Innerhalb des SF-Kinos gehören Roboter, Androiden und andere Formen von künstlichen Menschen1 zweifellos zu den häufigsten Motiven; sie sind »one of the most important tropes in sf and arguably the most powerful image of the sf cinema« (Telotte, Robot Ecology 3). Bereits in Fritz Langs Metropolis (DE 1927) kommt dem »Maschinenmenschen« eine wichtige Rolle zu, und seit den 1950er-Jahren hat das US-Kino zahlreiche ikonische Roboter hervorgebracht; von Gort in The Day the Earth Stood Still (Der Tag, an dem die Erde stillstand, US 1951, Regie: Robert Wise, Abb. 1), Robby aus Forbidden Planet (Alarm im Weltall, US 1956, Regie: Fred M. Wilcox) und dem Gunslinger aus Westworld (US 1973, Regie: Michael Crichton) über die Replikanten in Blade Runner (Der Blade Runner, US 1982, Regie: Ridley Scott), dem Terminator aus James Camerons gleichnamigen Film (US 1984) und Nummer 5 aus Short Circuit (Nummer 5 lebt, US 1986, Regie: John Badham) bis zur Titelfigur von WALL·E (WALL·E – Der Letzte räumt die Erde auf, US 2008; Regie: Andrew Stanton) wimmelt es in der SF von markanten künstlichen Menschen.
Je nach Film kommen dem Roboter ganz unterschiedliche erzählerische Funktionen zu, wobei sich über die Jahrzehnte hinweg eine allmähliche Ausdifferenzierung beobachten lässt. Wie Wolfgang Ruge in seiner Studie zum Thema argumentiert, erweitert sich das Arsenal möglicher ›Roboter-Rollen‹ sukzessive.2 Typische 1950er-Roboter wie Robby und Gort sind schon auf den ersten Blick als Maschinen erkennbar und haben eine rein dienende Funktion. Obwohl beide über außerordentliche Fähigkeiten verfügen und insbesondere Gort ganze Armeen zerstören kann, führen diese »dienenden Einzelstücke« (Ruge 91) lediglich aus, was ihnen aufgetragen wird. Generell verfügen filmische Roboter zu diesem Zeitpunkt nicht über ein echtes Bewusstsein, sind keine Persönlichkeiten mit einem Gefühlsleben und stellen nur dann eine Gefahr dar, wenn ihnen jemand einen entsprechenden Befehl erteilt hat.
Ab Mitte der 1960er-Jahre beginnt sich dies dann zu ändern – Roboter entwickeln nun allmählich ein Bewusstsein; parallel setzt eine Entwicklung zu immer menschenähnlicheren künstlichen Menschen ein. Einen wichtigen Schritt stellt hier 2001: A Space Odyssey (2001: Odyssee im Weltraum, GB/US 1968, Regie: Stanley Kubrick) dar. HAL 9000 ist zwar mehr stationärer Supercomputer als (mobiler) Roboter, wirkt dank perfekter Sprachsynthese aber bereits sehr menschlich. Fünf Jahre später tritt mit dem Gunslinger aus Westworld dann gewissermaßen das Gegenstück zu HAL auf. Äußerlich ist dieser Western-Themenpark-Roboter nicht von einem Menschen zu unterscheiden, sein Innenleben ist dagegen ziemlich primitiv. Er ist darauf programmiert, Streit mit den Besuchern vom Zaun zu brechen, um sich dann von ihnen niederschießen zu lassen.
So unterschiedlich diese beiden Maschinen in Aussehen und Funktionsweise sind, ist es wohl kein Zufall, dass künstliche Geschöpfe im Film just dann zum Problem werden, wenn sie sich nicht mehr eindeutig von Menschen unterscheiden lassen. Die Hybris des Menschen, sein Ebenbild erschaffen zu wollen, rächt sich in beiden Fällen, und sowohl HAL als auch der Gunslinger werden aus unklaren Gründen zu Mördern.
Die bisher skizzierte Entwicklungsgeschichte ist nicht so zu verstehen, dass die neuen Robotervarianten die bisherigen ersetzten, vielmehr vergrößert sich das Arsenal zusehends, stehen Filmschaffenden mehr und mehr Varianten zur Verfügung. Zu Beginn der 1980er-Jahre erweitert sich die Palette noch mehr. Auf der einen Seite erscheint mit The Terminator ein stilbildender Film, bei dem der künstliche Mensch im permanenten Kriegszustand mit echten Menschen steht. Bereits zwei Jahre früher kommt mit Blade Runner ein mindestens ebenso einflussreicher Film ins Kino, der für eine andere, tendenziell friedlichere Entwicklungslinie steht.
Ridley Scotts Film und der im gleichen Jahr erschienene, heute aber weitgehend unbekannte Android (Der Android, US 1982, Regie: Aaron Lipstadt) verschieben den Fokus grundlegend. Bis zu diesem Zeitpunkt sind Roboter meist Antagonisten oder lustige Sidekicks; in Blade Runner hingegen treten Replikanten auf, die sich nicht nur äußerlich in nichts von Menschen unterscheiden, sondern die auch über ein voll entwickeltes Gefühls- und Seelenleben verfügen und entsprechend ihre Rechte einfordern. Wenn sich künstliche Wesen nicht mehr von Menschen unterscheiden lassen, wird der Mensch als Ganzes in Frage gestellt. »Increasingly, works like Blade Runner and Android articulate a simple yet ever more pressing question: what does it mean to be human in the modern world?« (Telotte, Replications 20).
