paranoia-Gesellschaft. Ich meine damit einen gesellschaftlichen Zustand, in dem sich eine wachsende Angst vor Verschwörungen einerseits und eine wachsende Angst vor Verschwörungstheorien andererseits wechselseitig hochschaukeln und im öffentlichen Diskurs zu einer zunehmenden Polarisierung und zu einem Klima des Misstrauens, der Empörung und der Gereiztheit führen. Dieser Zustand kann chronisch werden – und damit zu einer echten Gefahr für die Demokratie. Um diese Dynamik zu stoppen, hilft nur Mäßigung auf beiden Seiten und vor allem die Bereitschaft zu einem offenen, sachlichen Diskurs. Um eine in diesem Text zugegebenermaßen schon etwas überstrapazierte Metapher noch einmal aufzugreifen: Manchem Festlandbewohner täte es sicher gut, einmal ein wenig Urlaub auf einer Insel zu machen. Und mancher Inselbewohner sollte dringend einmal wieder das Festland besuchen. Am besten dafür wäre es, wenn man zwischen Festland und Inseln Brücken baut.

Autor

Andreas Anton, Soziologe, arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene in Freiburg im Breisgau. Arbeitsgebiete: Wissens-, Medien-, Kultur- und Exosoziologie. Aktuelle Veröffentlichung: Anton, Andreas, Schetsche, Michael (2020): Sie sind da. Wie der Erstkontakt mit Aliens unsere Gesellschaft verändern könnte. Ein Gedankenexperiment. München: Komplett-Media.

Über das Querdenken
Der epistemische Widerstand der Corona-Proteste

Mitte April 2020 kam auf einer sogenannten »Hygienedemo« in Berlin, die sich gegen die staatlichen Maßnahmen zur Einschränkung der Corona-Pandemie richtete, eine Zeitung namens Demokratischer Widerstand in Umlauf, die in dem Aufmacher »Wir sind die Opposition!« gleich in den ersten Zeilen die rhetorische Figur des Komplotts aufrief: »Sämtliche Freiheitsrechte wurden außer Kraft gesetzt, während wir von der Regierung in Todesangst versetzt zuhause [sic!] eingesperrt werden« (Demokratischer Widerstand, 17. April 2020 1). Anhand dieses Satzes lässt sich bereits die verschwörungstheoretische Erzählung, die das einheitsstiftende Element in der hybriden Gemengelage der »Corona-Demos« bildet, herauslesen: Die Realität, in der wir uns täglich bewegen, sei verdächtig. Eine Macht halte uns in ihrem Bann, sie spiele mit unseren Ängsten, um uns zu unterdrücken. Dabei ist das Zentrum der Macht keineswegs leer, es seien die staatlichen Autoritäten, die den Bürger*innen ihre Freiheit rauben. Das Coronavirus sei in seinem epidemischen Ausmaß eine Erfindung der politischen Eliten. Diese Erzählung ist in unterschiedlichen Variationen das wohl wirkungsstärkste Narrativ, das die »Corona-Leugner«, wie die Demonstrationsteilnehmer*innen in der medialen Öffentlichkeit bezeichnet werden, zum regelmäßigen Protest gegen staatliche Aktivitäten aufruft.

Angesichts des bedrohlichen Verlustes von Evidenz, mit dem während der Corona-Pandemie alle gleichermaßen konfrontiert wurden, gibt bei den Corona-Protesten eine imaginäre »geteilte Realität« (Boltanski 15) Halt, die wesentlich durch ihre Latenz überzeugt. Die Welt, die uns umgibt, wird ihres irrealen Gehalts entkleidet, indem sie mit ihrer verborgenen Wahrheit konfrontiert wird. Hinter der weltweiten Covid-19-Pandemie stehe ein Komplott staatlicher Funktionseliten. Das Unbehagen, das sich beim Lesen der oben zitierten Zeilen einstellt (wer wird schon gerne in Angst versetzt und eingesperrt?), resultiert aus diesem anderen Blick auf die Realität.

Wenn in der Ausgabe der oben zitierten Zeitung von der »Erfindung einer Epidemie« oder einem »Notstandsregime« (Demokratischer Widerstand, 17. April 2020 6, 1) die Rede ist, kippt die Normalität ins Beunruhigende. Mit dieser affektiven Ausstattung erzeugen die Verschwörungstheorien rund um das Coronavirus einen eigenen Zugang zur Realität, der die unvorhersehbaren Entwicklungen in eine plausible Erklärung überführt. Ob von der »Bill-Gates-Verschwörung« die Rede ist, die in einem dystopischen Szenario eine globale Zwangsimpfung und Überwachung durch einen implantierten Microchip imaginiert, oder der QAnon-Bewegung, die eine ebenso düstere wie grauenvolle Erzählung spinnt, dass Hollywood-Stars und politische Funktionsträger Kinder sexuell ausbeuteten und deren Blut trinken würden – der reale Einbruch des Unerklärlichen durch eine globale Pandemie setzt eine ungeheure narrative Produktivität über das Ungeheuerliche frei.

Interessant an den konspirativen Erzählungen über das Coronavirus ist nicht unbedingt deren Semantik, die oftmals an bewährte Bilder und Motive aus der Geschichte der Verschwörungstheorien anknüpft (wie der manichäische Konflikt zwischen dem Bösen, den korrupten Eliten, und dem Guten, den Opfern der staatlichen Repression), sondern die eingenommene Erzählhaltung, die gleichzeitig als Selbstbezeichnung der Corona-Proteste fungiert: das Querdenken. Die Initiative Querdenken 711 meldete im Frühjahr in Stuttgart Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen an, andere Städte folgten. Am 29. August 2020 verzeichnete die Querdenken-Initiative auf einer Berliner Demonstration rund 38 000 Teilnehmer*innen, an deren Rand rechtsextreme Reichsbürger für kurze Zeit die Treppen des Reichstagsgebäudes besetzten. Spätestens seitdem steht der Begriff für einen neuen Typus sozialer Proteste: den des epistemischen Widerstandes. Das Querdenken forciert einen epistemischen Bruch mit der Ordnung der sozial geteilten Realität – es stellt sich »quer« zum sozial geteilten Weltverständnis. Dadurch will es die Realität, wie sie uns erscheint, als machtvolle Illusion entlarven, um eine neue »Politik der Wahrheit« (Badiou und Ranciere) zu formulieren.

Die konspirative Narration – nichts ist, wie es scheint, und nichts geschieht durch Zufall – wird mit den Corona-Protesten performativ wirkmächtig (vgl. Butter). So titelt die Ausgabe der eingangs erwähnten Zeitung Demokratischer Widerstand zur Berliner Demonstration am 29. August: »Die Fake-Pandemie ist vorüber: Am heutigen Tag beginnt die Rückbindung unseres Politik- und Wirtschaftssystems an die Menschen. Die Deutschen verständigen sich neu auf Basis des Grundgesetzes« (Demokratischer Widerstand, 29. August 2020 1). Eine rechtspopulistische Rhetorik, die an die Selbstbestimmung des Volkes appelliert, wird in einen Ordnungskonflikt zwischen dem Realen und Irrealen überführt: der »Fake-Pandemie« sollen faktische Menschenmassen gegenübertreten, welche in ihrem Selbstanspruch die unhinterfragte Evidenz des So-und-nicht-anders-Seins infrage stellen wollen.

