Der vorliegende Sammelband füllt die schmerzlich empfundene Lücke der Unkenntnis der deutschsprachigen SF im angloamerikanischen Sprachkreis (vgl. Esselborn), denn es mangelt sowohl an Übersetzungen von Primärtexten wie auch an englischsprachiger Forschung. Dies, obwohl die deutsche Variante der SF in ihren fünfzig Jahren als technisch-utopischer Zukunftsroman Wesentliches zum Genre beigetragen hat und seit der Jahrtausendwende als ›Science Fiction‹ einen international anerkannten Aufschwung erlebt. Ihren Beitrag sehen die Herausgeber vor allem mit Blick auf ökologische Fragen und in der Sensibilität gegenüber der Preisgabe von Daten und der dadurch ermöglichten Kontrolle. Dies beruhe »on national historical experiences as well as a diversity of theoretical approaches that originated here« (8), nämlich Karl Marx, Ernst Bloch, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer.

Der Band hat vier Teile. Den ersten über Filme und Fernsehserien werde ich ebenso wenig berücksichtigen wie den zweiten zum Klimawandel und den vierten, der sich Randphänomenen des Genres widment. Stattdessen werde ich mich auf den dritten Teil und die drei darin dem kritischen Posthumanismus gewidmeten Aufsätze konzentrieren. Ebenso werde ich die Zusammenfassung über die Tendenz zum Dystopischen besprechen.

Hanna Schumacher liefert mit ihrem Aufsatz »Coming to Terms with the Present: Critical Theory and Critical Posthumanism in Contemporary German Science Fiction« eine interessante Deutung von Reinhard Jirgls Nichts von euch auf Erden (2013) und Dietmar Daths Die Abschaffung der Arten (2008). Die Orientierung an Adorno und Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1944) lässt das spezifisch Deutsche an beiden Romanen erkennen, nämlich den Schatten der diktatorischen Vergangenheit in Jirgls »return to a fascist society« (172) oder allgemeiner »the persistance of structurel violence« bei Dath (172). In Jirgls Roman zerstören Rückkehrer vom Mars die friedliche Gesellschaft der genmanipulierten Erdbewohner und errichten ein Unterdrückungsregime mit Konzentrationslagern. In Daths Text gelingt es den posthumanen Gente nicht, durch die Überwindung der Naturgeschichte die Gewalt und Hierarchie der menschlichen Gesellschaft zu vermeiden, da sie genetisch und historisch mit den Menschen verbunden sind.

Jirgls Entscheidung für eine Apokalypse ohne Hoffnung durch den schließlichen Untergang von Erde und Mars erinnert Schumacher an Heiner Müllers Geschichtsbild (181). Dagegen beschreibt sie Die Abschaffung der Arten als ergebnisoffene Heterotopie, ohne allerdings diesen Ausdruck zu verwenden. »Dath achieves this by constantly changing between utopian ectasy and dystopian distortion, making this one of the few texts that presents the loss […] of humanist subjectivity not as a catastrophe per se, but also as tempting and interesting« (177).

Lars Schmeink nutzt in seinem Aufsatz »Optimizing the Human: A Posthuman Taxonomy in the Works of Theresa Hannig« die etablierte Theorien des Post- und Transhumanismus von Hans Moravec, Nick Bostrom und Katherine N. Hayles, um die verschiedenen technisch aufgerüsteten Menschen und Typen von Androiden und ihre Probleme in Theresa Hannigs Die Optimierer (2017) und Die Unvollkommenen (2019) zu charakterisieren. Leider konnte Schmeink noch nicht den jüngsten utopischen Roman der Autorin, Pantopia (2022), einbeziehen. Bei den hier besprochenen Texten überwiegt eine dystopische Handlung wie in den vergleichbaren Romanen Replay (2012) von Benjamin Stein und Der Würfel (2019) von Bijan Moini. Hannig zeigt das deutsche Misstrauen gegenüber der unbegrenzten Sammelwut persönlicher Daten und der dadurch möglichen Manipulation der Individuen in einer von einer KI scheinbar perfekt organisierten Gesellschaft, in der jeder nach sozialer Nützlichkeit und Wohlverhalten eingeordnet und versorgt wird. In Die Optimierer sind die Menschen durch Linsen in ihren Augen mit dem System verbunden.