Etwas überspitzt gesagt hat sich der SF-Film seither kaum weiterentwickelt. Im Grunde ist auch ein Film wie der mehr als dreißig Jahre nach Blade Runner erschienene Ex Machina (GB 2015, Regie: Alex Garland) bloß eine weitere, wenn auch sehr reflektierte Variation des bereits durch Blade Runner etablierten Themas.
Eine grundlegend neue Variante präsentiert hingegen Sandra Wollners The Trouble with Being Born (AU/DE 2020). Hauptfigur ist Elli, ein Androide in Gestalt eines zehnjährigen Mädchens. Zu Beginn ›lebt‹ Elli bei Georg, den sie ›Papa‹ nennt. Dass Elli kein Mensch ist, wird relativ schnell klar. Ebenso, dass in der Beziehung zwischen den beiden etwas ganz grundlegend nicht stimmt. Georg, der kaum mit anderen Menschen interagiert, hängt offensichtlich sehr an Elli, die ihm allem Anschein nach als Ersatz für seine leibliche Tochter dient. Was mit ihr sowie ihrer Mutter geschehen ist, lässt der Film offen. Was hingegen immer deutlicher wird, ist, dass Elli für Georg nicht nur Tochterersatz, sondern auch Sexroboter ist.
Was in dieser Beschreibung schockierend und auch tendenziell problematisch wirken mag, ist in der Wirkung zwar nicht angenehm, aber dennoch ganz anders, als man vielleicht erwarten würde. Trouble erzählt nicht die Geschichte einer geschundenen Kreatur, der Roboter steht nicht stellvertretend für die Opfer kapitalistischer Ausbeutung (um eine gängige Leseweise der Replikanten aus Blade Runner aufzugreifen). Vielmehr macht der Film stets von Neuem deutlich, dass Elli eine Maschine und einzig und allein darauf ausgerichtet ist, ihren Besitzer zufrieden zu stellen; ein Androide ohne Bewusstsein oder Gefühle, der sich stets der jeweiligen Situation anpasst. So erzählt Georg in einer frühen Szene von einer Ferienerinnerung mit seiner realen Tochter und somit von einem Erlebnis, das Elli nicht erlebt hat. Kurz danach sieht man Elli am Fenster stehen und verträumt in eben dieser Erinnerung schwelgen (Abb. 2). Sie hat registriert, dass Georg diese Reminiszenz viel bedeutet und sie sich folglich sofort zu eigen gemacht.
Schaut man den Film zum ersten Mal, erwartet man fast automatisch, dass dieser grob dem von Blade Runner etablierten Modell folgen wird, dass Elli also ein Bewusstsein entwickeln wird und wir als Zuschauer:innen empathisch mit ihr mitfühlen werden. Doch entgegen allen Genrekonventionen findet diese Entwicklung sowie eine daraus folgende Emanzipation des Androiden nicht statt. Vielmehr wird Elli im Verlauf des Filmes zusehends fremder und unheimlicher. Dies gilt insbesondere für den zweiten Teil: Elli ist nun nicht mehr bei Georg, sondern bei der 70-jährigen Anna, wo sie als Ersatz für Emil, Annas jüngeren Bruder, der im Kindesalter verstorben ist, fungiert. Auch in dieser neuen Umgebung passt sich Elli respektive Emil ganz an die Situation an und gewinnt allmählich das Zutrauen der zu Beginn skeptischen Anna. Doch da Emils unter Georg antrainierte Muster noch nachwirken und der Androide Menschen eben nicht versteht, sondern lediglich seiner Programmierung folgt, kann er die Situation nicht richtig einschätzen und macht gegenüber Anna sexuelle Avancen. Die Folgen sind fatal.
Man kann The Trouble with Being Born somit als nächsten Schritt in der skizzierten Entwicklungsgeschichte filmischer Roboter sehen. Steht bei vielen Androiden-Filmen in der Nachfolge von Blade Runner die Ununterscheidbarkeit von Mensch und Maschine im Zentrum, wird diese Differenz in Wollners Film immer wieder von Neuem hervorgehoben. Der Effekt ist dabei ein ganz anderer als bei früheren Film-Robotern. Unsere Empathie mit Robotern wie Robby oder Gort ist sehr begrenzt. Das liegt nicht zuletzt am Aussehen, dass jederzeit deutlich macht, dass wir es mit einer Maschine zu tun haben.3 Elli wird hingegen von einem Mädchen gespielt und sieht aus wie ein Mensch. So lädt uns The Trouble with Being Born immer wieder dazu ein, Elli als Kind wahrzunehmen – so wie es Georg und Anna auch tun –, nur um dann doch wieder zu unterstreichen, dass wir es mit einer gefühllosen Maschine zu tun haben.
Ein vergleichbarer Film, den Wollner im Interview auch explizit als Referenz angibt, ist Jonathan Glazers Under the Skin (Under the Skin – Unter die Haut, GB/US/CH 2013), dessen Hauptfigur ein außerirdisches Wesen in Frauengestalt ist, das Jagd auf alleinstehende Männer macht (Abb. 3). Neben zahlreichen formalen Gemeinsamkeiten zeichnen sich beide Filme durch ihre dezidiert nicht-menschlichen Protagonisten aus, deren Fremdheit bis zum Schluss erhalten bleibt und sich auch und gerade in der ästhetischen Gestaltung niederschlägt. In beiden Filmen sehen und hören wir mit fremden Augen respektive Ohren.
The Trouble with Being Born ist Wollners Abschlussarbeit an der Filmakademie Baden-Württemberg. Aber obwohl es sich ›nur‹ um einen Abschlussfilm handelt, wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem dem Österreichischen Filmpreis in vier Kategorien (darunter. Bester Spielfilm und Beste Regie). Trotz dieser Ehrungen hatte der Film aber nur eine minimale Kinoauswertung und ist auch in SF-Kreisen praktisch unbekannt.