Das Querdenken der Verschwörungstheoretiker*innen kann insofern als eine imaginäre Beobachtung zweiter Ordnung gedeutet werden: es attestiert sich selbst einen kritischen Beobachterstandpunkt gegenüber einer verzerrten, da staatlich gelenkten Darstellung der sozialen Realität. »Die großen Medienhäuser sind gleichgeschaltet« (Demokratischer Widerstand, 17. April 2020 1, Abb. 2), heißt es wie in der ersten Ausgabe in unterschiedlichen Versionen immer wieder. Während sich die legitimierten Beobachtungsinstanzen erster Ordnung, allen voran der Journalismus oder die Wissenschaft, im Zuge der Pandemie dem »Regierungskurs unterworfen« hätten, trete das Querdenken mit seiner »Gegenstimme« aus dem Schleier der Täuschung (ebd.). Die Wahrheitsinszenierung ist hier nicht primär als Faktencheck gedacht, sondern resultiert aus einer vermeintlichen Unabhängigkeit der eingenommenen Beobachterperspektive gegen ein »de-facto-diktatorisches Hygiene-Regime« (ebd.). »Parteiunabhängig« und »liberal« (ebd.) sind nicht nur heroische Selbstzuschreibungen der Proteste, sondern in ihnen ist gleichzeitig eine epistemische Distanz zur Wirklichkeit aufgehoben.

Abb. 2
Abb. 2

Das Titelblatt der Ausgabe von Demokratischer Widerstand vom 17. April 2020.

Es wundert darum nicht, dass eine zentrale Referenzfigur der Corona-Proteste kein*e Mediziner*in, sondern ein Philosoph ist: Giorgio Agamben. Bis heute wird die Herausgeberangabe des Demokratischen Widerstandes durch ein »mit Prof. Giorgio Agamben« ergänzt, dessen professoraler Titel der Zeitung wohl Glaubwürdigkeit verleihen soll. Zwar dementierte Agamben jegliche Beteiligung; dies ändert jedoch nichts daran, dass seine publizistischen Interventionen zur Corona-Politik zur Tradierung des verschwörungstheoretischen Querdenkens beigetragen haben. Denn er, der Philosoph, hat berufsbedingt weniger die Aufgabe, valide wissenschaftliche Erkenntnisse zu produzieren, sondern die Voraussetzungen des Erkennens zu reflektieren. Er stellt nicht auf, sondern infrage. So avancierte die Übersetzung seines zuerst auf quodlibet.it erschienenen Textes »Sul vero e sul falso« mit dem deutschen Titel »Über die Wahrheitsfälscher« zu einem Schlüsseltext für die Selbstverständigung der Corona-Demonstrant*innen und gibt gleichzeitig Aufschluss über die narrativen Mechanismen des Querdenkens.

In der Übersetzung wird gleich zu Beginn ein zentrales Element des Querdenkens deutlich, die Desintegration einzelner narrativer Elemente und Neukonfiguration zu einer neuen sequenziellen Einheit. Denn die ersten Sätze sind in Agambens italienischem Original so nicht zu finden. Das Übersetzen in die eigene Sprache produziert eine neue Wirklichkeit: »Im Krieg ist das erste Opfer immer die Wahrheit«, beginnt der Text unabhängig von der italienischen Vorlage, und fährt fort, dass der »Krieg gegen das Virus« in Wirklichkeit ein Krieg gegen die Wahrheit sei (Agamben, »Über die Wahrheitsfälscher«). Das Querdenken operiert also destruktiv und produktiv gleichermaßen: es zerstört Bestehendes, um Neues zu erschaffen. Die imaginäre Ordnungsarbeit wird angesichts einer »beispiellosen Ansammlung von Falschinformationen« über das Coronavirus zu einer legitimen Methode der Wahrheitsgenerierung – »denn auch mit Fakten kann man die Wahrheit verdrehen«, heißt es weiter (ebd.).

Es folgt das uns schon bekannte verschwörungstheoretische Narrativ, dass eine »gigantische Operation der Verfälschung der Wahrheit« durch ein Kartell der Eliten (»Medien«, »Werbung« und »politischer Konsens«) in Gang gesetzt wurde (ebd.). Legitimation besitze dieser falsche Diskurs vor allem, da er von den Menschen »passiv akzeptiert« (ebd.) würde. Mit der Corona-Pandemie stehe jedoch »unser gesamtes, alltägliches Dasein auf dem Spiel« (ebd.) – das Virus wird in der Logik des Querdenkens zu einem Ereignis im Sinne Alain Badious, einem Bruch mit der vorherrschenden Ordnung, das über diese hinaus auf eine tiefere Wahrheit des Realen verweist. Die epistemische Krise ist im Querdenken darum ein Ort der »elementaren Überprüfung« (ebd.). Es justiert die Koordinaten über das Reale neu. Dies ist ein wesentliches Selbstverständnis der Corona-Proteste: die physische Präsenz der Menschenmassen auf den Straßen als notwendige Korrektur zum Regierungshandeln.

Die Argumentation erinnert auf den ersten Blick an das Verfahren der marxistischen Ideologiekritik: die freiwillige Unterwerfung unter eine soziale Herrschaft wird durch eine epistemische Verkehrung im Bewusstsein erklärt. Karl Marx und Friedrich Engels veranschaulichten dies in der Deutschen Ideologie mit der Metapher der camera obscura (26), in der der unmittelbare Lebenszusammenhang Kopf stehe. Doch das kritische Verfahren der Reflexion der eigenen Existenzgrundlagen wird im Querdenken seiner Substanz beraubt, es erfährt lediglich Plausibilität durch eine antagonistische Kontrastierung, in der man sich selbst als heroisches Subjekt setzt: hier die Position der Wahrheit, dort die der trügerischen Falschheit.

Die Menschheit tritt in eine Phase ihrer Geschichte ein, in der die Wahrheit auf einen Moment in der Bewegung des Falschen reduziert wird. […] Daher muss jeder, um diese Bewegung zu stoppen, den Mut haben, kompromisslos nach dem wertvollsten Gut zu streben: einem wahren Wort (Agamben, »Über die Wahrheitsfälscher«),

schließt die Übersetzung nicht frei von Pathos, der zum Aktivismus aufruft.

Die Instrumente der Gesellschaftskritik werden so gleichermaßen ihres kritischen Gehalts beraubt, sie produzieren, statt Herrschaftsmechanismen zu re- und dekonstruieren, eine imaginäre Herrschaft zweiter Ordnung. Mit dem Geiste der Kritik wird das Netz der Verschwörungstheorien gewebt. Auch wenn meine Überlegungen über das Querdenken provisorisch bleiben, möchte ich zumindest versuchen, aus dem Gesagten einige Punkte zusammenzufassen, die meines Erachtens das verschwörungstheoretische Querdenken charakterisieren. Dies wäre erstens die Narration eines epistemischen Bruchs, das durch apokalyptische Bilder den fundamentalen Charakter des bevorstehenden Ereignisses zu unterstreichen sucht und so zweitens einen heroischen Erzähler – eben die Querdenker*in – zu konstituieren vermag, der den Bruch wegen seiner autonomen Position (von den staatlichen Institutionen) beschreibbar machen kann. Die Haltung des Querdenkens versteht sich dadurch drittens als kritisch, da sie in ihrem Anspruch, die Wahrheit des Realen zu formulieren, eine Reflexion über die alltäglichen Reflexionen des Weltzusammenhanges anstrebt. Betrachtet man aber die Ordnungsarbeit des Querdenkens genauer, so zeigt sich viertens, dass die narrative Kombinatorik wesentlich dadurch bestimmt ist, eine imaginäre Totalität zu setzen.

Autorin

Carolin Amlinger ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im SNF-Projekt »Halbwahrheiten. Wahrheit, Fiktion und Konspiration im ›postfaktischen Zeitalter‹« an der Universität Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Literatursoziologie, Ideologietheorie und -kritik sowie Narrative des Postfaktischen. Ihre Dissertation Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit erscheint 2021 im Suhrkamp Verlag.