The lens – an extrapolation of our current smartphone technology […] are used for work […], for ordering commodities and services, for navigation and communication. Further, they allow for the recording of every moment of the wearer’s life, thus feeding a complete datastream into the system, which in turn provides the basis for the calculations of the ›optimized‹ economy. (216)

An zwei persönlichen Schicksalen werden die Schwachstellen dieser Organisation gezeigt, die auf dem Konflikt zwischen individuellen Möglichkeiten und Wünschen und der sozialen Ordnung beruhen. Im zweiten Roman sind die Linsen durch noch effektivere Implantate ersetzt, die auch die emotionale Manipulation der Träger erlauben. Jetzt wird auch die herrschende KI beschrieben, die sich zu einer Art Gott erhoben hat, und die Menschen nach dem Tod in ein virtuelles Paradies hochlädt. Die Hauptfigur leidet am Verlust der persönlichen Selbständigkeit. Zugleich geht es um die Probleme der Androiden, die für das Funktionieren der Gesellschaft unabdingbar sind. Bei den früheren Robotern wurde das Bewusstsein toter Menschen in künstliche Körper implantiert, woraus sich eine leidvolle Diskrepanz ergab. Die späteren Roboter sind durch und durch künstlich, aber kämpfen für ihre Gleichberechtigung. Schmeinks Fazit lautet: »No technology, the novels suggest, will ever be able to create a uniform gaol for all humanity« (225).

Roland Innerhofer interpretiert in seinem Aufsatz »The End of Humanity’s Monotony: Posthumanism and Artificial Life in Dietmar Dath’s The Abolition of Species and Venus’ Victory« im Lichte des antizipatorischen Potentials des Posthumanismus die beiden Romane Daths und trifft grundsätzliche Aussagen über den Autor, besonders seine Verwendung der Wissenschaft und seinen postmodernen Stil. Im Zentrum des ersten Romans steht die posthumane Gesellschaft der Gente, die – wie sich später herausstellt – durch Genmanipulation von einem Menschen geschaffen wurde. »This is the end of natural history – it becomes the history of technology« 190). Die Gente wollten durch die Abschaffung der natürlichen Abgrenzungen der biologischen Arten die Monotonie des Profitstrebens, der Gier, des permanenten Kampfes und der Unterwerfung der Natur zugunsten von Individualität, Vielfalt und Variation beenden, aber es stellt sich heraus, dass ihre Mitglieder die alten Muster der Konkurrenz, des Machtstrebens, der Gewalt und der Hierarchisierung wiederholen.

In Venus siegt (2015) beschreibt Dath »the coexistence of humans or human-like beings with non-human, organic and anorganic forms of life« (189). Das utopische Zusammenarbeiten im ›Bund‹ ist möglich, weil alle intelligenten Wesen biologischen oder künstlichen Ursprungs gleichberechtigt sind und mit Hilfe der neuen Technik des sogenannten ›Schaums‹ und der Mathematik des ›Toposcoding‹ kommunizieren können (196). Innerhofer weist dabei wegen der »variety of differently embodied intelligences and fluid identities« (194) auf das metaphorische Konzept des Cyborgs bei Donna Haraway hin und stellt eine Entsprechung zur Erzählweise und zum Stil Daths fest, »a patchwork of generic elements and popular literature« (194). Besonders typisch für ihn sei die fast exzessive Einbeziehung der Wissenschaft, besonders der modernen Mathematik, aber nicht der jeweiligen Inhalte, sondern ihrer performativen Leistungen mit Hilfe der Analogie. »They serve as poetic inspirations from which the novels develop imaginery processus and actions in imaginery societies« (207). Nach Dath sei der Posthumanismus nicht das Ende der Menschheit, sondern ihre Ermöglichung, da sie erst noch gegen den Anthropozentrismus hergestellt werden müsse (vgl. 205).