ZFF: Sandra Wollner, dieses Interview erscheint in der Zeitschrift für Fantastikforschung, und damit geht bereits gewisse Einteilung einher; wir verstehen The Trouble with Being Born als SF oder zumindest als diesem Genre nahestehend. Können Sie mit diesem Label überhaupt etwas anfangen?
Sandra Wollner: Mit SF kann ich an sich schon etwas anfangen, ich sehe mich aber nicht als Liebhaberin eines bestimmten Genres. In gewissem Sinne ist Trouble auch zu »klein« für SF. Was ich damit meine, ist, dass ich nie ernsthaft versucht habe, mir zu überlegen, wie eine glaubhafte Zukunft aussehen könnte. Ich habe eher auf der Basis der Gegenwart etwas vermeintlich Zukünftiges fabuliert. Allerdings war mein Ansatzpunkt nicht, dass ich einen SF-Film machen wollte. Es war vielmehr so, dass ich diese Geschichte nur als SF erzählen kann. Das Genre ist für mich letztlich eine Hülle für universelle Themen, quasi ein Weiterdenken, was der Mensch sein kann.
ZFF: Seit einiger Zeit ist der Begriff des Worldbuilding sehr populär, also die Vorstellung, dass es in Genres wie SF aber auch Fantasy darum geht, eine möglichst detaillierte und in sich stimmige Welt zu entwerfen. Das war nicht, was Sie an dem Stoff interessiert hat?
Sandra Wollner: Eine in sich stimmige Welt muss es ja immer sein, egal in welchem Genre. Für mich stand aber nicht im Vordergrund, ein präzises Zukunftsszenario abzubilden. Das machen andere bedeutend besser. Was mich an dem Stoff interessiert hat, war nicht, wie sich neue Technologien in Zukunft auf uns auswirken werden, sondern welche Aspekte des Menschseins von uns entwickelte Technologien widerspiegeln: wie wir selbst immer »ghosts in the shell« sind und waren. Man könnte sagen, dass ich das Genre lediglich als »Hülle« verwendet und nicht in seiner Gänze ausgereizt habe. Da hatte ich andere Vorbilder.
ZFF: Da Sie von Vorbildern sprechen. Welche würden Sie da denn nennen?
Sandra Wollner: Als ich mit dem Schreiben begann, gab es noch keinen Roboter. Es war die Geschichte eines Mädchens, das kein Mensch sein möchte. Sie spürt diesen Wunsch, ihre menschliche Perspektive zu verlassen, den Blick auf eine vermeintlich ontische Realität zu werfen. Während des Schreibens arbeite ich oft recht eklektisch bzw. versuche, mich in dem Prozess bewusst gegen die Linearität des Papiers zu stellen und den Bildern, von denen ich noch nicht weiß, wohin sie wollen, Raum zu geben.
Als Kind der Postmoderne, könnte man salopp sagen, bediene ich mich im Grunde überall und baue eine Collage, die ich dann am Ende entziffern kann. Ich schreibe erstmal los, dann interpretiere ich, dann schreibe ich weiter. Irgendwann stieß ich dann auf Verwandtschaften zu Au hasard Balthazar (Zum Beispiel Balthasar, FR 1966, Regie: Robert Bresson). Bresson erzählt darin die Geschichte eines Esels, der als eine Art passiv Leidender durch die Welt zieht, dabei aber alles über sich ergehen lässt (Abb. 4). Under the Skin war eine andere Referenz. Auf den ersten Blick mögen es ganz unterschiedliche Filme sein, aber ich sehe sehr viele Gemeinsamkeiten zwischen Au hasard Balthazar und Under the Skin; in beiden Fällen geht es darum, wie sich etwas Nicht-Menschliches durch die Welt bewegt – unter dem Blick des Menschen. Die vermeintlich naheliegenden SF-Klassiker wie Blade Runner oder Ghost in the Shell (JP 1995, Regie: Mamoru Oshii) waren dagegen sehr viel weniger wichtig, da ich das Gefühl hatte, dass ich hier nichts beitragen kann. Ich kann nichts Klügeres erzählen, als das, was diese Filme ohnehin schon leisten.
ZFF: Und wie sind Sie von dieser Idee zum Sexroboter gekommen?
Sandra Wollner: Das war die Idee von Roderick Warich, einem befreundeten Filmemacher, mit dem ich bei diesem Projekt erstmals zusammengearbeitet habe. Er meinte halb im Scherz, ich solle doch einen Film über einen – plakativ gesagt – minderjährigen Sexroboter machen. Das war, wie gesagt, nicht wirklich ernst gemeint, aber ich habe gemerkt, dass das genau das Setting ist, das ich gesucht habe. Mir wurde klar, dass mir das einen Rahmen für das gibt, was ich da zusammenfabuliert habe, und dass das Resultat eben nicht eine typische Black-Mirror-Folge wäre. Das ist nicht abwertend gemeint. Aber mein Ausgangspunkt war eben nicht SF.
ZFF: Man kann filmgeschichtlich eine Entwicklung nachzeichnen: Von den Robotern und KIs in den 1950er-Jahren, die noch keine Persönlichkeit haben und primär Werkzeuge sind, über Filme wie 2001, wo sich die Frage stellt, ob HAL aus böser Absicht agiert, bis zu Blade Runner, bei dem die Frage zentral wird, was Mensch und Maschine unterscheidet respektive was den Mensch zum Menschen macht. Das ist aber nicht Ihr Thema, Sie interessieren sich für eine dezidiert nicht-anthropozentrische Perspektive.