Das Subjekt der Paranoia

Verschwörungsdenken ist modernen Kulturen eigentümlich. Wenn, wie immer wieder betont wird, Kontingenzleugnung sein Zweck ist, so besteht sein Mittel in der Identifikation der tendenziell anonymen Institutionen und Gefüge moderner Staaten – Bürokratien ebenso wie Medienanstalten oder die sogenannte ›Hochfinanz‹ – mit feindlichen Akteuren, die geheime und gefährliche Ziele verfolgen. Derart als »fundamental form« (Melley VII) der Moderne begriffen, liegt der Schwerpunkt kultur- und sozialwissenschaftlicher Untersuchungen paranoiden Denkens oftmals auf dessen historischen Kontinuitäten, auf der Beschreibung einer verschwörungstheoretischen Tradition, deren Wurzeln sich weit in die Geschichte zurückverfolgen lassen, deren breitenkulturelle Dominanz aber spätestens seit dem Kalten Krieg deutlich wird. Das Paranoia-Kino der 1970er-Jahre wird in dieser Perspektive gerne als massenkultureller Katalysator eines verschwörungstheoretischen Gegendiskurses gelesen, der die westlichen Gesellschaften im 20. Jahrhundert insgesamt grundiert.7

Dieser Fokus auf Kontinuität und Ubiquität des Verschwörungsdenkens droht jedoch die Unterschiede aus den Augen zu verlieren, die verschiedene Konjunkturen und Ausprägungen der »paranoischen Vernunft« (Schneider, Attentat) voneinander trennen. Steht die Ästhetik besagter Filme der 1970er-Jahre etwa tatsächlich in einer bruchlosen Traditionslinie mit, sagen wir, der Staatsparanoia der McCarthy-Zeit, Verschwörungstheorien zu AIDS oder Prinzessin Diana oder den aktuellen Auswüchsen der QAnon-Ideologie? Reicht es aus, die Werke Alan J. Pakulas oder Damiano Damianis nur als irgendwie reflektiertere Versionen eines immer wiederkehrenden Grundnarrativs zu beschreiben, das ebenso auch antisemitischer Hetze oder bizarren Theorien einer von Echsenmenschen gesteuerten Weltgesellschaft zugrunde liegt, um den Unterschied zwischen all diesen Phänomenen hinreichend benannt zu haben? Im Folgenden möchte ich der These nachgehen, dass insbesondere zwischen der Verschwörungsästhetik des 1970er-Jahre-Kinos und dem Verschwörungsdenken, das aktuelle ›Querdenker‹ nicht nur im deutschsprachigen Raum auf die Straßen treibt, nicht nur ein gradueller, sondern vielmehr ein kategorialer Unterschied besteht.

Hierzu sei zunächst darauf verwiesen, dass die paranoische Vernunft generell zwei diametral entgegengesetzten Stoßrichtungen gleichzeitig folgt: In ihr verbinden sich die skeptische Infragestellung vermeintlich falscher Wahrheiten mit der selbstbewussten Herstellung eines dominanten neuen Narrativs, in das sich die Fragmente der fraglich gewordenen Wirklichkeit bruchlos wieder zusammenfügen. Zweifel und Gewissheit, generelles Misstrauen und unerschütterliche Überzeugung, Destruktion und Konstruktion von Gewissheit sind im paranoischen Denken koexistent (Gaderer et al. 8 f.). Insbesondere der konstruktive – und mithin eigentlich verschwörungstheoretische – Part der Paranoia folgt dabei einem anti-repräsentativen Impuls: Da den überkommenen Akteuren und Medien und damit auch den üblichen Darstellungs- und Argumentationsformen nicht zu trauen ist, zeigt sich die wahre Wirklichkeit stets nur im Jenseits der Repräsentation, im Flimmern medialer Bilder (vgl. Schneider, »Gefahrenübersinn«) oder in zufällig entdeckten Mustern und Ähnlichkeiten, in einem vielfältigen Netz verdächtiger Entsprechungen. »The pattern replaces the absolute proof, which is impossible to find« (Coale 22).

Der Verschwörungstheoretiker interessiert sich daher in Wirklichkeit nicht für reale Verschwörungen oder historisch nachweisbare klandestine Netzwerke. Der Fall Dutroux, zentral für die QAnon-Ideologie, erwiese sich etwa rundheraus als trivial, würden tatsächlich alle beteiligten Sexualstraftäter gefunden und verurteilt werden: Nur als Spitze des Eisbergs, als Verweis auf ein in seinem Ausmaß nicht auslotbares, im Grunde systemisches und naturhaft böses Verbrechen funktioniert er als Motor im verschwörungstheoretischen Gefüge. Jeder juristische Nachweis, jede tatsächliche Verurteilung erscheint ganz im Gegenteil sogar selbst wie ein Versuch der Vertuschung; er wird als Teil der falschen Ordnung interpretiert, hinter der die Verschwörung ihre wahren Ausmaße verbirgt. Das dominante Modell für das Verschwörungsdenken ist mithin die Struktur der doppelten symbolischen Ordnung: Hinter dem offiziellen Recht waltet ein anderes, geheimes und mächtiges Gegen-Recht. Der Paranoiker bedarf – in Begriffe der Psychoanalyse gefasst – stets eines zweiten Vaters: Während dem ersten, vermeintlich offiziellen symbolischen Vater nicht mehr zu trauen ist, ist die zweite, geheime Vaterinstanz umso mächtiger.

(P)aranoia is at its most elementary a belief into an »Other of the Other«, into another Other who, hidden behind the Other of the explicit social texture, programs (what appears to us as) the unforeseen effects of social life and thus guarantees its consistency. (Žižek 33)

Diese Verdoppelung des Symbolischen erzeugt ein paradoxes Verhältnis zum Recht, das insbesondere vom Paranoia-Kino der 1960er- und 1970er-Jahre in Szene gesetzt worden ist. So zeigt etwa der Vorspann eines der ersten Filme dieses Genres, John Frankenheimers SEVEN DAYS IN MAY (US 1964), die amerikanische Verfassung, die durch die in schwarzen, dicken Linien sich allmählich darüber ausbreitenden Zahlen eins bis sieben regelrecht überschrieben wird (Abb. 3). Die Gefährdung der allgemein anerkannten und nachgerade mythisch besetzten symbolischen Ordnung geht hier unverkennbar von einer anderen, ebenso symbolischen Ordnung aus, die dunkel und bedrohlich erscheint und deren Existenz im Verlauf des Films erst allmählich und in Form vager Zeichen und Muster erkennbar wird. Das verschwörungstheoretische Narrativ handelt also nicht in erster Linie von der Gefahr einer Abschaffung der existierenden symbolischen Ordnung, wie dies etwa bei einem Staatsstreich oder einer Revolution passieren würde: Zwar kann die Vorbereitung eines Staatsstreichs durchaus der Zweck einer angenommenen oder realen Verschwörung sein; ihre unheimliche und verstörende Wirkung besteht aber nur, solange sie die existierende Ordnung gerade intakt lässt, sie aber unbemerkt aushöhlt und unterwandert, sie sich zunutze macht, ja regelrecht als Tarnung für ihre düsteren Machenschaften verwendet. Das offizielle Recht wird so zur bloßen Inszenierung, hinter der die eigentliche Macht sich jedem Zugriff entzieht. Verschwörungen existieren daher in der Imagination der Verschwörungstheoretiker in erster Linie in der Negativität, als stumme Entwertungen und Verneinungen der eigentlichen Ordnung, als paradoxe symbolische Verbote des Symbolischen.

