»Es war sechs Uhr zweiunddreißig am 30. Juli 1914«, mit dieser überaus präzisen zeitlichen Verortung beginnt Raphaela Edelbauers jüngster Roman Die Inkommensurablen (DI 9),1 der ihr im Jahr 2023 einen Platz auf der Longlist des deutschen Buchpreises gesichert hat. Tatsächlich spielt die Zeit eine Hauptrolle in der Erzählung, die einer Gruppe von jungen Menschen aus den unterschiedlichsten Milieus am Vorabend des Ersten Weltkrieges durch Wien folgt. Weniger die Homogenität der Figuren als vielmehr die Einheit von Zeit und Raum sind es, die den Roman zusammenbinden. Diese Konzeption ist für die junge Autorin durchaus typisch und findet sich so bereits in ihrem Debütroman Das flüssige Land, der es 2019 auf die Shortlist des deutschen Buchpreises schaffte und dem Science-Fiction-Roman DAVE, der 2021 den österreichischen Buchpreis gewann. Das Prestige ihres bisherigen Werkkorpus ist umso erstaunlicher, da sich nicht nur DAVE, sondern auch ihre anderen beiden Romane an den Grenzen des Fantastisch-Surrealistischen bewegen und damit unter ein Genre subsumiert werden können, das gemeinhin wenig Anerkennung durch die deutschsprachige Literaturkritik erfährt. Das Fantastische offenbart sich dabei als physische Landschaft, die von den Figuren aktiv betreten und vor allem geteilt werden kann. Die Zeit ist dabei oft ausschlaggebend, ganz im Sinne von Michail Bachtins ›Chronotopos‹:

Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. (7)

Wie genau sich diese Verschmelzung von Raum und Zeit in den einzelnen Romanen äußert und welche Interpretationsräume sie eröffnet, soll im Folgenden herausgestellt werden. Statt sich dabei nach dem chronologischen Erscheinungsdatum zu richten, gliedert sich die Untersuchung durch die zeitliche Verortung der jeweiligen Handlung: vom historischen Roman über den Gegenwartsroman hin zum Zukunftsroman.

1. Die Inkommensurablen (2023)

Edelbauers jüngster Roman folgt dem Pferdeknecht Hans, dem Adligen Adam und der Mathematikerin Klara während ihrer gemeinsam durchwachten Nacht vor Kriegseintritt. Soweit entspricht dies der Prämisse eines klassischen Historienromans. Doch etwas ist besonders an diesen Figuren, die sich über ihre behandelnde Psychotherapeutin kennenlernen, denn sie alle besitzen übersinnliche Fähigkeiten. Hans, durch dessen Augen die Lesenden die Handlung vermittelt bekommen, sieht sich der steten Erfahrung eines ›Gedankenechos‹ ausgesetzt, bei dem die ihn umgebenden Menschen gänzlich oder in Teilen aussprechen, woran er unmittelbar zuvor gedacht hat. Adam hingegen wird von fremden Erinnerungen heimgesucht. Klara ist wiederum Teil eines für den Roman ganz zentralen ›Clusters‹ von Träumenden: Die Betroffenen teilen dabei denselben Traum, erleben jedoch abgesehen von Klara jeweils nur ihre eigene Version des Geschehens und haben ausschließlich Zugriff auf einen begrenzten Ausschnitt des von ihnen im Schlaf besuchten kleinen Dorfes. Dieses wird als ›Weiler‹ bezeichnet und überaus detailliert beschrieben. Zugleich behält die Beschreibung eine Vagheit bei, die dem Ort eine universell scheinende Gültigkeit verleiht: »Der Weiler präsentiert sich als böhmisches Dorf. Doch besitzt er die Striktheit eines schlesischen. Es besitzt die abschüssigen Straßen Tirols und die Magie der niederösterreichischen Wälder« (DI 166). Auffällig ist der einzig bei der Beschreibung des Weilers erfolgende Tempuswechsel vom Präteritum der Handlung ins Präsens, als existiere dieser losgelöst von der zeitlichen Ordnung des Romans. Und für gewöhnlich ist das bei Träumen schließlich auch der Fall. Sie lassen sich in einer separaten, rein gedanklichen Wirklichkeit des Subjekts verorten, die sich normalerweise eben dadurch auszeichnet, dass sie nicht mit der kollektiven und dadurch intersubjektiven Vorstellung von Realität übereinstimmt. Hier offenbart sich nun das verbindende Element zwischen den Fähigkeiten der drei Protagonisten: Gedanken, Erinnerungen und Träume sind für gewöhnlich die subjektivsten Erfahrungen eines Individuums, die höchstens sprachlich vermittelt, nie jedoch geteilt werden können. Genau diese subjektiven Erfahrungen werden hier allerdings übertragen, angeeignet und kollektiviert.