Sandra Wollner: Ja, es ist eine Art Anti-Pinocchio; es ist nicht der künstliche Junge, der Mensch werden möchte, es ist die Geschichte einer Puppe, die alles möchte, was wir von ihr wollen. Egal, wie abgründig es auch erscheinen mag. Und eben durch diesen Abgrund, dadurch, dass diese Androidin Dinge ›mag‹, die für uns unaussprechlich sind, wirft sie einen nicht-menschlichen Blick auf uns zurück. Sie kopiert menschliche Emotionen, aber setzt sie in einen unaushaltbaren, teilweise absurden Kontext. Die Frage, wie es uns gelingen kann, aus unserer eigenen Perspektive auszubrechen, ist etwas, das mich auch persönlich beschäftigt. Und durch Geschichten, durch Kunst können wir in andere Perspektiven schlüpfen, aber unser Filter »Mensch« ist ja dennoch immer dazwischen. Vielleicht, so viel Vorstellungskraft habe ich dann doch, gelingt das ja in einer Zukunft: Wenn wir an eine KI denken, die ihren »Schöpfer« übertrifft, die ein ganz eigenes System entwickelt, dann entsteht vielleicht etwas, das über unseren menschlichen Blick hinausgeht, aber für uns übersetzbar ist. Dann können wir uns vielleicht wirklich von außen betrachten. Dann haben wir endlich unseren Gott geschaffen.
ZFF: In der soeben skizzierten Entwicklungslinie kann man Trouble als nächsten logischen Schritt verstehen. Anders als bei Blade Runner und den zahlreichen folgenden Filmen von A.I. Articifal Intelligence (A.I. – KÜnstliche Intelligenz, US 2001, Regie: Steven Spielberg) bis Ex Machina geht es nicht mehr darum, wie menschlich Maschinen sind, ob sie vielleicht sogar die besseren Menschen sind. Stattdessen wird die Perspektive radikal verschoben. Ihr Film ist damit gewissermaßen die nächste Stufe in dieser Entwicklungslinie.
Sandra Wollner: Es freut mich, dass Sie das so sehen. Filme wie A.I. und Ex Machina waren insofern eine Referenz, als ich mir überlegt habe, was ich anders machen kann. Vor allem in Bezug auf das Pinocchio-Thema. Wenn ich mir Trouble heute anschaue, dann wirkt er auf mich wie das genaue Gegenstück von Spielbergs A.I., bei dem die Pinocchio-Geschichte ja ganz zentral ist. Interessanterweise sind sich die beiden Filme dramaturgisch, im Aufbau des Plots, dann aber wieder erstaunlich ähnlich. Aber das sind eben nicht Dinge, die bewusst geschehen sind.
ZFF: Man kann im neueren europäischen Kino eine Tendenz beobachten, dass Filmemacher:innen, die eigentlich klar im Arthouse-Kontext zu verorten sind, SF-Filme drehen. Beispielsweise Filme wie Little Joe (Little Joe – GlÜck ist Ein GeschÄft, AT/DE/GB 2019, Regie: Jessic Hausner), Aniara (SW/DK 2018, Regie: Pella Kågerman, Hugo Lilja), High Life (FR/DE/PL/GB/US 2018, Regie: Claire Denis) oder der bereits erwähnte Under the Skin. Das sind alles Filme von ausgesprochenen Autor:innen – interessanterweise oft Frauen. Auch Trouble kann hier dazugezählt werden. Sehen Sie diese Entwicklung auch?
Sandra Wollner: Ich denke schon. Allerdings betrifft sie in meinen Augen nicht nur SF, sondern generell den Umgang mit Genres. Ich denke, Genres bieten uns Schablonen, mit denen wir manche Dinge, die wir im Arthouse-Drama ausdrücken, viel direkter erzählen können. So sind in den vergangenen Jahren unzählige Filme über Parallelwelten erschienen; damit wird ein Thema, eine Frage, die es schon lange gibt – könnte ich unter anderen Umständen nicht ein ganz anderes Leben führen? –, ganz direkt umgesetzt. Ein weiterer Grund ist wohl, dass wir überspitzt gesagt bereits alle Geschichten kennen. Etwas Neues scheint deshalb nur mit Collagen aus bekannten Genre-Elementen möglich. Deshalb erzählen wir die bekannten Geschichten in neuen Welten, wobei das wirklich Interessante dann genau am Übergang oder der Lücke zwischen den Welten entstehen kann.
ZFF: Hat sich auch das kulturelle Referenzsystem verschoben? Kann man heute leichter popkulturelle Motive aufgreifen?
Sandra Wollner: Auf jeden Fall. Für meine Generation war beispielsweise The Matrix (Matrix, US/AU 1999, Regie: Larry Wachowski, Andy Wachowski) ein Wendepunkt. Da wurde die Idee oder das Gefühl, dass die Welt nur eine Konstruktion sein könnte, zu einem Thema der Popkultur. Aber der erste Matrix-Film musste noch eine Stunde damit verbringen zu erklären, was die Matrix überhaupt ist. Heute ist das eine etablierte Idee, mit der man spielen kann, und eine typische Black-Mirror-Folge handelt das in fünf Minuten ab. Oder nehmen wir Everything Everywhere All At Once (US 2022, Regie: Daniel Kwan, Daniel Scheinert): Die Filmemacher haben ihren Film selbst als »Matrix auf dem Steueramt« beschrieben. Und das trifft es ziemlich genau: Eine Mutter erlebt Matrix auf dem Steueramt. Was der Film tatsächlich macht, ist, dass er Themen wie Identität, Einwanderung und interkulturelle Konflikte, die typischerweise in Arthouse-Filmen verhandelt werden, in ein abgedrehtes SF-Setting verpflanzt.
