Untersuchungen zum Fortleben des Mittelalters bzw. dessen Literatur und Kunst in den literarischen und künstlerischen Produkten der Neuzeit sind kein Novum. Die Forschungsrichtung des Medievalism und seiner Varianten wie Neo-medievalism etc. haben ihre eigenen Publikationsorgane (z. B. Studies in Medievalism) und sind auf internationalen Konferenzen wie dem International Medieval Congress (Leeds) oder dem International Congress on Medieval Studies (Kalamazoo) sowohl mit zahlreichen Papers wie auch mit eigenen Sektionen vertreten. Auch in unserem Nachbarland Frankreich besteht ein reges Interesse an der Kontinuität mittelalterlicher Themen, wie die Aktivitäten und Publikationen der Mitglieder von z. B. Modernités Médiévales zeigen. Nur die deutschsprachige Forschung scheint etwas hinterher zu hinken. Dies ist jedenfalls die Meinung der Herausgeber des vorliegenden Bandes und Hans Rudolf Velten beklagt, dass »eine nähere Beschäftigung der Mediävistik mit dem Thema bisher nur vereinzelt und in kursorischer Form auszumachen [ist], nimmt man die reiche Forschungsliteratur zu den Werken Tolkiens einmal aus« (11). Damit hat er auf eine Besonderheit in der Forschungslandschaft hingewiesen, die tatsächlich zugleich ein Problem und eine Herausforderung darstellt: die Dominanz der Tolkienstudien auf dem Gebiet der Mittelalterrezeption in der Fantasy. Die Ursachen dafür sind vielfältig, aber der Hauptgrund dürfte in der zentralen Stellung des Romans The Lord of the Rings innerhalb des Fantasy-Genres liegen – mit dem Resultat, dass sich ein großer Teil der Forschungsanstrengungen auf dem Gebiet auf Tolkiens Werk konzentriert. Ob sich z. B. durch die immer zahlreicheren akademischen Publikationen zu George R. R. Martins Werk und dessen Filmadaptationen in Zukunft ein zweites vergleichbares Schwergewicht in diesem Feld etablieren wird, ist abzuwarten.
Es ist vor diesem Hintergrund, dass die Aussage von Velten zu verstehen ist. Konsequenterweise sind die Aufsätze des Sammelbands auch nicht nur auf Deutsch, sondern fokussieren teilweise zudem deutsche Autoren (Ende, Heitze, Krappweis, Rehfeld), auch wenn die Beiträge zu englischsprachigen Autoren in der Überzahl sind. Dabei werden nicht nur die üblichen Verdächtigen Tolkien, Martin und Pratchett behandelt, sondern auch Neil Gaiman, dessen American Gods vielleicht nicht unbedingt als typische Fantasy gilt, aber gerade deshalb für die Weiterentwicklung des Genres von Interesse ist.
In seiner Einführung zum Band gibt Hans Rudolf Velten nicht nur den ›klassischen‹ Forschungsüberblick zum Thema, sondern versucht auch einen theoretischen Rahmen für die vorliegenden Beiträge einerseits wie auch für zukünftige Forschung anderseits zu skizzieren. Dies macht er anhand von sieben Thesen. Ich kann sie hier nicht im Detail vorstellen, wohl aber meinen Versuch, die zwölf Aufsätze jeweils einer der Thesen zuzuordnen. Dabei habe ich festgestellt, dass es eine Massierung bei den Thesen drei (»Fantasyromane bieten Inszenierungen des Anderen und Fantastischen, die im offenen Raum des Mittelalters ihren Platz finden können.«) und vier (»Wiedererkennbarkeit des Mittelalters in der Fantasyliteratur durch Mythen, Archetypen, Erzählformen.«) gibt – mit jeweils drei bzw. vier bis fünf Papers. Dies scheint mir kein Zufall und für die Beurteilung der Relevanz der sieben Thesen nicht unwichtig. Schon beim ersten Lesen hatte ich nämlich den Eindruck gewonnen, dass nicht alle der Thesen gleich bedeutsam sind und sich manche überschneiden bzw. Elemente miteinander teilen. Die Popularität der Thesen drei und vier unter den BeiträgerInnen des Bandes spiegelt meiner Meinung nach durchaus deren Verbreitung in den diskutierten Primärwerken. Die weitere Auseinandersetzung mit dem Themenbereich wird dann zeigen müssen, inwiefern die Thesen revidiert, ergänzt oder auch aufgegeben werden müssen.
Kategorisiert man die zwölf Beiträge nach ihren Schwerpunkten, so ist die größte Kategorie, mit neun Aufsätzen, diejenige der Adaptation von mittelalterlichen Motiven und Konzepten. Sie beinhaltet auch die Papers, welche die intertextuellen Verflechtungen mittelalterlicher Erzählstoffe mit zeitgenössischen Handlungssträngen untersuchen. Die Gruppe der Vergleiche von mittelalterlichen und modernen Erzählstrategien umfasst zwei Beiträge. Die letzte Kategorie zählt nur ein Paper, das den Einfluss zeitgenössischer Ideologeme auf die ›mediävisierenden‹ Texte analysiert. Ich möchte deshalb in umgekehrter, quantitativ aufsteigender Reihenfolge auf die einzelnen Kategorien eingehen.