Mehr noch, es handelt sich bei Gedanken, Erinnerungen und Träumen um Konzepte, die ursprünglich nur in abstracto erfahrbar sind. Gleiches gilt für die mathematischen Begriffe aus Klaras Forschung, welcher der Roman auch seinen Titel entlehnt: Die von ihr erforschten Irrationalzahlen lassen sich denken und zwar von verschiedenen Menschen gemeinschaftlich, ohne dass damit eine zeit-räumliche Existenz verbunden wäre. Dies führt zur Frage nach Existenzbedingung an sich zurück – bedarf es Greifbarkeit in der Welt, um von Existenz zu sprechen? Für das Thema des Romans ist diese Grundüberlegung von zentraler Bedeutung, denn was die Figuren – und mit ihnen das Wien des 30. Juli 1914 – umtreibt, ist vor allem die Frage nach »schwelende[n] Ideen« (DI 232). Gemeint ist hier ein kollektiver Zeitgeist oder eben eine geteilte Idee, die zwar nur als Abstraktum existiert, jedoch gleichzeitig die Wirklichkeit um sich herum formt. Laut Klara ist die geteilte Idee der Zeit der Krieg. Denn tatsächlich ist, wie eingangs erwähnt, das zentrale Moment des Romans das Datum, das die unterschiedlichsten Figuren eint. Wohin es die Protagonisten in dieser nahezu fieberhaft durchwachten Nacht auch treibt, immer stehen der Krieg und die Kriegseuphorie im Vordergrund. Beobachtet wird ein massenpsychologisches Phänomen, das den Kriegseintritt erst ermöglicht. Geteilt werden hier Stimmungen, Vorstellungen, Wünsche, Hoffnungen und Ängste, eben all die Erfahrungen, die für gewöhnlich subjektiv erlebt werden. Ebenso wie mathematische Konzepte sind diese Erfahrungen keineswegs greifbar, lassen sich jedoch anschaulich durch ihre Wirkung in der Wirklichkeit belegen. Das Teilen des eigentlich Subjektiven in Form einer Geisteshaltung wird in kleinerem Maßstab durch das Teilen von Gedanken, Erinnerungen und Träumen durch die Protagonisten gespiegelt und spitzt sich am Beispiel des Weilers zu. Der kollektive Zeitgeist wird hier von einer Idee in ein Objekt umgewandelt. Wenigstens im Traum wird er zu einer physisch greifbaren Landschaft, die von den Figuren durchschritten und geteilt werden kann. Die Idee wandelt sich von einem geistigen in einen physischen Raum und wird dadurch gemeinsam bewohnbar. Die Universalität des Weilers steht dabei für die Universalität der Idee, die von Menschen mit unterschiedlichsten (Klassen-)Hintergründen geteilt werden kann und aus jeder Perspektive ihre individuelle Prägung erhält. Mathematisch gesprochen verkörpert der Weiler den kleinsten gemeinsamen Nenner eines kollektiven Zeitgeistes.2

Obwohl der Weiler zunächst als physisch-fantastischer Ort dargestellt wird, revidiert der Roman diese Annahme zum Ende hin. Denn es stellt sich heraus, dass es sich bei den Träumen um reine Suggestionen der Psychoanalytikerin Helene handelt, die ihren Patienten während ihrer Sitzungen die Vorstellung ihres eigenen Heimatortes eingegeben hat. Der fantastische Charakter des Romans fällt damit in sich zusammen, eröffnet mit dem Schlagwort der Suggestion jedoch eine neue Lesart. Das Wien des Jahres 1914 bietet einen realistischen Hintergrund für psychoanalytische Forschung, die um die Jahrhundertwende herum an Popularität gewinnt. Auch die Theorie der Massenpsychologie entwickelt sich in diesem Zeitraum und der Roman selbst verweist auf den Forscher Gabriel Tarde, der mit seinem wegweisenden Werk Die Gesetze der Nachahmung 1890 den Grundstein für eine gruppenorientierte Soziologie liefert, die später von Gustave Le Bon (1895) und Sigmund Freud (1921) aufgegriffen wird. Tardes Grundkonzept beruht auf der Annahme, dass gesellschaftlicher Fortschritt stets über Nachahmung erfolgt, bis sich eine neue Praxis sozial etabliert (35). Die Masse als solche wird erst bei Le Bon genauer konzipiert. Für ihn ist die Masse eine Einheit, die sich aus ansonsten unverbundenen Individuen zusammensetzt, die daraufhin eine »Gemeinschaftsseele« (29) bilden. Eine reine Menge macht dabei noch keine psychologische Masse aus. Statt einer ortsgebundenen Versammlung erfordert sie einen psychologischen Zusammenschluss, oftmals ausgelöst durch geteilte Gemütserregungen (30).3 Die Masse ist dabei nicht die Gesamtheit der in ihr vereinten Individuen, sondern ein quasi neuer Organismus, in dem nicht länger die Persönlichkeit des Einzelnen, sondern das Gleichmachende dominiert. Daraus folgt zwangsläufig, dass die Masse in der Regel triebgesteuert agiert. Denn die Triebe sind das verbindende Element, das von allen Individuen innerhalb der Masse geteilt wird, während Unterschiede wie Stand und Bildung in den Hintergrund treten (34 f.). Während das Verstandesniveau der Masse durch ihren Zusammenschluss sinkt, steigert sich zugleich ihre Suggestibilität, da sie durch die Gegenseitigkeit unter den Beteiligten gefördert wird (37). Und genau mit diesem Phänomen setzt sich Die Inkommensurablen auseinander; eine abstrakte, von der Masse geteilte und möglicherweise in diese hineinsuggerierte Idee formt die Wirklichkeit und annektiert das Individuum. Das Gedankenexperiment kommt zum Ende der Erzählung zu einem konsequenten Abschluss, wenn auch Hans, der eigentlich nicht wegen des Krieges nach Wien gekommen ist, sich letztendlich von der Kriegseuphorie und dem Nationalstolz der Masse anstecken lässt und der Roman mit den Sätzen endet: »Er wünschte, der Radetzkymarsch hätte einen Text gehabt. Er hätte so gerne mitgesungen« (DI 349).