ZFF: Trouble war Ihr Abschlussfilm an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg, wo Sie Dokumentarfilm studiert haben. Hat hier bei Ihnen eine Entwicklung stattgefunden, dass Sie sich vom Dokumentarischen zur Fiktion bewegt haben, oder sind diese Bereiche für Sie gar nicht so klar getrennt?
Sandra Wollner: Ein Thema, das mich umtreibt, ist der Begriff unserer Realitäten. Vor meinem Studium habe ich sowohl in der Werbung als auch für den aktuellen Dienst gearbeitet und auf dieser Weise die beiden vermeintlich gegensätzlichen Enden unserer Medienrealitäten kennengelernt. Dann bin ich beim Dokumentarfilm gelandet und habe in Ludwigsburg angefangen zu studieren. Dort konnte ich der Frage nach »dem Realen« weiter nachspüren. Im zweiten Jahr habe ich dann einen Dokumentarfilm gedreht, bei dem ich allerdings Dinge inszeniert habe. Meine Prämisse war: Fiktion entlarvt die Realität. Für Louis und Luk (DE 2014) habe ich einen kleinen Jungen zu seinem imaginären Freund befragt und auf der Basis dieses Audiodokuments Szenen mit ihm inszeniert. Szenen, die sich dokumentarisch anfühlen und die Realität seiner Geschichte nachbilden, aber nicht die Realität seines Alltags zeigen. Darüber haben wir dann auch diskutiert an der Schule, es sind ja die alten Fragen des Dokumentarfilms: Wie stark greifen wir ein? Und ich habe bemerkt – so gerne ich auch beobachte, ich »dichte« doch viel lieber; konstruiere viel lieber Settings, innerhalb derer ich dann beobachten kann. Aus dieser Erkenntnis habe ich dann im dritten Jahr meinen ersten Spielfilm Das unmögliche Bild (AT/DE 2018) gedreht. Der Film spielt im Wien der 1950er-Jahre in einem Haushalt voller Frauen. In einer Ansammlung aus Super8-Filmen, gedreht von der 13-jährigen Johanna, entsteht allmählich eine Narration vor unseren Augen (Abb. 6). Es ist ein Film darüber, wie sich aus einzelnen Momenten allmählich ein Ich, eine Erinnerung, eine Identität zusammensetzt. Trouble war dann wie eine logische Fortführung.
ZFF: Sind Sie jetzt definitiv bei der Fiktion angekommen, oder können Sie sich vorstellen, auch wieder Dokumentarfilme zu drehen?
Sandra Wollner: Ich kann mir schon vorstellen, mal wieder einen Dokumentarfilm zu drehen. Ich merke aber auch, dass mich die Verantwortung gegenüber den Protagonisten, die ich als sehr wichtig empfinde, belastet. Mit Menschen zu arbeiten, die nicht sich selbst spielen, empfinde ich als regelrecht befreiend. Zudem erfinde ich einfach zu gerne, baue gerne Puzzles. Ich interpretiere lieber, anstatt nur zu beobachten.
ZFF: Inwiefern zeigt sich hier eine spezifische österreichische Filmtradition? Ulrich Seidl, um einen der bekanntesten zeitgenössischen österreichischen Regisseure zu nennen, bewegt sich in seinem Werk immer an der Grenze zwischen Fiktion und Nichtfiktion. Ähnlich bei Michael Haneke, wenn auch unter anderen Vorzeichen.
Sandra Wollner: Ich würde die beiden nun nicht als meine direkten filmischen Vorbilder bezeichnen, aber natürlich bin ich mit ihren Filmen aufgewachsen und wurde durch sie geprägt. Und der österreichische Film hat nun einmal diesen Stempel. Auch wenn es darum geht, Abgründe zu bedienen. Ich frage mich allerdings, inwiefern das auch einen ganz pragmatischen Aspekt hat, dass z. B. die österreichischen Förderstellen entsprechende Film eher zulassen als die deutschen, wo andere Filme stilbildend wirken. Man weiß bei den relevanten Gremien mittlerweile, dass diese Filme funktionieren, dass es dafür ein Publikum gibt, und entsprechend wird auch mehr gefördert.
ZFF: Ihr Film behandelt mit einem minderjährigen Sexroboter ein skandalträchtiges Thema. Tatsächlich hat der Film dann auch für einen kleinen Skandal gesorgt, als das Melbourne Film Festival, wo er ursprünglich hätte laufen sollen, ihn wieder aus dem Programm genommen hat, weil zwei Psychologinnen ihn als »child exploitation material« bezeichnet haben. Inwiefern waren Sie sich dessen beim Schreiben bewusst und haben mit derartigen Reaktionen gerechnet? Und wie sehr mussten Sie sich in gewissen Moment zurücknehmen und Selbstzensur üben?
Sandra Wollner: Selbstzensur gab es schon, aber weniger, weil ich Angst vor Reaktionen von außen hatte. Es war viel mehr eine Auseinandersetzung mit mir selbst. Ich habe lange geglaubt, dass ich den Film mit einer erwachsenen Schauspielerin machen würde. Ich habe mir dabei effektiv in die Tasche gelogen, weil ich Angst davor hatte, mich damit auseinanderzusetzen, was es bedeutet, hier mit einem Kind zu arbeiten. Tatsächlich ist am Set nichts geschehen, das auch nur entfernt sexuell war, das wurde alles in der Postproduktion hinzugefügt. Aber das Kind sieht den Film später irgendwann, und das ist eine Verantwortung, mit der man umgehen muss.