Abb. 3
Abb. 3

Die doppelte symbolische Ordnung in SEVEN DAYS IN MAY.

Eine solche Konstellation kann das Subjekt, das einer Verschwörung gegenüberzustehen glaubt, nicht unberührt lassen. Die Helden der Verschwörungsfilme können daher auch nicht in der Rolle des distanzierten Beobachters verbleiben, die sie anfangs oft einzunehmen scheinen; vielmehr werden sie durch die fortschreitende Infragestellung eben jener symbolischen Ordnung, der sie selbst angehören und von der sie als Subjekte abhängen, in ihrer psychischen Integrität erschüttert. Denn wie etwa Damiano Damiani in IO HO PAURA (IT 1977) vorführt, trägt das Subjekt der Paranoia die Dimension des Symbolischen stets in sich: Der Protagonist des Films ist ein Brigadiere der italienischen Polizei namens Lodovico Graziano (Gian Maria Volonté) und mithin selbst ein Repräsentant der Ordnung. Als Leibwächter eines italienischen Richters ist er vom ubiquitären Terror in den anni di piombo soweit eingeschüchtert worden, dass er nur noch das eigene Überleben im Blick hat. Sein Misstrauen in sämtliche staatlichen Institutionen inklusive der eigenen Vorgesetzten lässt ihn dabei zu einem Schauspieler werden, der – ganz im Sinne der Omertà, dem Gesetz des Schweigens, mit dem die Mafia in Italien die herrschende Ordnung konterkariert – stets seine eigene Ahnungslosigkeit und Unbedarftheit unter Beweis zu stellen versucht. Dass er tatsächlich genau versteht, was um ihn herum vor sich geht, wird allein durch seine innere Stimme deutlich, die Damiani als Voice-over über die Szenen legt und die dabei so erscheint, als ob sie – in den Worten Mladen Dolars – »geradezu der Inbegriff einer Gesellschaft wäre, die wir in uns tragen und der wir nicht entgehen können« (22).

Als der eigentlich unpolitische Untersuchungsrichter, für den Graziano arbeitet, auf einmal versucht, die Hintergründe eines Attentats auf einen Personenzug aufzuklären, gerät er ins Visier der Hintermänner dieses Attentats und wird umgebracht. In einer Schlüsselszene des Films wird der Brigadiere kurz nach diesem Mord von einem anderen Untersuchungsrichter zu einer geheimen Ermittlung begleitet. Diese wiederholt bis ins kleinste Detail eine bereits stattgefundene Ermittlung, welche Graziano zuvor in Begleitung seines ehemaligen Vorgesetzten durchgeführt hatte. Die gleichen Zeugen werden befragt, die gleichen Antworten notiert, und in gemeinsamer Zwiesprache kommen Untersuchungsrichter und Polizist zu den gleichen Schlussfolgerungen. Dem Brigadiere ist derweil bewusst, dass es sich hier um eine Ermittlung zweiter Ordnung handelt, dessen eigentlicher Gegenstand er selbst ist: Der neue Untersuchungsrichter steht mit der Mafia im Bunde, er ist ein Repräsentant nicht nur des offiziellen, sondern auch des inoffiziellen Rechts und versucht den Wissensstand Grazianos über jene gigantische Verschwörung gegen den Staat in Erfahrung zu bringen, die die Ursache des Terrors und des Mordes an seinem ehemaligen Vorgesetzten ist. So darf der Brigadiere durch nichts zu erkennen geben, dass er die Ermittlung schon einmal vollzogen, die ganze Situation schon einmal durchlebt hat (Abb. 4). Beim Versuch, einen Film für seinen Fotoapparat zu kaufen, sucht er daher zunächst in der falschen Richtung nach dem entsprechenden Geschäft, obgleich er sich genau erinnert, wo er einige Wochen zuvor seine Filme erworben hatte. Seine innere Stimme hält ihn zugleich immer wieder dazu an, den staatlichen Autoritäten und damit der offiziellen symbolischen Ordnung nicht zu trauen.

Abb. 4
Abb. 4

In IO HO PAURA wird der Protagonist stetig überwacht. Selbst die eigenen Vorgesetzten, eigentlich Vertreter des offiziellen Rechts, sind hier Agenten einer zweiten, klandestinen gesellschaftlichen Ordnung.

Wie bei einem Trauma kommt es bei Damiani also zu einer exakten Wiederholung der Vergangenheit. Die Traumatisierung vollzieht sich jedoch nicht primär als individualpsychologische, sondern durch den staatlichen Zwang zum Re-enactment bei gleichzeitiger unterschwelliger Androhung krimineller Gewalt. Das paranoide Subjekt ist mithin ein traumatisiertes Subjekt, dessen Trauma nicht aus einem individuellen Erlebnis resultiert, sondern von der Institution des Rechts, vom Staat selbst regelrecht implantiert wird. Gleichzeitig muss der Brigadiere aber so tun, als würde er die unausgesprochene Gewaltdrohung gar nicht bemerken: Er glaubt zwar nicht mehr an die offizielle symbolische Ordnung, da er von der Existenz der dahinterstehenden und weitaus mächtigeren mafiösen Schattenordnung weiß; diese verlangt jedoch von ihm, genau so zu tun, als wäre die ›offizielle‹ Ordnung noch intakt. In ebendiesem Repräsentationsverbot, das zugleich als stumme Repräsentation einer zweiten, illegalen staatlichen Ordnung fungiert, liegt die paradoxe Struktur der Verschwörung begründet, von der das politische Paranoia-Kino der 1970er-Jahre handelt (vgl. Pause). Das paranoide Subjekt ist hier gerade kein rebellierendes, sondern ein getriebenes, in seinem eigenen, verhängnisvollen Wissen gefangenes, dessen verschwörungstheoretische Rationalität aus einer strukturellen Unfähigkeit zur wahren Rede – eben einer Beschädigung des Symbolischen – resultiert. Sein letzter authentischer (Nicht-)Ausdruck ist seine innere Stimme, die nicht nach außen treten darf – und die Damiani daher als eine Art Anti-Acousmêtre inszeniert, als eine Stimme, die – in Anlehnung an Michel Chions Theorie des Acousmêtre (1994), jener eigentümlich machtvollen Voice-over-Stimme des Kinos, deren Quelle unsichtbar bleibt – gleichzeitig ubiquitär und unhörbar ist.

Wo tatsächlich ein ›Deep State‹ existiert, so ließe sich Damianis Film resümieren – und für die Existenz destruktiver Verschwörungen gab es im Italien der 1970er-Jahre eine ganze Reihe ernstzunehmender Anzeichen –, da wären beschädigte Subjekte wie der Brigadiere sein Resultat. Der Unterschied zu jenen Subjekten, die aktuell als zentrale Akteure verschwörungstheoretischen Denkens erscheinen, könnte freilich kaum deutlicher sein. In Zeiten von QAnon scheint der Topos der großen Verschwörung von einem Ausdruck traumatisierter Subjektivität zu einem Werkzeug proaktiver gesellschaftlicher Desintegration geworden zu sein, dessen eigentliches Ziel die Immunisierung des eigenen Hedonismus gegen jede Art gesetzlicher Regulierung darstellt. Von Repräsentationsverbot und beschädigter Sprache kann keine Rede sein: Das generelle Misstrauen gegenüber ›Lügenpresse‹, ›Politiker-Sumpf‹ und sonstigen kollektivsingularen Establishment-Popanzen artikuliert sich lauthals und zeugt auf diese Weise nicht mehr von der Übermacht einer stummen, aber allmächtigen Bedrohung, die wie eine zweite symbolische Ordnung die Subjekte durchzieht, sondern von einer willentlichen Abwendung von der Institution des Symbolischen insgesamt.