Obwohl das Fantastische des Romans rückwirkend für ungültig erklärt wird, bleibt die traumhaft-surreale Atmosphäre des Textes dennoch bestehen. Denn zumindest der Symbolcharakter des Weilers behält seine Gültigkeit bei. Er ist einerseits reine Vorstellung in den Köpfen der Figuren, wie auch textuell erfahrbar gemachte Landschaft. Gleichzeitig steht er für das Ungreifbare einer Idee, die sich doch auch im Wirklichen manifestiert. Wenn Hans sich letztlich mit dem realen Vorbild des Weilers konfrontiert sieht und geschockt erkennen muss, »dass er kein Kriterium zwischen Traum und Realität besaß« (DI 329), illustriert diese Erkenntnis zugleich die Existenzfrage nach Ideen und ihrer Materialität, die am Beispiel der Kriegslust ins Zentrum des Romans gestellt ist. Die zunächst als fantastisch inszenierte Landschaft markiert in ihrer Vieldeutigkeit genau diese Schwierigkeit des schleichenden Überganges. Zugleich ist sie Allegorie einer geteilten gesamtgesellschaftlichen Stimmung respektive eines Zeitgeistes, der hier wortwörtlich eine Verräumlichung erfährt und dadurch den Figuren eine gemeinschaftliche Interaktion auf physischer Ebene ermöglicht. Ganz im Sinne von Bachtins Chronotopos verdichtet sich der Geist der historischen Gegenwart zu einem konkreten Raum – Raum und Zeit laden einander gegenseitig mit Sinn auf.

2. Das flüssige Land (2019)

Diese surreale Gleichzeitigkeit von Landschaft als Raum und seiner allegorischen Bedeutung findet sich so bereits in Edelbauers Debütroman Das flüssige Land (DfL). Er erzählt die Geschichte der Physikerin Ruth, die sich nach dem plötzlichen Unfalltod ihrer Eltern in deren Heimatort begibt, um die Beerdigung zu organisieren und dort letztendlich mehrere Jahre verweilt. Die Landschaft weist dabei von Anfang an fantastische Züge auf. Diese zeigen sich besonders an ihrem Verhältnis zu Raum und Zeit. So dauert die Suche nach der Ortschaft, die Ruth nur aus vagen Erzählungen ihrer Eltern kennt, trotz geringer Distanz mehrere Tage. Der Weg führt über einen mysteriösen Waldpfad und offiziell ist die Gemeinde auch bei der österreichischen Landesregierung nicht eingetragen. Zudem scheint der gesamte Ort noch der Vergangenheit verhaftet: So herrscht eine klare gesellschaftliche Hierarchie mit der ansässigen Gräfin an ihrer Spitze, die Kleidung der Bewohner erscheint altertümlich und auch die Internetnutzung hat sich vor Ort noch nicht etabliert. Vor allem aber vergeht die Zeit anders in Groß-Einland als im Rest der Welt. Zwar ziehen sich präzise Zeitangaben durch den gesamten Roman – Das flüssige Land setzt mit einer ähnlich genauen zeitlichen Verortung wie schon Die Inkommensurablen ein, nämlich »In den frühen Morgenstunden des 21. September 2007« (DfL 5) – doch ergeben die einzelnen Angaben kein kohärentes Ganzes. Weder den Lesenden noch der Ich-Erzählerin selbst ist es möglich, die Chronologie der Handlung zweifelsfrei zu rekonstruieren. So gerät Ruth während eines Telefonats mit ihrer in Wien verbliebenen Tante in Verwirrung, da sie der Meinung ist, drei Jahre in Groß-Einland verbracht zu haben, während es ihrer Tante zufolge sechs gewesen seien. Ruths Reaktion auf die Inkommensurabilität der beiden Aussagen ist bezeichnend für das Zeitgefüge des Romans: »›Unsinn‹, sagte ich ärgerlich und begann an den Fingern die Jahre abzuzählen, aber nichts passte mehr zusammen« (DfL 333).4

Nicht nur die Zeit, auch der Raum in Groß-Einland weist fantastische Züge auf. Denn der gesamte Ort ist unterhöhlt, durchzogen von einem Geflecht unterirdischer Tunnel, in denen über die Jahrhunderte hinweg Kalk abgebaut wurde und die nun zum Absacken der Gemeinde führen. Die Schilderungen der Umgebung sind dabei fantastisch-surreal. Während der Verfall voranschreitet, wird durch Straßen nicht mehr gegangen, sie werden »durchklettert« (DfL 265). Obwohl die Bevölkerung die Gefahr durchaus erkennt, begegnet sie ihr mit einer traumartigen Ignoranz. Dies zeigt sich in der fragwürdigen Sicherheitsmaßnahme, Seile zu spannen, um beim Überqueren des Rathausplatzes nicht vom absinkenden Boden verschlungen zu werden. Diese Indifferenz der Figuren trägt zur surrealen Atmosphäre bei. Obwohl sie die Abweichung von der Alltagsrealität durch praktische Handlungen anerkennen, findet keine explizite Auseinandersetzung mit dem Einbruch des Ungewöhnlichen statt. Dies verhindert auch eine präzisere Genreklassifizierung. Ausschlaggebend ist dabei wie schon in Die Inkommensurablen die Funktion der Landschaft als Allegorie. Denn das Loch unter Groß-Einland ist zugleich ein figuratives. Durch ihre Nachforschungen findet Ruth heraus, dass sich während des Nationalsozialismus eine Nebenstelle des KZ Matthausen in der Gegend befand und dass im Jahr 1945 in durch den Einmarsch der Alliierten ausgelöster Panik 800 im Ort verbliebene Häftlinge im wahrsten Sinne des Wortes unter die Erde gebracht wurden. Die Beteiligung der Dorfbewohner ist nicht zu leugnen und zugleich nicht zu beweisen, die Leichen wurden in Seitenarmen des Loches an öffentlichen Plätzen und auf Privatgrundstücken versenkt. Die geteilte Schuld der ansässigen Bevölkerung ist der Abgrund, der sich auch metaphorisch unter der Fassade der Gemeinde ausbreitet.5 Eine explizite Thematisierung des physischen wie auch des moralischen Abgrundes wird vermieden, um den Anschein von Normalität zu wahren. Die fantastische Landschaft ist sowohl eine Allegorie auf die geteilte Schuld, wie auch deren praktische Konservierung, denn noch immer befinden sich Leichen im Boden unter der Gemeinde. Sowohl im konkreten wie auch im übertragenen Sinne ist es der Raum, der die Zeit überdauert und die Vergangenheit so in die Gegenwart eindringen lässt. Wie das Trauma bestehen bleibt und die Bevölkerung über Generationen hinweg formt, bleibt die Vergangenheit auch räumlich gegenwärtig. Veronika Zoidl spricht in ihrer Rezension in Anlehnung an Ernst Bloch von einer »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« (5) in Groß-Einland und tatsächlich bestehen Vergangenheit und Gegenwart durch die gemeinsame Verortung im Raum gleichzeitig. Dies fügt sich nahtlos in die Altertümlichkeit der Gemeinde ein, die nicht in der Lage ist, ihre Vergangenheit und die Rolle ihrer Mitglieder darin aufzuarbeiten und somit hinter sich zu lassen. Ruth soll eine Lösung für das Absinken des Ortes finden und ihr Ansatz zur Stabilisierung der Lage ist gleich in mehrfacher Hinsicht symbolisch zu verstehen: Ein Absinken kann nur durch das Einspritzen von Benzin verhindert werden, das zugleich in einem Absterben der Natur resultiert.6 Zum einen spiegelt dieses Verfahren den Mord an den KZ-Insassen durch Benzineinspritzungen knapp unterhalb des Brustbeines um Munition zu sparen, zum anderen ›zementiert‹ das Verfahren ganz gezielt den Status Quo (vgl. Wismeg-Kammerlander 322), indem es sowohl den Fortgang des Lebens an der betroffenen Stelle wie auch eine Bergung der Opfer dauerhaft verhindert. Raum und Zeit – in diesem Fall die Vergangenheit – fallen auch hier chronotopisch zusammen und laden sich gegenseitig mit Bedeutung auf.