Einen Skandal, wie er sich dann um das Melbourne Film Festival abgespielt hat, habe ich dagegen nicht erwartet. Ich wusste natürlich, dass der Film provoziert, ich habe aber nicht damit gerechnet, dass wir die kleine Film-Bubble je verlassen würden. Ich dachte, Trouble würde an kleinen Festivals vor einem Publikum laufen, dass solche Filme gewohnt ist und nicht gleich mit Fackeln aufmarschiert. Es war für uns sehr überraschend, dass wir aus dieser Blase rauskamen und plötzlich in diversen Internet-Foren und schließlich sogar auf Infowars, der Verschwörungstheorie-News-Site von Alex Jones, ein Thema waren. Man muss zur Verteidigung des Melbourne Film Festivals allerdings anmerken, dass dies im ersten Corona-Jahr geschah, als das Festival online stattfand. Für ein Festival, bei dem normalerweise eine überschaubare Anzahl von Zuschauer:innen eigens anreist, um sich ein kuratiertes Programm anzuschauen, ist das eine ganz neue Situation. Da weiß man nicht mehr, wer sich diesen Film anschaut.
Um auf die Selbstzensur zurückkommen: Die Frage, wen das schockieren könnte, hat mich weniger beschäftigt. Mir ging es vielmehr darum, was ich selbst aushalte. Man geht beim Schreiben in etwas hinein, was dann sehr unangenehm wird. Es ist nicht angenehm, eine Szene wie den Dialog zwischen Elli und Georg am Pool zu schreiben; selbst wenn da oberflächlich gar nicht viel passiert. Ich denke, hier fand insofern eine Selbstzensur statt, als ich selbst gewisse Dinge auch nicht sehen möchte.
ZFF: Und wie war das an der Schule? Hatten Sie dort keine Probleme mit diesem doch eher ungewöhnlichen Stoff?
Sandra Wollner: Das war erstaunlicherweise nie ein Thema; auch nicht mit den Redakteur:innen. Aber das hängt wohl damit zusammen, dass Trouble jenseits der Genre-Hülle an meinen ersten Film Das unmögliche Bild anknüpft. Ich konnte wohl gut vermitteln, dass ich im Grunde eine Weiterführung des ersten Films mache – einfach in einem ganz anderen Format. Das fanden die alle interessant, und entsprechend gab es auch keinen Widerstand.
ZFF: Wie geht es nun weiter? Arbeiten Sie an einem neuen Film?
Sandra Wollner: Wir drehen nächstes Jahr meinen neuen Film Everytime. Es ist der Versuch, ein sozialrealistisches Drama zu erzählen, das allmählich durch einen Todestrip unterwandert wird. Sandra Hüller wird eine Mutter spielen, deren Tochter ein Jahr zuvor während eines Trips von einem Berliner Hochhaus gefallen ist. Das Bild, das wir sehen, soll an »The Falling Man« erinnern, dieses berühmte Bild eines Mannes, der bei den Anschlägen von 9/11 vom World Trade Center stürzt. Wir sehen, wie die junge Frau fällt, sich überschlägt und gar nicht gewahr wird, dass sie in den Tod stürzt. Sie ist vielmehr euphorisch und lacht. Ein Jahr später freundet sich die Mutter dann mit dem Jungen an, dem die ganze Welt die Schuld am Tod ihrer Tochter gibt. Eine merkwürdige Beziehung aus Abhängigkeiten entsteht, aus denen sie bis zum Schluss nicht herauskommen. Dies wäre das sozial-realistische Drama, das dann aber einen unerwarteten Dreh erhält, weil die Tochter tatsächlich irgendwie zurückkehrt. Das zeigt sich zuerst nur an kleinen Dingen wie der Art, wie sich die Mutter durch die Haare fährt oder auf einmal Dinge weiß, die nur ihre Tochter wusste. Letztlich ist Everytime auch ein Film über eine Seele, die durch die Welt wandert, die sich aber nicht festhalten lassen möchte, die nicht die gleichen Sentimente teilt wie die Menschen, die sie zurückgelassen hat.
ZFF: Sie haben zwar mehrfach das Attribut »sozialrealistisch« verwendet, aber auch dieser Stoff hat einen deutlich phantastischen Einschlag. Gehört das bei Ihnen einfach dazu?
Sandra Wollner: Es sind einfach immer diese Fragen, die mich umtreiben. In diesem Fall geht es um das Konzept der Seele, also diese Idee, dass es so eine Art Paket gibt, das in einen Menschen hineinfährt. Mir scheint diese Vorstellung vollkommen absurd, aber ich reibe mich daran und versuche, dies formal umzusetzen. Daneben arbeite ich noch einem Urzeit-Horror-Film, der im Paläolithikum spielt und davon handelt, wie die Geister in die Welt kamen.
ZFF: Urzeit-Horror ist noch kein wirklich etabliertes Genre.
Sandra Wollner: Mich fasziniert diese Idee sehr. Wie ist das in einer Zeit, in der es noch gar keine Zivilisation gibt, mit der Angst vor dem Unbekannten? La Guerre du feu (Am Anfang war das Feuer, CA/FR/US 1981, Regie: Jean-Jacques Annaud), der in der Steinzeit spielt, finde ich großartig. Allerdings scheitern viele Filme, die in prähistorischen Zeiten spielen, am Umgang mit der Sprache. Ich glaube, man müsste da mit einer Zeichensprache und mit viel Beobachtung arbeiten.
ZFF: Auch bei diesem Projekt gibt es wieder diesen Gegensatz zwischen Realismus und Phantastik. Es scheint, als finde sich dieser Übergang zwischen Dokumentarischem und Fiktion, den Sie zu Beginn Ihres Studiums vollzogen haben, auf unterschiedlichen Ebenen in jedem Ihrer Filme. Es geht immer um Zwischenwelten oder Zwischenbereiche.