Der französische Rechtshistoriker Pierre Legendre hat diesen Kern der ›postfaktischen‹ Gesellschaft in dem Begriff des »sujet-Roi« (Legendre, Gott im Spiegel 73), des Majestätssubjekts, auf den Punkt gebracht. Ein solches Subjekt glaubt die Sphäre der symbolischen Ordnung, Gesetze ebenso wie wissenschaftlich oder journalistisch ermittelte Wahrheiten, selbst kontrollieren, sich nach Belieben davon lösen oder sie den eigenen Wünschen unterwerfen zu können. Es ist nach Legendre das Resultat einer individualistisch aus dem Ruder gelaufenen Säkularisierung, die in der Gegenwart nicht mehr nur überkommene religiöse Dogmen, sondern jedes gesellschaftliche Referenzsystem generell infrage stellt. Der Nachweis einer Verschwörung dient dem sujet-Roi dabei vor allem als Legitimation der eigenen Inthronisierung. Die filmische Verkörperung der Majestäts-Subjektivität wäre womöglich der nach Genuss der roten Pille ›erwachte‹ Neo der MATRIX-Trilogie, auf die sich gegenwärtige Verschwörungstheoretiker gerne explizit beziehen. Statt den Boden unter den Füßen entzogen zu bekommen und sich in seiner eigenen Welt nicht mehr heimisch zu fühlen, erwirbt Neo Dank seiner Einsicht in die generelle Falschheit der symbolisch codierten Ordnung die Fähigkeit, all das, was die anderen für Realität halten, zu entziffern und in seinem eigenen Sinne zu manipulieren. So tritt in der neuen Verschwörungs-Ästhetik die phantamagorische Inszenierung der Bullet-Time – jene spektakulär in Szene gesetzte Verlangsamung der Zeit, die es Neo ermöglicht, fliegenden Kugeln auszuweichen (Abb. 5) – an die Stelle der epistemisch verunsichernden »Akusmatisierung« (Taylor 122), welche den Verschwörungsfilm der 1970er-Jahre kennzeichnete: Inszeniert wird nun die totale Durchsicht und Allmacht des zu sich selbst gekommenen Subjekts, nicht länger seine Unterwerfung unter einen unsichtbaren, übermächtigen Blick.

Abb. 5
Abb. 5

In THE MATRIX (US 1999, Regie: Andy Wachowski und Larry Wachowski) durchschaut und kontrolliert der selbst allmächtig gewordene Protagonist die – freilich ›nur‹ simulierte – Wirklichkeit.

Während das Paranoia-Kino der 1970er-Jahre also letztlich von einem obszönen Staat erzählte, der sich nicht mehr an seine eigenen Regeln hält und das Individuum mithin einem paradox entregelten Gesetz der Gesetzlosigkeit unterwirft, ist das Verschwörungsdenken der Gegenwart darauf ausgerichtet, »aus jedem Einzelnen das symbolische Abbild des Staates« (Legendre, Gott im Spiegel 60) zu machen. Wo die Filme Frankenheimers und Damianis im Grunde konservativ waren, da sie sich eine Restauration ›gerechter‹ staatlicher Autorität und intakter Institutionen wünschten, sind Verschwörungstheorien neueren Datums ihrem Wesen nach destruktiv, da sie Wert und Existenzberechtigung der gesamten Sphäre des Institutionellen infrage stellen. Wie sich an den QAnon-Anhängern leicht beobachten lässt, liegt der wunde Punkt dieser scheinbaren Selbstermächtigung darin, dass sie anfällig wird für Totalitarismen neuer Art: Kein Subjekt existiert tatsächlich ohne institutionelle Verankerung, und auch im genannten Fall lassen sich leicht jene Autoritäten ausmachen, welche das vermeintliche Majestäts-Subjekt überhaupt erst mit den »Spiegelsubstituten« (Legendre, Vom Imperativ 73), den Blaupausen der eigenen Selbstermächtigung ausstatten. Als Staatschef, der sich an keinerlei Regeln gebunden fühlt, hat sich vor allem Donald Trump als derartige Blaupause qualifiziert. Doch wo Trump als Erlöser erscheint, »wird die Metaphorisierung des anderen des Selbst und des anderen als Selbst in ihrer institutionellen Dimension nicht mehr verstanden« (ebd.). Gerade an dieser Ignoranz gegenüber dem Institutionellen, die das neue paranoide Majestätssubjekt auszeichnet, wird der wesentliche Unterschied zu einer filmischen Tradition der Verschwörungsästhetik greifbar, die dezidiert nach der Subjektwerdung in einer unkartographierbaren (Jameson), strukturell traumatischen Wirklichkeit fragte.

Autor

Dr. Johannes Pause ist Research Scientist am Dekanat der Fakultät für Geisteswissenschaften, Erziehungswissenschaften und Sozialwissenschaften der Universität Luxemburg. Seit 2019 ist er stellvertretender Studiengangsleiter des Bachelor in Animation. Gemeinsam mit Niels-Oliver Walkowski betreut er zudem den Fakultätsverlag Melusina Press. In seiner Forschung beschäftigt er sich u. a. mit dem politischen Kino, mit computergestützten Methoden der Filmanalyse sowie mit der Kultur- und Imaginationsgeschichte der Isolation. Ausgewählte Publikationen: Hg. (mit Irina Gradinari, Nikolas Immer), Medialisierungen der Macht. Filmische Inszenierungen politischer Praxis, Paderborn 2018; Hg. (mit Lars Koch, Tobias Nanz), Disruptions in the Arts. Textual, Visual, and Performative Strategies for Analyzing Societal Self-Descriptions, Berlin/Boston 2018.

(Nicht) Wissen wollen. Über Science Fiction und Verschwörungserzählungen

Verschwörungstheorien heißen jetzt Verschwörungsmythen. Die Umbenennung derjenigen Gebilde, die komplexe und beunruhigende Ereignisse, Umstände und Entwicklungen der Gegenwart in nicht weniger beunruhigende, aber deutlich weniger komplexe Plots pressen, wurde erstaunlich einhellig angenommen. Kaum ein Bericht in Radio oder Zeitung, dem der peinliche Begriffsfehler noch unterliefe, die Lügen und Hirngespinste Aluhelm tragender Impfgegner mit dem Begriff der »Theorie« zu benennen. Keinesfalls will man ihnen den Anschein wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit geben oder gar die Theorien der Wissenschaften in die Nähe solch hanebüchener Erfindungen rücken, aber muss dann ausgerechnet der »Mythos« herhalten, nur, weil man nicht gleich »Lüge« sagen will?

Doch während »Theorien« durchaus schlicht falsch sein können – kompletter Unsinn und keiner Überprüfung standhalten oder sich nach Jahren und Jahrhunderten als Fehlannahme erweisen – auch wenn sie sich an wissenschaftliche Methoden und Grundannahmen halten, ist das für den Mythos schwer vorstellbar. Mythos nämlich ist anders als Theorie ein Verfahren, dass nicht wahre oder wirkliche Dinge abbildet, sondern Dinge und Ereignisse wahr macht. Insofern ist »Verschwörungsmythos« ein sehr passender Begriff, nur eben nicht, weil er darauf hinweist, dass die Verschwörungsbehauptungen Zusammenhänge erfinden, wo sie behaupten, sie zu beweisen, sondern weil »Mythos« die Macht des Erzählens anerkennt.