Anders als in Die Inkommensurablen wird dieser Vorgang in Das flüssige Land explizit thematisiert. In einem Gespräch mit einem Fremden reflektiert die Erzählerin über die ›Traumzeit‹ der Aborigines. Die Traumzeit ist eine »ewige Schöpfungsgegenwart« (DfL 38), eine Gegenwart also, die sich wie schon das Traumreich des Weilers in Die Inkommensurablen durch Raum- und Zeitlosigkeit auszeichnet. Die Traumzeit wirkt jedoch laut dem Mythos in die realweltliche Wirklichkeit hinüber, die durch die Ahnen konstant erschaffen wird. Aktionen in der Traumzeit formen die Landschaft um den Menschen, ohne dass er diese Veränderung bemerkt. Denn sie entspricht der Logik einer ewigen Schöpfungsgegenwart, die im Augenblick ihres Eintritts schon immer Bestand hatte. Im Falle von Groß-Einland lässt sich dieser Mythos konkret übertragen – die Ahnen der Bevölkerung haben die Landschaft im wahrsten Sinne des Wortes geformt und durch den Kalkabbau und ihre Verbrechen sowohl den physischen wie auch den moralischen Zusammenbruch der Gemeinde verschuldet. Die daraus gezogene Schlussfolgerung durch Ruths Gesprächspartner lautet: »Somit wird die ganze Welt eigentlich Metapher« (DfL 39). Und genau das gilt für die Landschaft des Romans – sie ist zugleich physisch greifbar wie auch Metapher, oder besser gesagt allegorische Verkörperung einer schuldbeladenen Vergangenheit. Damit setzt sie lineare Zeitlichkeit außer Kraft, indem Vergangenheit und Gegenwart im geteilten Raum zusammenfallen.

Diese Gleichzeitigkeit des eigentlich Ungleichzeitigen wird im Roman allerdings nicht nur mythologisch, sondern auch durch eine stilistische Besonderheit reflektiert: Neben der primären Erzählhandlung ist der Text durchzogen von wissenschaftlichen Abhandlungen, die sich auf das Raum-Zeit-Gefüge konzentrieren. Denn parallel zu ihrem Aufenthalt in Groß-Einland arbeitet Ruth an ihrer Habilitationsschrift über das Blockuniversum. Diese Theorie besagt, dass

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eigentlich gleichzeitig vorhanden [sind]. Ähnlich einem dreidimensionalen Block lassen sich die vermeintlich aufeinanderfolgenden Momente lesen als nahe aneinanderliegend. Das heißt, die Zeit wird eher zu einer Raumrichtung als zu etwas, das die Dinge je verändern würde. (DfL 35 f.).