Sandra Wollner: Ich habe mir das bisher nie so klar überlegt, denn ich verfolge ja keinen Plan. Aber ich glaube, das stimmt tatsächlich. Es ist schon so, dass mir die Wirklichkeit allein nicht ausreicht, dass dahinter immer noch etwas sein muss. Wobei ich Filme liebe, die die Wirklichkeit porträtieren. Ich bin eine große Anhängerin der Dokumentarfilm-Tradition des Direct Cinema. Ich denke, bei mir kommt vieles aus dem Schreiben. Da wandern der Kugelschreiber oder die Tastatur irgendwohin und es bilden sich Sätze, die nichts mehr mit der Realität zu tun haben. Deshalb liebe ich das Schreiben. Da passiert etwas.
ZFF: Wie läuft dieser Schreibprozess ab? Wie filmisch ist Ihr Denken zu diesem Zeitpunkt, denken Sie bereits in Filmszenen?
Sandra Wollner: Mein Schreiben ist immer sehr bildhaft. Ich gehe jeweils von Szenen aus oder einem Gefühl, das ich in der Szene erschließe. Das ist in meinem Kopf immer schon komplett da, oft auch mit Tönen sowie einem Gefühl dafür, wo die Kamera stehen wird. Ich gehe meist von ein paar Kernbildern aus. Bei Trouble war mir schon sehr früh klar, wie sich das Intro anfühlen muss, wie sich die Kamera bewegt und dass Elli in das Bild hineinläuft. Beim unmöglichen Bild war es die Kamera, die herumwandert. Von diesen Kernbildern gehe ich aus. Wenn ich dann im Drehbuchformat schreibe, entsteht fast automatisch eine Kausalität: Diese Aktion hat diese Konsequenz und daraus folgt dann das Nächste. Aber dieser Prozess setzt seltsamerweise erst ein, wenn ich in der Drehbuchform bin. Bei Trouble war beispielsweise schon früh klar, dass es diesen zweiten Teil mit der Großmutter und dem Hund geben und wie dieser ausgehen wird. Dass es zwischen den beiden Teilen einen deutlichen Bruch gibt, wurde mir aber erst während des Schreibens klar.
ZFF: Die Bilder von Trouble sind sehr präzise gestaltet. Wie gehen Sie hier vor? Ist das alles gestoryboarded, oder entwickeln Sie das während des Drehs?
Sandra Wollner: Ich habe noch nie mit Storyboards gearbeitet. Es gibt, wie gesagt, Bilder, die von vornherein feststanden, wie zum Beispiel der Anfang, die Szenen am Pool, oder wenn der Roboter durch den Wald geht. Da wusste ich bereits beim Schreiben, wie das aussehen soll. Die Produktion war bei diesem Film sehr schnell; von der ersten Idee bis zum Drehbeginn verging lediglich ein Jahr. In dieser Zeit habe ich mit meinem Kameramann Timm Kröger fortlaufend über die visuelle Gestaltung gesprochen.
Zu Beginn war mein Konzept sehr dogmatisch. Die Grundidee war, dass die Geschichte quasi aus der Perspektive einer Maschine erzählt wird, und ich habe mir Gedanken dazu gemacht, wie man das umsetzen könnte. Wie würde eine nicht-menschlich geführte Kamera aussehen? Wären das alles Tableaus, wäre das ein Überwachungskamera-Look oder alles mit subjektiver Kamera? Schließlich wurde mir klar, dass das aber so nicht funktioniert, dass die Bilder aus der Erzählung entstehen müssen. In der Folge habe ich mein eigenes Dogma über den Haufen geworfen. Timm Kröger und ich arbeiten schon lange zusammen und kennen uns so gut, dass wir meist das Gleiche sehen. Beim Dreh ist es immer eine Mischung: Gewisse Dinge sind genau durchchoreografiert, weil ich weiß, dass ich sie auf jeden Fall benötige. Bei anderen Szenen finden wir das richtige Bild erst beim Dreh. Zum Beispiel diese Szene, als Georg am Pool steht und der Nebel aufzieht. Wir waren eigentlich mit einer ganz anderen Szene beschäftigt, aber plötzlich kam dieser Nebel um den Pool. Das Team muss flexibel genug sein, um dann in dem Moment in die Richtung zu laufen. Dann ist das wunderbar.
ZFF: Sie haben zu Beginn Under the Skin als eine Ihrer Referenzen erwähnt. Inwiefern war dieser Film auch akustisch ein Vorbild? Beide Filme haben ein sehr komplexes, charakteristisches Sound Design und versuchen gewissermaßen, uns die Welt mit »unmenschlichen Ohren« erfahrbar zu machen.
Sandra Wollner: Mica Levi, von der die Musik zu Under the Skin stammt, bewundere ich sehr; auch unabhängig von Jonathan Glazers Film. Generell höre ich beim Schreiben viel Ambient und Noise, aber keine Musik mit Texten, da mich das ablenkt. Ich habe ganz allgemein ein Faible für Geräusche, was möglicherweise einem seit zwanzig Jahren anhaltenden Tinnitus geschuldet ist. Ich höre oft nur Geräusche und Atmos, der Klang der Welt fasziniert mich. Das ist sicher ein Grund, weshalb wir an der Tonspur sehr gefeilt haben. Das war aber nie ein Selbstzweck, oder dass wir zum Beispiel Under the Skin kopieren wollten, sondern hat sich vielmehr logisch aus der Frage ergeben, wie die Figur von Elli die Welt hört. Ich habe mir schon beim Schreiben vorgestellt, dass dieser Roboter das Chaos hinter der bereits geordneten Realität hört, die wir wahrnehmen, sozusagen ein Ur-Rauschen. Dieses Wesen kann alles hören und hat deshalb auch viel mehr Lärm um sich.