Keine Frage, beide Begriffe sind abwertend und sollen es sein, dass dabei ein Teil der Herabsetzung auf den Ausdruck selbst abfärbt, mag man hinnehmen. Es gibt gute Gründe, sich für oder gegen den einen oder anderen Begriff zu entscheiden und am Ende kommt es in der politischen Bekämpfung der antisemitischen und rassistischen Dimensionen solcher Ideologien auch nicht auf das Wort allein an.8 Aber aus einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Perspektive ist genau das der Knackpunkt, denn an dem Wort bzw. den Worten hängen Konzepte und Geschichten, sie knüpfen an Imaginationen und Narrationen an und diese bilden ein Netzwerk von Bedeutungen, das, wenn schon nicht entwirrt, dann sichtbar werden muss. Denn die Krux der Verschwörungsbehauptung – egal, ob Theorie oder Mythos – ist, dass die Konzentration auf ein einzelnes, vielleicht kompliziertes, aber doch überblickbares Netz (die Verschwörung) von den verwirrenden Zusammenhängen ablenkt, die offen zu Tage treten.

Hier kollidieren SF und Verschwörungstheorie/-mythos, oder besser: hier kann ich sie produktiv zur Kollision bringen. Denn beide sind Erzählmodi mit dem Anspruch Aussagen über Wirklichkeit zu treffen, indem man alternative, aber plausible Welten erzeugt (Goodman). Sie haben auch gemeinsam, dass ihre Erwähnung einen Zusammenhang oft in ein schlechtes Licht rückt: »Das ist Science Fiction/Verschwörungstheorie« heißt, es ist ›nur‹ ausgedacht. Märchen sind leicht zu erkennen, weil hier Dinge passieren, die gar nicht sein können, und Mythos scheint dagegen eine sich hartnäckig haltende Fehleinschätzung zu sein. Ersteres ist relativ harmlos, Letzteres lässt sich entkräften. Ebendiesen Eindruck soll wohl auch das Kompositum Verschwörungsmythos leisten; also zeigen, dass hier eine durchaus mit böser Absicht erfundene, aber in einem Kollektiv etablierte Fehlinterpretation von Wirklichkeit vorliegt, die zwar gefährlich werden kann (z. B. wenn sich zigtausende Menschen diesen Mythen glaubend vor dem Brandenburger Tor treffen und fröhlich Viren austauschen), aber grundsätzlich zu widerlegen ist. Das Mittel der Wahl, um so einen Mythos zu entkräften, sind dann Fakten oder gar die Wahrheit.

Nun stellt sich bei »Fakten« ein ähnliches Problem wie bei »Theorie«, denn diese fallen nicht einfach vom Himmel, sie werden in mühsamen Aushandlungsprozessen zwischen Wissenschaftler*innen und ihren Gegenständen, ihren Kolleg*innen und einer wie auch immer gearteten Öffentlichkeit ausgehandelt. Wahrheit kommt dabei aber nicht heraus. Stattdessen setzt man dem Mythos also in einem bemerkenswerten Akt der Unterschätzung etwas entgegen, das für ihn keine Rolle spielt. Theorien mag man mit Fakten entkräften können, aber nicht Mythen. Die Mythenforschung ist zu umfangreich, um sie hier zu rekapitulieren,9 aber drei Momente scheinen mir für die Frage nach Verschwörungs-»mythen« und ihrer Macht besonders wichtig: Claude Lévi-Strauss’ Konzept des »mythischen Denkens« (Lèvi-Strauss), Roland Barthes’ Mythos als »Rede« (Barthes) und Hans Blumenbergs »Arbeit am Mythos« (Blumenberg). Aufeinander aufbauend gelesen, erfüllen die Konzepte unterschiedliche Funktionen: Lévi-Strauss’ ethnologische Beobachtung eines »wilden«, d. h. nicht an den Vorgaben westlicher Rationalität orientierten Denkens betont die Produktivität mythischer Verknüpfungen, die Neues über Ähnlichkeiten, narrative Verknüpfung und Ausprobieren finden statt durch Induktion oder Deduktion. Das »Neue« hat dementsprechend immer schon einen Platz im Gegebenen also kaum Potenzial, »Skandale« auszulösen. Roland Barthes hat in seinen Mythen des Alltags einen ähnlich integrativen Prozess semiotisch begründet. Er versteht Mythos als sekundäres semiologisches System, d. h. der Mythos verdoppelt das Saussure’sche Zeichenmodell, in dem ein Zeichen aus Bezeichnetem und Bezeichnendem besteht. Die arbiträre Beziehung zwischen diesen beiden Bestandteilen des Zeichens stellt sicher, dass sich Sprache entwickeln kann und Zeichen flexibel benutzt werden können. Der Mythos als Rede (sekundäres semiologisches System) nimmt diese Flexibilität nun zurück, indem er das Zeichen rekontextualisiert. Auf diese Weise können Dinge und Umstände, die einmal benannt sind, zusätzlich mit Bedeutung aufgeladen werden (so wird aus einem Beefsteak ein Symbol für die französische Nation und aus Einsteins Gehirn der Inbegriff von Genialität). Sie werden, laut Barthes, naturalisiert – sie verschleiern also die Beliebigkeit einer Beziehung zugunsten einer natürlich erscheinenden Einheit: Einsteins Gehirn ist der Inbegriff von Genialität, die Mondlandung ist der Inbegriff US-amerikanischen Expansionismus. Der Verschwörungsmythos mythisiert die Mondlandung sozusagen doppelt: Erstens schreibt er am Mythos der ›Größe‹ der amerikanischen Nation mit – er leistet, in Blumenbergs Worten, Arbeit am Mythos ›Amerika‹ –, und zweitens integriert er ihn als (naturalisierten) Bestandteil in einen neuen Mythos, den der immer schon bloß vorgetäuschten Größe. Die Beweglichkeit der Zeichen wird, wenn man so will, mit jedem Mythisierungsschritt geringer – daher kommt es auch, dass einem Verschwörungserzählungen, unabhängig von ihrem Gegenstand und Personal, immer schon bekannt vorkommen: Mondlandung? Eine Simulation, um die amerikanische, nein, die Weltbevölkerung mit diesem Glauben manipulieren und kontrollieren zu können. Covid-19? Absichtlich verteilt, damit ein Milliardär sich Zugang zu »unseren« Gehirnen verschaffen kann, um sie zu kontrollieren. 9/11 ein »inside job« der amerikanischen Regierung/Milliardäre, um … die amerikanische, nein, die Weltbevölkerung mit scheinbar legitimen Reaktionen unter Kontrolle zu halten.

Das Verfahren der Mythisierung, wie es Roland Barthes entwirft, ist in gewisser Weise also das Gegenteil von Lévi-Strauss’ mythisch denkendem Bastler (bricoleur). Beide lassen sich aber als Arbeit am Mythos begreifen und, das ist wichtig, dieser Mythos ist nicht notwendig monolithisch. Bastler halten es aus, wenn sich Dinge widersprechen, wenn Ambivalenzen erhalten bleiben und die Geschichte nicht aufgeht; Verschwörungstheorien nicht. Daher ist die Nähe des Mythos zur (gerade modernen) Literatur so groß – Ovids Metamorphosen sind ebenso reich an Ambivalenzen wie Joyces Finnegan’s Wake und Morrisons Beloved. Verschwörungserzählungen hingegen halten solche Ambivalenzen nicht gut aus. Zwar ist ihre Integrationskraft bemerkenswert – oft kann ein Widerspruch als Beweis für die »Theorie« genutzt werden –, aber Mehrdeutigkeit hat keinen Platz in der Verschwörungserzählung. Die internen Streitigkeiten um die Rolle, die »Flat Earth« innerhalb des Zusammenhangs der Super-Erzählung von QAnon spielen darf oder nicht, mögen als Beispiel dafür dienen, denn je komplexer eine Verschwörungserzählung wird, desto fragiler wird sie. QAnon ist weniger Verschwörungs-»Theorie« als ein Rahmen, um verschiedene Verschwörungserzählungen zu verknüpfen. Ausgehend vom sogenannten »Pizzagate«10 entwickelt sich mit QAnon eine Zentrifugalkraft, die als Metanarrativ andere Erzählungen anzieht. Der Erfolg dieser Verknüpfung als »alternatives« Modell der Welterklärung ist kaum noch zu bestreiten (LaFrance), dennoch scheint er nicht allumfassend zu sein. In einem Interview, in dem Jim Jefferies Anhänger*innen von QAnon nach ihren Überzeugungen befragt, entsteht Uneinigkeit über die Rolle, die der Glaube der »Flat Earthers«, die Erde sei (doch!) eine Scheibe, spielen kann.11 Im Rahmen des Interviews sorgt es für Reibung und, weil es sich um ein Interview im Rahmen einer Comedy-Show handelt, für Gelächter. Aber der »comic relief« droht zu verdecken, dass die Ablehnung einer Erzählung als Unsinn und Gefahr für die Glaubwürdigkeit des Ganzen auch bedeutet, dass die Plausibilität an sich (immerhin für die Anhänger*innen) nicht grundsätzlich in Frage steht.

