In der Computerspielforschung gibt es ein kontinuierliches Problem der Selbstwahrnehmung und der Selbstdarstellung. Da der Gegenstand im Vergleich mit anderen kulturellen Formen als relativ jung verstanden werden kann und das Gleiche – zumindest im Vergleich zu Disziplinen wie der Literaturwissenschaft – auch für die Untersuchung von Computerspielen gilt, verorten sich Wissenschaftler*innen immer wieder als Allererste, die sich nun endlich mit dem Gegenstand auseinandersetzen, obwohl es seit mindestens den 1980er- und intensiviert seit den 1990er-Jahren Forschung gibt (Unterhuber). Gleiches scheint leider auch für die Erforschung analoger Spielformen und im Speziellen auch für das Pen&Paper-Rollenspiel zu gelten, denn Robin Junickes Buch scheint ebenfalls im Moment des Anfangens gefangen.

Junicke tritt an, wie es der Untertitel des Buches formuliert, das Rollenspiel in Hinblick auf Geschichte, Format, Identität und Performance zu untersuchen, um so die Spezifik des Rollenspiels herauszuarbeiten. Dafür bedient er sich der Methode der Triangulation (17), also der Annäherung an den Gegenstand aus verschiedensten Richtungen. Allerding scheint die Triangulation nie wirklich einen Punkt anzupeilen, sondern in der Annäherung stecken zu bleiben. Einer der Gründe hierfür ist das Feld offener und weitläufiger Begriffe (Spiel, Rolle etc.), die sich einer Vereindeutigung immer wieder entziehen und vor allem kontextabhängig sehr unterschiedlich verwendet werden. Dies betrifft zuvorderst das Phänomen des Rollenspiels selbst. Wie das Deutsche schon im Begriff Spiel sowohl ›play‹ als auch ›game‹ vereint, setzt sich diese Uneindeutigkeit für den Begriff des Rollenspiels noch fort, die im Englischen mit der Unterscheidung zwischen ›Roleplay‹ und ›Roleplaying-Game‹ umgangen wird. Deshalb erschließt Junicke in großer Ausführlichkeit grundsätzliche Parameter des Phänomens – zum Beispiel grundlegende Theorien des Spiels (21–40), die Frage, was überhaupt Rollenspiel ist und wie es entstanden ist (41–62) –, wodurch das Buch in der ersten Hälfte einen Einstieg in die Thematik erlaubt. Wie auch Junicke aufführt (63), können mit Rollenspiel konkrete Formen des Pen&Paper-, des Computer- oder auch des Live-Rollenspiels bezeichnet werden, aber eben auch bestimmte theatrale, therapeutische oder pädagogische Konzepte bis hin zum erotischen Rollenspiel. Trotz der umfangreichen Begriffsdiskussion bleibt im weiteren Verlauf immer wieder unklar, um welche Formen oder Konzepte des Rollenspiels es in der Arbeit eigentlich gehen soll, auch wenn Junicke immer wieder den Bezug zum Pen&Paper-Rollenspiel sucht.

Diese Unsicherheit erschwert leider auch den Zugang zum Gegenstand. Junicke leistet aber eine wirklich umfangreiche und systematische Begriffsarbeit, um so polyvalente Konzepte wie Rolle, Ritual oder Mythos auf den Gegenstand anwenden zu können. Was allerdings dadurch oft wiederum zu kurz kommt, ist der Bezug oder die Anwendung der Konzepte auf den Gegenstand. So erarbeitet Junicke beispielhaft die Begriffe Mythos und Ritual mithilfe verschiedener Theorien von Lévi-Strauss über Jan und Aleida Assmann bis hin zu Victor Turner, um schließlich nur noch andeutungsweise den Bezug zum Rollenspiel herzustellen. Dass er dabei viele Herleitungen selbst erarbeitet, obwohl sie eigentlich bereits etablierter Teil der Forschung sind, wie der Zusammenhang von Ritual und Spiel, den wir schon bei Johan Huizinga (24–36) finden und den Lucia Traut auch für das Pen&Paper-Rollenspiel bereits ausführlich erforscht hat, erschwert es ebenfalls, den roten Faden der Arbeit zu erkennen.