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden also als bereits festgeschrieben und gleichzeitig bestehend gedacht. Außerdem führt der Roman exemplarisch vor, dass sie zu einer räumlichen Kategorie werden. Die Landschaft von Groß-Einland ist physikalisch gegenwärtige Vergangenheit, die als physischer Raum in der Gegenwart durchschritten werden kann. Auch die physischen Eigenschaften der Landschaft sind oft mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen. So heißt es in einer kurzen Abhandlung über schwarze Löcher: »Die vom Loch ausgehende Gravitation verzerrt den Raum und den Ablauf der Zeit, alles wird gebrochen von der Wucht der unendlich komprimierten Masse« (DfL 185). Ganz offenkundig wird hier vom Text eine Parallelisierung zwischen dem tatsächlichen Loch im Boden und dem Konzept eines schwarzen Loches gezogen. Auch das reale Loch vor Ort verzerrt den Raum, indem es zu einem Absinken der Landschaft führt. Auch der chronologisch eindeutige Ablauf der Zeit wird sowohl für Erzählerin wie auch für die Lesenden verzerrt. Dabei bleibt im Unklaren, ob sich die Unstimmigkeiten auf eine Unzuverlässigkeit der Erzählerin zurückführen lassen, oder ob das Loch unter der Gemeinde tatsächlich physikalische Eigenschaften eines schwarzen Loches aufweist. Stärker als in Die Inkommensurablen, das eine realweltlich-kompatible Erklärung für seine Traumwelt liefert, behält die fantastische Landschaft in Das flüssige Land die Ambivalenz seiner Beschaffenheit bis zum Ende hin bei. In beiden Fällen jedoch entsteht die surreale Wirkung der Diegese vor allem dadurch, dass der Raum zugleich als Allegorie agiert. In ihm fallen dabei auch die Zeiten zusammen: Während in Die Inkommensurablen zwei Gegenwarten parallel existieren und die reale Gegenwart Wiens sich örtlich von der rein gedanklichen Gegenwart des Zeitgeistes scheidet, teilen sich in Das flüssige Land Vergangenheit und Gegenwart einen gemeinsamen Raum. Dabei wird das eigentlich Ungreifbare – eine Geisteshaltung respektive die Vergangenheit – durch die Landschaft zu einem physischen Objekt.

3. DAVE (2021)

Etwas Ähnliches ereignet sich im Roman DAVE, der hier jedoch bewusst ans Ende gesetzt wurde, da der Roman sich nicht länger im Surrealen bewegt, sondern eindeutig der Science Fiction zugeordnet werden kann. Denn auch in DAVE geht es maßgeblich um Zeit, namentlich um das Konzept der orthogonalen Zeit, das im Roman nicht durch wissenschaftliche Quellen, sondern durch Bezüge auf entsprechende Science-Fiction-Literatur erläutert wird. Mit Verweis auf den Schriftsteller Philip K. Dick heißt es: »wie die Rillen einer LP gehe Chronologie im Kreis herum und alles, was schon geschehen sei und noch geschehen werde, sei auf der Platte gleichzeitig vorhanden« (DAVE 116). Und dieser Grundgedanke wird durch den Roman auch anhand seiner Form veranschaulicht.

Schauplatz der Handlung ist zunächst ein abgeriegelter Gebäudekomplex ohne Zugang zur Außenwelt, die durch die Überbevölkerung der Menschheit derart zugrunde gerichtet worden ist, dass sie nicht länger als bewohnbar gilt. Zur Lösung der Probleme arbeitet die gesamte Bevölkerung an der Erschaffung einer künstlichen Intelligenz mit dem titelgebenden Namen ›Dave‹. Ich-Erzähler ist der Programmierer Syz, der scheinbar zufällig ausgewählt wird, um eine besondere Rolle zu erfüllen, denn die Wissenschaft verfolgt mit Dave die Personenhypothese. Dahinter steht der Gedanke, dass Dave in der Lage sein muss, motivationsabhängig zu priorisieren, um entscheidungsfähig zu werden. Die Fähigkeit zu Priorisieren allerdings erfordert ein gewisses Maß an Individualität und damit Persönlichkeit, sodass Dave einer konkreten Person nachgebildet werden muss, um überhaupt Handlungsfähigkeit zu erlangen. Diese Aufgabe fällt Syz zu, indem er prägende Erinnerungen in Daves künstliches Bewusstsein einspeist. Die Vergangenheit und ihre Bedeutung in der Gegenwart sind von vornherein zentral. Jedoch handelt es sich hier nicht wie in Das flüssige Land um die Erinnerungen eines Kollektivs, sondern um das individuelle Gedächtnis und seine Bedeutung für die Selbstkonstruktion des Subjekts.

Denn der Roman handelt in erster Linie von Selbstkonstruktion und Selbsterkenntnis: Letztendlich stellt sich heraus, dass es sich bei Syz in Wahrheit um Dave – oder zumindest einen Teil desselben – handelt, der seine eigene Identität jedoch im Laufe des Romans erst noch gemeinsam mit den Lesenden entschlüsseln muss. Der Gedanke dahinter ist simpel: Intelligenz erfordert Selbsterkenntnis, doch in Bezug auf künstliche Intelligenz scheitert es eben an diesem Zusatz ›Selbst‹, da diesem immer eine von außen eingeschriebene Programmierung zugrunde liegt. Der sinnvollste Ausweg, um Dave das Verfolgen einer eigenen Agenda zu ermöglichen und seine Rechenleistung damit zugleich gegen menschlichen Missbrauch abzusichern, erfolgt durch das Einbauen sogenannter ›Spiegel‹ – kleinerer Unstimmigkeiten, die sein Nachforschen erfordern und ihm so zur Selbsterkenntnis verhelfen. Die strukturelle Besonderheit des Romans besteht jedoch darin, dass jede Selbsterkenntnis Daves zu einem Neustart des Systems führt: Ein entsprechend programmierter Loop initiiert eine stetige Wiederholung desselben Geschehens und löscht zugleich die Erinnerung an den vorangegangenen Durchlauf aus. Der Roman endet daher so, wie er auch beginnt. Der letzte Absatz und das erste Kapitel beginnen mit den Worten: »Als die Uhr vornüberlief und der donnernde Alarm der Spätschicht den Raum erfüllt, schreckte ich auf […]« (DAVE 7) und endet mit der Ratlosigkeit im Angesicht eines Zitats von T. S. Eliot: »And the end of all our exploring will be to arrive where we started and know the place for the first time« (Ebd.). Sowohl auf inhaltlicher wie auch auf formaler Ebene wird das Prinzip der orthogonalen Zeit aufgegriffen. Obwohl die als Einstieg gewählte Zeitangabe dabei zwangsläufig weniger präzise ausfällt als in den anderen beiden Romanen Edelbauers, wird dennoch auf besonders augenfällige Art und Weise gleich zu Beginn explizit auf das Verstreichen von Zeit verwiesen. Die Struktur des Textes evoziert erneut das Bild der Schallplatte, in deren Rillen festgeschriebene Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft parallel verlaufen sowie dabei zeitgleich existieren und die jederzeit von vorne begonnen werden kann. Die Idee der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist durchweg präsent und äußert sich in der lebensweltlichen Praxis des Erzählers, indem er sich in »inversen Déjà-vus« an etwas erinnert, »doch nicht an etwas Geschehenes, sondern an die Zukunft« (DAVE 19). Wie es der Schluss des Romans nahelegt, ist diese innerhalb der Diegese schließlich bereits Geschichte.