Die Klänge sind bei mir immer von Anfang an schon da. Im Drehbuch ist der Auftakt bereits beschrieben; wie sich die Musik anfühlen soll, wie sich aus diesen technisch klingenden Soundschnipseln langsam der Klang der Grillen herausschält. Gemeinsam mit dem phantastischen Musiker Peter Kutin habe ich das dann über den Film hinweg langsam aufgebaut.
ZFF: Eine abschließende Frage: Es ist wahrscheinlich ein Klischee, aber man hört von Autorinnen, Regisseuren etc. immer wieder, dass sie alle ihre Figuren lieben, ja lieben müssen, selbst die Bösewichte. Wie ist das bei einer Figur wie Elli, die sich gerade durch Empathielosigkeit auszeichnet?
Sandra Wollner: Elli ist ja eine reine Projektion, sie ist immer das, was ihre Umgebung in ihr sehen will. Als das habe ich sie beim Schreiben auch betrachtet und hatte dementsprechend kein Mitleid mit ihr. Sie war für mich nie eine Figur mit einer eigenen Persönlichkeit, mit der man mitfiebert, sondern primär ein Spiegel der anderen Figuren. Über sie konnte ich aber Empathie für die anderen Figuren empfinden; auch für jemanden wie Georg. Als ich dann die Aufnahmen sah, war ich allerdings überrascht, dass ich dennoch mit ihr mitfühlte. Sobald diese Figur von einem realen Kind dargestellt wird, kann man sich dem einfach nicht vollständig entziehen.
Notes
- Die Begriffe ›Roboter‹ und ›Androide‹ werden hier synonym verwendet. [^]
- Ich folge Ruges grundlegender Argumentation, nehme im Vergleich zu seinem Modell aber Vereinfachungen vor. [^]
- Ein wesentlicher Grund für diese fehlende Anteilnahme dürfte sein, dass weder Gort noch Robby über eine expressive Mimik verfügen, an der sich Emotionen ablesen lassen. Dies zeigt sich deutlich in einem direkten Vergleich mit WALL·E, der zwar ebenfalls eine Maschine ist, dessen ›Kamera-Augen‹ aber sehr ausdruckstark sind. [^]
Autor
PD Dr. Simon Spiegel ist Senior Researcher und Privatdozent am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich. Er ist Chefredakteur der Zeitschrift für Fantastikforschung und schreibt regelmäßig für diverse Publikationen über Film und verwandte Themen. Ausgewählte Publikationen: Utopias in Nonfiction Film (London: Palgrave 2021), Bilder einer besseren Welt. Die Utopie im nichtfiktionalen Film (Marburg: Schüren 2019), Utopia and Reality. Documentary, Activism and Imagined Worlds (Mitherausgeber, Cardiff: University of Wales Press 2020). Theoretisch phantastisch (Murnau: p.machinery 2010), Die Konstitution des Wunderbaren (Marburg: Schüren 2007).
Konkurrierende Interessen
Simon Spiegel ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Fantastikforschung.
Filmografie
2001: A Space Odyssey (2001: Odyssee im Weltraum). Regie: Stanley Kubrick. GB/US 1968.
A.I. Artificial Intelligence (A.I. – Künstliche Intelligenz). Steven Spielberg. US 2001.
Androdid (Der Android). Regie: Aaron Lipstadt. US 1982.
Aniara. Regie: Pella Kågerman, Hugo Lilja. SW/DK 2018.
Au hasard Balthazar (Zum Beispiel Balthasar). Regie: Robert Bresson. FR 1966.
Blade Runner (Der Blade Runner). Regie: Ridley Scott. US 1982.
Everything Everywhere All At Once. Regie: Daniel Kwan, Daniel Scheinert. US 2022.
Forbidden Planet (Alarm im Weltall). Regie: Fred M. Wilcox. US 1956.
Ghost in the Shell. Regie: Mamoru Oshii. JP 1995.
High Life. Regie: Claire Denis. FR/DE/PL/GB/US 2018.
La Guerre du feu (Am Anfang war das Feuer). Regie: Jean-Jacques Annaud. CA/FR/US 1981.
Little Joe (Little Joe – Glück ist ein Geschäft). Regie: Jessic Hausner. AT/DE/GB 2019.
Louis und Luk. Regie: Sandra Wollner. DE 2014.
Short Circuit (Nummer 5 lebt). Regie: John Badham. US 1986.
The Day the Earth Stood Still (Der Tag, an dem die Erde stillstand). Regie: Robert Wise. US 1951.
The Matrix (Matrix). Regie: Larry Wachowski, Andy Wachowski. US/AU 1999.
The Terminator (Terminator). Regie: James Cameron. US 1984.
Under the Skin (Under the Skin – Unter die Haut). Regie: Jonathan Glazer. GB/US/CH 2013.
Das unmögliche Bild. Regie: Sandra Wollner. AT/DE 2018.
WALL·E (WALL·E – Der Letzte räumt die Erde auf). Andrew Stanton. US 2008.
Zitierte Werke
Ruge, Wolfgang: Roboter im Film. Audiovisuelle Artikulationen des Verhältnisses zwischen Mensch und Technik. Ibidem, 2012.
Telotte, J. P.: Replications. A Robotic History of the Science Fiction Film. University of Illinois Press, 1995.
Telotte, J. P.: Robot Ecology and the Science Fiction Film. Routledge, 2016. DOI: http://doi.org/10.4324/9781315625775