Ingo Cornils will in »Conclusion: Dark Mirrors? German Science Fiction in the Twenty-First Century« untersuchen, warum und wie die aktuelle deutsche Science Fiction eine dystopische Tendenz hat. Ursache sind offensichtlich die vielen globalen Krisen, die er mehrfach aufzählt: »technological change […], geopolitical challenges (climate change, migration, terrorism) and their impact on society« (292). Interessant sind seine Überlegungen, ob das apokalyptische Erzählen – für das er viele Texte ab dem Ende des Zweiten Weltkrieg bis zu Sibylle Bergs GRM (2019) und Thomas von Steinaeckers Die Verteidigung des Paradieses (2016) anführt – noch als Warnutopie funktionieren kann. »Are these Texts increasingly feeble Cassandra-Warnings in an uncontrollable world, maybe even cynical comments by a globally networked generation of authors cheerfully testing the limits of their reader’s masochism […]?« (292). Unbestreitbar gibt es neben der Lust am Untergang auch die am ästhetischen Betrachten von Katastrophen (308) und den Abstumpfungseffekt (296).

Cornils beschreibt als Gegenmodell eine Reihe von Texten mit bescheidenen ›konkreten Utopien‹. Tom Hillenbrands Qube (2020), Andreas Brandhorsts Die Eskalation (2020), Judith und Christian Vogts Wasteland (2019) und Andreas Eschbachs Eines Menschen Flügel (2020) »set against this paralysing and destructive imagination reasons for optimism and hope, albeit in szenarios that do not ignore the challenges ahead« (298). KIs, die sonst meist kritisch gesehen werden, üben eine wohlwollende ›Ökodiktatur‹ aus »to prevent the worst effects of climate change and organize the distribution of food and goods« (300), so bei Hillenbrand, Brandhorst und dem nicht erwähnten Roman Die Reinsten (2019) von Thore D. Hansen. Für die andere Möglichkeit eines neutralen Blicks auf die Katastrophen, den Posthumanismus, bringt Cornils ebenfalls einige Beispiele.

Insgesamt berücksichtigen die Aufsätze des Sammelbandes die wichtigsten Texte nach 2000 – aus dem Mainstream ebenso wie von den Rändern des Genres – die auf Erkenntnissen zu Klima und Umwelt beruhen und auf neue Entwicklungen in der Kommunikation und der KI-Forschung zum Teil mit posthumanen Ansätzen reagieren. (Die traditionellen Abenteuer im Weltraum, etwa Space Operas, bleiben außer Betracht.) Mit der Betonung der dystopischen neben der heterotopischen Tendenz entwickeln die Aufsätze eine repräsentative Vorstellung der deutschen Version des Genres, die nach dem gesellschaftlichen Schaden und Nutzen neuer Entwicklungen fragt. So wird der Band seinen Ansprüchen gerecht. Es sind ihm möglichst viele Leser zu wünschen, damit er sein Ziel, die deutsche SF bekannter zu machen, erreicht.

Autor

Hans Esselborn ist emeritierter Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Köln. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Aufklärung, Jean Paul, die deutsche Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, Interkulturalität und Science Fiction. Er ist der Autor von Georg Trakl. Die Krise der Erlebnislyrik (1981), Das Universum der Bilder. Die Naturwissenschaft in den Schriften Jean Pauls (1989), Die literarische Science Fiction (2000), Die Erfindung der Zukunft in der Literatur. Vom technisch-utopischen Zukunftsroman zur deutschen Science Fiction (2019) sowie der Herausgeber von Utopie, Antiutopie und Science Fiction (2003), Ordnung und Kontingenz. Das kybernetische Modell in den Künsten (2009) und Mitherausgeber der Science-Fiction-Werkausgabe Herbert W. Frankes (seit 2014).

Konkurrierende Interessen

Der Autor hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Zitierte Werke

Esselborn, Hans. »German Science Fiction-Literature Exploring AI: Expectations, Hopes, and Fears«. Imaging AI: How the World Sees Intelligent Machines, Hg. Stephan Cave und Kanta Dihal. Oxford Univerisity Press [in Vorbereitung].