Hier rücken Verschwörungserzählungen wieder in die Nähe von (wissenschaftlichen) Theorien. Denn nebeneinander können die Theorien existieren, auch wenn sie sich widersprechen, aber sie sind nur schwer zu vereinen. Während Mythologien und Romane von Ambivalenzen profitieren, weil sie davon leben, Bedeutungen und Anschlüsse zu generieren, sind Verschwörungserzählungen Instrumente der gewaltsamen Komplexitätsreduktion. QAnon ist deswegen eine besondere Gefahr, weil hier die Brücke zwischen »Theorie« und »Mythos« geschlagen wird und sich aus widerlegbaren Verschwörungserzählungen eine Mythologie formt, die flexibel genug ist, um Bestand zu haben.

Was hat das nun SF damit zu tun? Dass es sich auch hierbei um einen narrativen Modus handelt, der Aspekte einer intersubjektiven Welt zum Anlass nimmt, neue Wirklichkeiten zu formen, ist zwar eine Gemeinsamkeit, wird Science Fiction jedoch als Kunstform verstanden (unabhängig davon, ob der Modus Erzählungen, Romane, Serien oder Filme hervorbringt), die mit dem Verfahren des cognitive estrangement (Darko Suvin) alternative, zukünftige, parallele Welten produziert, um ein Erkenntnisinteresse zu formulieren oder gar zu befriedigen, zeigt sich schnell, wo der Unterschied liegt. Darko Suvins grundlegende Studie Metamorphoses of Science Fiction (1979) definiert das Novum als Kern ›echter‹ SF. Das Novum ist der Motor einer SF-Erzählung und ähnelt dem, was in Alternate Histories als point of departure bezeichnet wird (vgl. Singles). Also die Abweichung von der als Wirklichkeit akzeptierten Welt, die einerseits die kognitive Verfremdung initiiert und andererseits zum Referenzpunkt der erzählten Welt wird. Effektiv bedeutet das, dass für Suvin zwar Franz Kafkas Erzählung »Die Verwandlung« als SF gilt, nicht aber STAR WARS (US 1977, Regie: George Lucas). Denn während Kafkas Erzählung von einem Novum ausgeht – der Protagonist findet sich eines Morgens »in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt« – erzählt George Lucas Space Opera bloß eine bekannte Geschichte in neuem Gewand. Ohne hier auf das Für und Wider einer solchen Bestimmung näher eingehen zu können,12 sollte das Beispiel genügen, um den Anspruch klar zu machen: SF will etwas über die Welt erfahren, das noch nicht bekannt ist. SF stellt Fragen, auf die es vielleicht keine Antwort geben kann.

Auch der Enthüllungsgestus von Verschwörungserzählungen scheint an einem solchen Neuen interessiert zu sein. Die Befriedigung, die der Verschwörungstheoretiker Charlie Frost in Roland Emmerichs 2012 (US 2009) verspürt, wenn sich seine Theorien als Wirklichkeit erweisen und er von dem von ihm vorausgesagten Supervulkan verschlungen wird, ist symptomatisch. Denn, ja, in dem Film verheimlicht die Regierung tatsächlich Wissen um eine drohende Katastrophe, und gute Absicht kann man ihr dabei nur mit Mühe unterstellen. Aber – und hier würde ich mit Suvin behaupten, dass es sich eher um einen Apokalypse-Flick handelt als um SF – damit bestätigt der Film eher Erzählungen, als neue Fragen aufzuwerfen. Das heißt nicht, dass Katastrophenspektakel und STAR WARS kein Erkenntnispotenzial bieten, aber sie ähneln Verschwörungstheorien darin, dass sie so damit beschäftigt sind zu enthüllen, was ›unter‹ der Oberfläche liegt, dass sie kaum je dazu kommen, Fragen offen zu stellen. Wenn man sich ansieht, wie leicht typische Erzählungen in SF integriert werden können, ohne für signifikante Bewegung in Plot und/oder Struktur zu sorgen, dann wird das noch deutlicher: Gerade die typischen Überwachungs- und Manipulationsplots sind für SF oft eher Props/Requisiten als narrative Motoren. Die erkenntnisorientierte story beginnt, wenn diese plausiblen, wahr gewordenen Verschwörungsphantasmen gestört werden.

Das beginnt, wenn man so will, am Anfang des Genres: Frankenstein (1831) ist SF, weil das Geschöpf zurückblickt und Ansprüche stellt, nicht, weil es existiert; The War of the Worlds (1898) wird SF, wenn die Außerirdischen an den sehr irdischen Mikroben scheitern, nicht, weil Außerirdische die Erde angreifen; Brave New World (1932) funktioniert prima, bis jemand fragt, ob man die Welt auch anders haben kann – so handelt es sich hier schon um Meta-Science-Fiction, weil ›unsere‹ Welt bzw. darin gewohnte Bedürfnisse zum Novum werden (so auch in Nineteen Eighty-Four [1949] und vielen anderen Dystopien). Romane wie bspw. Stanisław Lems Solaris (1961) oder Picknick am Wegesrand von Boris und Arkadi Strugatzki (1968) treiben das Spiel weiter, indem die Störung – darin ähneln sie Kafkas »Verwandlung« – unerklärt bleibt. Weder der Planet Solaris, der von einem manipulativen Ozean bedeckt ist, von dem nie ganz klar wird, ob er wirklich Bewusstsein, Intention oder gar Intelligenz besitzt, noch die Zonen in Picknick, Parallelwelten auf der Erdoberfläche, die wahrscheinlich das Resultat außerirdischer Interventionen sind, lassen sich in menschliche Vorstellungen von Ordnung und Kausalität einordnen. Sie bleiben dauerhafte Störungen auch über die Lektüre hinaus (vgl. Nitzke). Verschwörungen, Überwachungsvorhaben und Kontrollsysteme gibt es zwar auch hier (besonders eindrücklich »die Wissenschaft« in beiden Romanen), aber sie bleiben gegenüber der Störung aus einem absoluten Außen seltsam machtlos. Schon daraus kann man auch gewisse Schlüsse auf aktuelle Verschwörungsmythen ziehen. Keine Frage, sie wirken sich auch materiell aus, aber ein globales Phänomen wie bspw. Global Warming oder eine Pandemie bleiben von der Behauptung, es handle sich um Erfindung so unberührt wie der Ozean auf Solaris.