Ermöglicht wird dieses Zurücksetzen auf einen Nullpunkt erst durch den diegetischen Raum. Denn wie schon in Die Inkommensurablen und Das flüssige Land, ist der Handlungsraum sowohl physisch wie auch metaphysisch zugleich. Das Gebäude wird zwar als durch die Figuren erfahrbar geschildert, wird also von diesen bewohnt, durchschritten und ermöglicht eine physische Interaktion mit ihm. Gleichzeitig jedoch handelt es sich um einen virtuellen Raum, der nur von der künstlichen Intelligenz als solcher erfahrbar ist. Ähnlich wie zuvor Traum und Erinnerung, wird hier ein Datensatz zu einer physischen Landschaft. Dabei ist der Raum nicht zufällig konzipiert, sondern wiederum mit Bedeutung aufgeladen. Denn er ist zugleich der Gedächtnispalast von Daves Schöpfer Arthur Witteg, dem er selbst aufgrund der Personenhypothese nachgebildet ist, ohne sich darüber zunächst im Klaren zu sein. Auch ein Gedächtnispalast ist wie der digitale Raum kein physischer Ort, sondern eine Mnemotechnik, die bereits in der loci-Methode Ciceros angelegt ist und der zufolge sich Erinnerungen besser speichern lassen, wenn sie räumlich visualisiert werden.7 Es ist also ein rein geistiger Raum, der in der Vorstellung eines Individuums angelegt ist, um das Abspeichern von Informationen zu erleichtern. Der Roman selbst wirft die Möglichkeit auf, einer künstlichen Intelligenz mithilfe ebenjener Mnemotechnik eine geschlossene Welt zu präsentieren, in der Informationen in Form von Erinnerungsgegenständen visualisiert werden. Durch ebendiese Welt bewegt sich Syz alias Dave. Der Raum weist dabei stark subjektive Prägungen auf: So sind die Dave umgebenen Menschen Bekannte von Witteg, die Aula entspricht dem Campus aus Wittegs Studienzeit. Die Erinnerungen seines Doppelgängers umgeben ihn somit auf Schritt und Tritt. Wie schon in Das flüssige Land ist die Vergangenheit auch in DAVE in räumlicher Form in der Gegenwart präsent und existiert gleichzeitig mit ihr. Und wie in Das flüssige Land nimmt auch die Landschaft in DAVE surreale Züge an, die eine Erweiterung des Genres über den Rahmen der klassischen Science Fiction hinaus nahelegen. Je weiter Daves Bewusstseinswerdung voranschreitet, desto stärker verändert sich auch das ihn umgebende Gebäude durch Umbaumaßnahmen. Diese gehen in einem derart rasanten Tempo vonstatten, dass hier erstmals verdeutlicht wird, dass der diegetische Raum keineswegs realweltlichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen ist:

Verließ man morgens um sechs seine Kammer und kam abends um acht wieder nach Hause, sah man staunend, wie in der eigenen Abwesenheit die Wände erneuert worden waren. Wer meinte, gedankenverloren die Gänge abschreiten zu können, wie er sie erinnerte, fand sich verwirrt in einem anderen Trakt wieder, den zu besuchen er nie beabsichtigt hatte. (DAVE 119)

Das Unnatürliche der Landschaft ist sowohl für den Erzähler wie auch die Lesenden der erste Hinweis darauf, dass der erlebte Raum kein physischer ist. Gleichzeitig wird das Subjektive des Raumes illustriert, indem er die geistige Verfassung und das Umdenken seines Erzählers physikalisch umsetzt. Denn, darauf weist bereits Renate Plieseis hin, als kybernetisches Prinzip »muss man ihn [Dave] in unbedingter Kombination mit dem Gebäudekomplex selbst denken« (210). Dave ist nicht als eine in die Diegese hineinprogrammierte Entität zu denken, sondern als Teil der Simulation. Erzählte Welt und erzählendes Subjekt beeinflussen einander nicht nur, sie sind praktisch identisch. Der Roman wird damit zu einem geschlossenen Kosmos, in dem sich Erinnerung und Erleben als physische Landschaft manifestieren. Anders als in Das flüssige Land und Die Inkommensurablen ist es allerdings gerade nicht das Kollektive, das durch den geteilten Raum gemeinschaftlich erfahrbar wird, sondern das rein Individuelle, das die Umgebung und die darin agierenden Figuren zum Teil des Subjekts erklärt.