Dass Junicke an vielen Stellen spannende und fruchtbare Beobachtungen macht, soll nicht übersehen werden. So legt er fundiert dar, inwiefern Agency für P&P-Rollenspiele ein noch zentralerer Begriff als für Computerspiele ist (112), macht den Begriff der Bricolage für die Spielforschung fruchtbar (139), stellt Zusammenhänge zwischen Identitätsarbeit und Spiel her (124) oder erarbeitet die Parallelen zwischen Rollenspiel und aktuellen Theaterperformances (z. B. 178). Auch seinem Fazit, dass sich Spiel und insbesondere Rollenspiel in der Ambivalenz zwischen Utopie und Problem bewegt, weil es einerseits Formen der Selbstermächtigung und Kooperation erlaubt, andererseits aber auch einer ökonomisierten Logik des Progresses folgt (195–198), ist zuzustimmen. Allerdings finden wir auch die grundlegende Ambivalenz des Spiels wiederum bereits bei Huizinga (17) und auch der Zusammenhang von Neoliberalismus und Spiel wurde, zumindest für den Bereich des Computerspiels, schon mehrfach bearbeitet, zum Beispiel von Nick Dyer-Witheford und Greig de Peuter.

Zudem bleiben Junickes Erkenntnisse aufgrund des triangulären Vorgehens oft unverbunden nebeneinanderstehen. Dies mag auch an den Anforderungen an Arbeiten zu ›neuen‹ Gegenständen liegen. Wie bereits anfangs erwähnt, wähnen sich Forschende in der Spielforschung oft als Erste im Feld. Hinzu kommt aber, dass wegen der fehlenden Institutionalisierung des Feldes Arbeiten immer in anderen Disziplinen – hier in der Theaterwissenschaft – geschrieben werden müssen, in denen die Kenntnis über den immer noch als neu verstandenen Gegenstand oft nur rudimentär vorhanden ist. Mag sich die Computerspielforschung durch ihre Selbstorganisation und Vernetzung langsam ihren Platz im großen Feld der Medien- und Kulturwissenschaften erkämpft haben, ist die Erforschung von Pen&Paper-Rollenspiele aufgrund der Vereinzelung der Forschung noch viel mehr in einer Situation, in der nicht nur die Forschung, sondern der Gegenstand selbst den Vertreter*innen etablierter Fächer vollkommen unbekannt ist. Entsprechend bedarf es deshalb einer oft umfangreichen Erarbeitung der grundlegenden Aspekte des Gegenstandes, da leider nichts als bekannt vorausgesetzt werden kann. Die eigentlich angestrebte Forschung wird also durch diese Wiedergabe von Grundlagen verzögert. Hinzu kommt oft noch, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit den ›neuen‹ Gegenständen immer wieder gerechtfertigt werden muss. Vielleicht versucht man aber gerade aufgrund dieser Hürden anschließend alles auf einmal zu untersuchen, anstatt sich einer gut umgrenzten Forschungsfrage zu widmen, weil man die Erforschung seines Gegenstandes vorantreiben und nicht nur Grundlagenarbeit leisten möchte. So scheint es leider auch Junicke ergangen zu sein, und so kann das Buch sowohl mit seinen Defiziten als auch mit seinen vielen spannenden Ideen als ein weiterer Beleg für die Wichtigkeit der mehr als überfälligen Etablierung und Institutionalisierung einer kulturwissenschaftlichen Spieleforschung angesehen werden.

Autor

Dr. Tobias Unterhuber studierte Neuere deutsche Literatur, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Religionswissenschaft in München und Berkeley. 2018 promovierte er mit der Arbeit Kritik der Oberfläche – Das Totalitäre bei und im Sprechen über Christian Kracht. Er ist Post-Doc am Institut für Germanistik, Bereich Literatur und Medien an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Er ist Herausgeber der Zeitschrift PAIDIA sowie der Zeitschrift für Fantastikforschung. Forschungsinteressen: Popliteratur, Literaturtheorie, Diskursanalyse, Literatur & Ökonomie, Gender Studies, Medienkulturgeschichte und kulturwissenschaftliche Computerspielforschung.

Konkurrierende Interessen

Der Autor hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Zitierte Werke

Dyer-Witheford, Nick und Greig de Peuter. Games of Empire. Global Capitalism and Video Games. University of Minnesota Press, 2009.

Huizinga, Johan. Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. Rowohlt, 2017.

Traut, Lucia. Ritualisierte Imagination. Das Fantasy-Rollenspiel ›Das Schwarze Auge‹. Lit. 2011.

Unterhuber, Tobias. Game Studies, its rhetoric rituals and mythos of being a young field. Appliedgames, Nov. 2021, https://youtu.be/QbnrVld00qc, 17. Jan. 2022.