Auch Fiktionen wie I ROBOT (US 2004, Regie: Alex Proyas), THE TERMINATOR (US 1984, Regie: James Cameron) und BLADE RUNNER (US 1982, Regie: Ridley Scott) erkunden ihre Welten durch Abweichung der programmierten Humanoiden, nicht durch die Behauptung ihrer Existenz. Die großen Überwachungsapparate und -institutionen, die diese Welten regulieren, werden erst als Problem sichtbar (oder nicht), wo Figuren oder Ereignisse Abläufe unterbrechen und ihre Rechtmäßigkeit in Frage stellen. Die Befriedigung, die sich auch in diesen Plots mit typischen Verschwörungsmotiven einstellt, liegt in der Hoffnung, dass sich ein menschliches Prinzip in Form von Dissidenz durchsetzt und die funktionierende Maschine, wie auch immer sie im Einzelnen aussieht, zu Fall bringen kann. THE MATRIX mag der Höhepunkt solcher Erzählungen sein, doch gerade hier stellt sich wieder eine gewisse Nähe zu Verschwörungstheorien ein, und es wird klarer, warum sie vielleicht tatsächlich -mythen heißen sollten. Die Abweichung steht, anders als in TERMINATOR oder BLADE RUNNER, am Anfang, weil ein Held identifiziert werden muss. Dieser ist es, der die anderen ›weck‹. Während das in THE MATRIX nahezu bruchlos funktioniert, spielt die Ljod-Trilogie (dt. 2005–2010) von Vladimir Sorokin ein strukturell sehr ähnliches Narrativ in deutlich beunruhigenderer Weise aus. Mithilfe kosmischen Eises, das an der Einschlagstelle des Tunguska-Ereignisses gefunden wird, werden die »Brüder und Schwestern des Lichts«, eine Gruppe von Auserwählten, die aus dem All auf die Erde gekommen sind und in Menschenseelen ›gefangen‹ gehalten werden, »geweckt«. Sind alle Auserwählten gefunden, werden sie vereint und vom »Licht« zurückgeholt, während die Erde untergeht.

So wenig hier Chiliasmus und Verschwörungstheorie noch zu unterscheiden sind, so wenig sind sie es in Verschwörungserzählungen. Denn ähnlich wie in den metaphysisch aufgeladenen und mythisch oder sogar mystisch überhöhten Plots der Verschwörungsmythen geht es auch hier nicht um Fragen, sondern um Antworten. Unabhängig davon, wovon die Anhänger solcher Erzählungen enttäuscht sind, füllen sie ein Loch, das – wie die Zonen in Picknick – nicht zu füllen ist. SF ist das jedenfalls nicht (mehr). Denn hier gibt es kein Interesse an Öffnung, keine Bereitschaft, Widersprüche und Ambivalenz auszuhalten, hier gibt es bloß noch das Begehren zu wissen, was los ist. Damit werden solche Erzählungen, bzw. im Falle von Sorokin Romane, inszenieren solche Erzählungen eine Weltproduktions- und Bewältigungsmaschinerie, die wohl in der Tat ›Mythos‹ genannt werden muss. Sie macht wahr, was geglaubt werden muss, um in einer Welt ohne Vieldeutigkeit, aber eben auch in einer Welt ohne Vielfalt zu leben. Dabei braucht es wohl, mehr denn je, kognitive Verfremdung, Nova und eine Neugier für das Unbekannte, um den Herausforderungen der unmittelbar vor uns liegenden Zukunft zu begegnen.

Autorin

Solvejg Nitzke ist Literatur- und Kulturwissenschaftlerin an der Technischen Universität Dresden. Sie erforscht prekäre Naturen in der Literatur und Kultur des 19. Jahrhundert, Katastrophen, Science-Fiction und Verschwörungsnarrative. Derzeit arbeitet sie an einem Projekt mit dem Titel »Fremde Verwandtschaft. Eine Kulturpoetik der Bäume«, das untersucht, wie Menschen und Bäume durch das Erzählen neu in Beziehung gebracht werden.

Notes

  1. Siehe dazu auch die Beiträge in Anton et al., Konspiration. Armin Pfahl-Traughber lehnt den Begriff der Verschwörungstheorie ebenfalls ab, allerdings ist er der Ansicht, dass die Bezeichnung ›Theorie‹ entsprechende Konstrukte in ungebührlicher Weise als quasi-wissenschaftlich adeln würden (33), weshalb er es vorzieht, von »Verschwörungsthesen« zu sprechen. Siehe dazu auch den Beitrag von Solvejg Nitzke. [^]
  2. Bei den drei Serien handelt es sich zudem um prototypische Beispiele für Mystery; innerhalb der phantastischen Genres dürfte Mystery besonders verschwörungsaffin sein, da hier das Enthüllen des der Handlungswelt zugrundeliegenden Geheimnisses den erzählerischen Kern ausmacht. Siehe dazu meinen Artikel »Das große Genre-Mysterium: Das Mystery-Genre«. [^]
  3. www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2019/05/190517-Ausstellung-Verschwoerungstheorien.html, 15. Okt. 2020. [^]
  4. Die Paraphrasierung bezieht sich auf eine Textstelle in einer 1967 erschienenen erweiterten Version des ursprünglichen Essays. [^]
  5. www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html, 14. Okt. 2020. [^]
  6. Adrenochrom ist ein Stoffwechselprodukt von Adrenalin, das im menschlichen Körper in geringen Mengen entsteht und synthetisch hergestellt werden kann. Die Vorstellung, dass Adrenochrom von lebenden Menschen gewonnen und als Droge konsumiert werden kann, geht wahrscheinlich auf das 1971 erschienene Buch Fear and Loathing in Las Vegas von Hunter S. Thompson zurück (vgl. Sixsmith). [^]
  7. Vgl. etwa Auspers. [^]
  8. Die Amadeu Antonio Stiftung begründet ihren Begriffsgebrauch bspw. sehr plausibel, siehe www.amadeu-antonio-stiftung.de/verschwoerunstheorie-verschwoerungsmythos-verschwoerungsideologie. [^]
  9. Für einen Überblick siehe den Artikel von Jan und Aleida Assmann. [^]
  10. »Pizzagate« läuft auf die Behauptung hinaus, Hillary Clinton sei an einem Kinderpornoring beteiligt gewesen, dessen Zentrale eine Pizzeria in Washington war. [^]
  11. »Sitting Down with QAnon Conspiracy Theorists – The Jim Jefferies Show«. YouTube, 22. Aug. 2018, www.youtube.com/watch?v=VGrfN3v5JL8, 26. Okt. 2020. [^]
  12. Was Farah Mendelsohn sehr überzeugend in der Einleitung des Cambridge Companion to Science Fiction tut. [^]

Konkurrierende Interessen

Die AutorInnen haben keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Filmografie

2012. Regie: Roland Emmerich. US 2009.

BLADE RUNNER. Regie: Ridley Scott. US 1982.

I ROBOT. Regie: Alex Proyas. US 2004.

IO HO PAURA. Regie: Damiano Damiani. IT 1977.

LOST. Idee: Damon Lindelof, Carlton Cuse und J. J. Abrams. US 2004–2010.

THE MATRIX. Regie: Andy Wachowski und Larry Wachowski. US 1999.

GAME OF THRONES. Idee: David Benioff und D. B. Weiss. US 2011–2019.

SEVEN DAYS IN MAY. Regie: John Frankenheimer. US 1964.

STAR WARS. Regie: George Lucas. US 1977.

THE TERMINATOR. Regie: James Cameron. US 1984.

TWIN PEAKS. Idee: Mark Frost, David Lynch. US 1990–1991.

THE X-FILES. Idee: Chris Carter. US 1993–2002.

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