Doch auch in DAVE ist der Raum in gewissem Sinne ein geteilter. Wie bereits erwähnt, ist das Ziel von Daves Programmierung, ihm zur Selbsterkenntnis zu verhelfen, die mithilfe eingebauter ›Spiegel‹ möglichst selbstständig erlangt werden soll. Der Begriff ist dabei bezeichnend und durchaus wörtlich zu verstehen, denn es ist die Konfrontation mit dem eigenen Selbst, das ein Bewusstsein für ebenjenes Selbst erzeugen soll. Bei seiner Suche stößt Syz auf ein digitales Abbild Wittegs, dem er selbst nachgebildet ist und das ihn mit entscheidenden Informationen versorgt und ihm das Konzept des Gedächtnispalastes näherbringt. Die beiden Figuren sind identisch und sind es doch auch nicht. Obwohl sie gemeinsame Erinnerungen teilen, wie die Kindheit mit dem misshandelnden Vater, unterscheiden sie sich in ihrem Identitätsbewusstsein. Diese Ambivalenz zeigt sich auch sprachlich, denn obwohl Syz von Witteg konsequent in der dritten Person spricht, bezieht er sich auf ihre Vergangenheit als eine geteilte Erfahrung, wenn es von einer Figur heißt: »Sie hat uns übrigens entjungfert« (DAVE 350). Nicht nur Teilen und Abgrenzen spielt jedoch eine Rolle, auch Aneignung von Erinnerung und damit Identität tritt an anderen Stellen des Textes zu Tage, wenn Syz von Wittegs Frau explizit als »meiner« Frau spricht (DAVE 421). Witteg ist nicht mit Syz identisch, aber er hat ihm seine Vorlage geliefert. Im virtuellen Raum wird es dem Erzähler möglich, seiner Vergangenheit physisch gegenüberzutreten.

Allerdings handelt es sich bei Witteg nicht um den einzigen Doppelgänger von Syz. Denn eine Selbsterkenntnis kann nie durch das gegenwärtige Selbst geleistet werden. In dem Moment, in dem das Gegenüber als Ich erkannt wird, besitzt der Erkennende einen Wissensvorsprung, der durch die Diskrepanz zwischen den beiden Subjekten eine vollständige Identifikation verhindert. Anders ausgedrückt: Eine gelungene Identifizierung ist nur mit einem zukünftigen Ich möglich. Und wenigstens in der Diegese DAVEs kann dies tatsächlich bewerkstelligt werden. Denn während das Programm stetig seinen Loop durchläuft, schreitet die Zeit der fiktionalen Realwelt voran, die zwar nicht explizit beschrieben wird, von den Lesenden aber kontextuell erschlossen werden kann. Der reale Witteg alterte dementsprechend parallel zum andauernden Loop und schrieb schließlich sein älteres Ich in das Programm hinein – also Syz’ zukünftiges Ich, der ja auf dem vergangenen Ich Wittegs beruht. Diesem begegnet Syz in Form der Figur Mandelbrot und beschreibt sie als »Drillinge, geeint durch die in Falten geworfene Chronologie einer irrationalen Welt« (DAVE 394). Es interagieren drei Versionen derselben Person – insofern Erinnerungen als identifikationsstiftend betrachtet werden können – die sich alle an unterschiedlichen Punkten ihrer Lebenszeit befinden. Durch den geteilten Raum wird auch hier die Gleichzeitigkeit des eigentlich Ungleichzeitigen ermöglicht, und erlaubt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zeitgleich zu existieren. Die Grenzen zwischen erlebtem Raum und virtueller Simulation sind dabei ebenso wenig zu trennen, wie die Identität der drei Figuren (vgl. Plieseis 215). Witteg, Syz und Mandelbrot sind alle ebenso Teil der Programmierung wie es der Raum ist. Syz selbst formuliert die Unauflösbarkeit dieses Geflechts: »Das ganze Gebäude war in meinem Kopf oder aber, vielmehr: mein Kopf war in ihm. Ich hatte gar keinen Kopf, ich hatte nur den Raum« (DAVE 418). Der Raum und die Figuren sind eins – sie sind Dave. Indem der gesamte Roman sich im Subjekt als einem eigentlich zeit- und raumlosen Ort zentriert, erlaubt er Zeit und Raum in ihm zusammenzufallen. Charlotte Coch weist zurecht auf die Parallele zwischen der Selbsterkenntnis Daves und der im Prolog zusammengefassten Entstehung des Universums hin (309). Vom Urknall heißt es, es »raste ein Impuls durch Milliarden Lichtjahre, von Ewigkeit zu Ewigkeit: Der Kosmos war sich seiner selbst bewusst geworden« (DAVE 6). Daves Bewusstseinswerdung erfolgt durch die Konfrontation mit dem eigenen Selbst in fast identischen Worten: »Als ich mich zum ersten Mal dort sah, auf der Bühne, und zur selben Zeit in allem anderen – in jedem Atom -, raste ein Impuls durch Milliarden Lichtjahre, von Ewigkeit zu Ewigkeit: Ich war mir meiner selbst bewusst geworden« (DAVE 429). Indem Dave seine Einheit mit seiner Umgebung erkennt, erkennt er sich zugleich als ein in sich geschlossenes Universum, das Zeit und Raum in sich beinhaltet. Dieses Universum ist zugleich die Gesamtheit der von den Lesenden erfahrbaren Diegese.

4. Das bisherige Romankorpus

In diesem Sinne ist DAVE vielleicht der radikalste der drei Romane. Der gesamte Raum der Diegese ist zugleich Bedeutungsträger für das Subjekt, mit dem es schließlich identisch ist. Auch dieser Raum veranschaulicht zugleich das abstrakte Innenleben der erzählenden Instanz. Wie schon Groß-Einland und der Weiler existiert Dave in einer eigenständigen Zeit- und Raumdimension, die nicht den physikalischen Gesetzmäßigkeiten einer innerdiegetischen Realität unterworfen ist, die hier nicht einmal expliziert wird. Allen Romanen ist gemeinsam, dass diese neue Dimension in Form einer physischen Landschaft mit Bedeutung aufgeladen ist – ganz dezidiert vor allem mit Bedeutung von Erfahrung, die in den meisten Fällen nicht als teilbar zu denken ist. In Die Inkommensurablen ist es das Gedankengut bzw. die emotionale Stimmung, die massenpsychologisch zwar einer Gruppe von Menschen gemeinsam sein kann, jedoch zugleich höchst subjektiv gefärbt ist. Der Raum des geträumten Weilers ermöglicht erst ein Teilen des Gefühls, das nicht nur metaphorisch, sondern auch physisch umgesetzt werden kann. In Das flüssige Land hingegen ist es die Vergangenheit, die von einer Bevölkerungsgruppe geteilt wird. Auch eine gemeinsame Vergangenheit ist natürlich möglich. Erst im fantastisch-surrealen Raum wird das Subjektive der individuellen Erinnerung eliminiert und wird auch hier nicht länger nur metaphorisch, sondern auch physisch teilbar. DAVE letztendlich nimmt eine gewisse Sonderstellung ein, denn hier ist es weniger eine Gemeinschaft als Bruchstücke desselben Subjekts, die sich im Raum zusammenfinden. Aber auch hier ist es die eigentlich subjektive Erfahrung, die durch ihre Aufteilung auf verschiedene Instanzen kollektiviert und im Raum physisch sichtbar wird. So sehr sich die Bedeutungen und Nuancen innerhalb der einzelnen Werke auch unterscheiden, ist doch deutlich geworden, dass Edelbauer in ihrem Schreiben wiederholt fantastische Räume entwickelt, die sich durch ihre chronotopische Bedeutungsaufladung auszeichnen. Der unnatürliche Ort ist immer zugleich auch Allegorie und ermöglicht eine Gleichzeitigkeit und Gemeinschaftlichkeit des eigentlich Getrennten und Abstrakten, wenn Raum, Zeit und subjektive Erfahrung an einem Punkt zusammenstürzen.

Notes

  1. Die Inkommensurablen wird als ›DI‹ zitiert. [^]
  2. Auch der Luster, der von allen Träumenden wahrgenommen, begehrt, aber nicht erreicht werden kann, fügt sich in diese Lesart ein. Er verkörpert in seiner Dekadenz den Wunsch nach sozialem Aufstieg oder schlicht einer Verbesserung der eigenen Position (sei es die individuelle oder die der Gruppe), die nicht zwangsläufig durch eine rationale Argumentation begründet ist, sondern vielmehr als allgemeine Triebfeder der menschlichen Existenz zu verstehen ist. Interessanterweise gelingt es den Bewohnern des Weilers nicht, ihren angestammten Platz zu verlassen. Die einzige Ausnahme bildet Klara, der auch in der wachenden Wirklichkeit der Diegese ein Aufstieg aus dem Lumpenproletariat zu einer akademischen Karriere gelingt. [^]
  3. Der Weiler veranschaulicht genau dieses Prinzip räumlich. Während die einzelnen Träumenden sich nicht in geographischer Nähe zueinander aufhalten müssen, sind sie im geistigen Raum des Weilers geeint. [^]
  4. Goran Lovrić spricht in diesem Zusammenhang sogar ganz explizit von einem »Übergang in eine andere metaphorische Raum- und Zeitdimension (Raumzeit)« (46). Sein Artikel ist einer der wenigen dezidiert literaturwissenschaftlichen Beiträge, die bisher zu Raphaela Edelbauer existieren und arbeitet die abweichenden Zeitstrukturen in Das flüssige Land sehr genau heraus. Auch er stellt bereits die Bezüge zu Bachtins Chronotopos her (52). [^]
  5. Damit ist die Thematik des Romans durchaus typisch für den Anti-Heimatroman, als der er in der Literaturkritik wiederholt gelesen worden ist. Das Genre beschäftigt sich nicht nur mit einem ländlichen, lokal begrenzten Raum, der oftmals als Spiegelung der allgemeinen gesellschaftlichen Ordnung dient, sondern befasst sich häufig mit den Themen »Armut und Gewalt, Umweltzerstörung und Massentourismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Verdrängung der Vergangenheit und Verfall sozialer Ordnung« (Weiland 331). Die Parallelen zu Edelbauers Roman sind offenkundig, besonders wenn die Gemeinde letztlich anstrebt, Groß-Einland zu einer Touristenattraktion umzugestalten – auf Kosten des Naturerhalts und einer Aufarbeitung der Vergangenheit. [^]
  6. Nicht zuletzt aufgrund dieses Natursterbens ist dieser Lösungsansatz auch als Hinweis auf den zeitgenössischen Klimadiskurs und seine Verschuldung durch den Menschen gelesen worden (vgl. Gätje 326). Dass Edelbauers Romane stets auch in Bezug auf gegenwärtige Krisen gelesen werden können, zeigt sich ja bereits an der populistisch aufgeheizten Stimmung in Die Inkommensurablen, die zugleich die aktuelle politische Tendenz Österreichs kritisch zu hinterfragen scheint. [^]
  7. Cicero führt als Ursprung der Methode die Geschichte des Griechen Simonides an, der die Leichen seiner Gäste nach Einsturz seines Hauses dadurch identifizieren konnte, dass er sich die Sitzordnung eingeprägt hatte. Informationen lassen sich demzufolge besser abspeichern, wenn sie mit einer räumlichen Vorstellung verknüpft sind (Cicero 299 f.). [^]

Autorin

Lea Baumgart studierte an der Universität Siegen sowie an der Meiji University in Tokyo Literatur, Kultur und Medien mit dem sprachlichen Schwerpunkt Germanistik. Derzeit arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Poetik und Pragmatik an der Universität Siegen.

Konkurrierende Interessen

Die Autorin hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Literaturverzeichnis

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Edelbauer, Raphaela. Die Inkommensurablen. Klett-Cotta, 2023.

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