Der alleinige Vertreter der letztgenannten Kategorie ist Nils Werber, der in seinem Aufsatz Tolkiens The Lord of the Rings vor dem Hintergrund der in den 1930er- und 1940er-Jahren vorherrschenden geobiologischen Ideologie liest. Ein solcher Ansatz kann sehr aufschlussreich sein und hilft die eigenen zeitgenössischen Scheuklappen zu überwinden. Voraussetzung ist jedoch eine sorgfältige und genaue Lektüre des Primärtextes und die Bereitschaft, die eigene Ausgangshypothese zu revidieren, sollte diese nicht durch die Analyse gestützt werden. Leider ist bei Werber weder das eine noch das andere der Fall. Sein Text enthält kleinere und größere Ungenauigkeiten und Fehler. So sei Frodo Bilbos Neffe (97; er ist sein Cousin), Orks sprächen »immer wieder von sich selbst als ›maggots‹ und ›rats‹« (107; korrekt wäre, dass diese Beschimpfungen Ausdruck der zwischen den verschiedenen Orkstämmen herrschenden Rivalität sind [cf. The Two Towers, Buch 3, Kapitel 3] und kein anständiger Ork würde sich selbst oder seine Kameraden so beleidigen), oder Orks würden »jedem Befehl« gehorchen (108; der Autor hat wohl das sehr aufschlussreiche Gespräch zwischen den beiden Ork-Offizieren Schagrat und Gorbag [vgl. The Two Towers, Buch 4, Kapitel 10], das einen ziemlich anderen Blick auf die Orks und ihre Lage gibt, überlesen. Auch kann man sich fragen, wieso es einen Ork-Unteroffizier mit Peitsche braucht, um die Orksoldaten zu ›motivieren‹ [vgl. The Two Towers, Buch 6, Kapitel 2]). Werber malt in seinem Aufsatz ein Bild von den Orks und den anderen Völkern, das nicht so sehr auf Tolkiens Text selbst beruht als vielmehr auf einer nicht mehr so ganz genauen Erinnerung an die Lektüre, gepaart mit einer Dosis Peter Jackson. Das Ganze wird dann durch den Filter der eigenen zu beweisenden Hypothese gesehen, so dass The Lord of the Rings als Text präsentiert wird, der die Rassen- und rassistischen Ideologien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumindest unbewusst verkörpere. Eine Auseinandersetzung mit dieser Problematik wäre sicher sinnvoll, aber nicht auf diese Art und Weise.
Glücklicherweise sind solche Entgleisungen in anderen Beiträgen nicht festzustellen. Hans-Heino Ewers Aufsatz über Michael Endes Die unendliche Geschichte hat zwar wenig mit dem Mittelalter direkt zu tun, doch gelingt ihm über den Umweg und mit Hilfe von Tolkiens »On Fairy-Stories« eine überzeugende Analyse von Endes Grundanliegen. Dies ist laut Ewers eine »Wiederverzauberung« der Welt durch eine neue Mythologie, die jedoch »auf innere Vorstellungswelten, auf die Kunst und die Künste beschränkt bleibe« (180) und somit einen Missbrauch in der Primärwelt ausschließe. Parallelen zu Tolkiens »Enchantment« und »Recovery« sind nicht zu übersehen.
Den Übergang zur größten Kategorie bildet Corinna Virchows Aufsatz, in dessen ersten Teil das Spiel zwischen Verhüllen und (teilweiser) Entblößung anhand von Enite (in Hartmanns Erec) und Jeschute (in Wolframs Parzival) gekonnt und kompetent analysiert wird. Leider fällt die Diskussion von Parallelen in C. S. Lewis’ The Chronicles of Narnia (die Hexe Jadis), Michael Endes Die unendliche Geschichte (Atréju) wie auch in Martins A Game of Thrones (Daenerys) verkürzt und flach aus. Hier wäre eine Fokussierung auf Daenerys unter Berücksichtigung mehrerer Bände von A Song of Ice and Fire oder auch der Filmadaptation wünschenswert gewesen und hätte zum Diskurs über Martins Darstellung weiblicher Protagonistinnen etwas Substanzielles beitragen können. So jedoch fehlt dem Aufsatz die Balance zwischen einem hochstehenden ersten mediävistischen und einem enttäuschenden zweiten Teil.
Das Motiv des Ritters steht im Zentrum der Beiträge von Nathanael Busch und Anja Müller. Während Busch mittels einer überzeugenden Funktionsanalyse den Ritterbegriff von seiner terminologischen Verhaftung löst und dadurch zu einer gerade für die Fantasy nützlichen funktionalen Definition des Ritters kommt, kontrastiert Anja Müller nicht nur das mittelalterliche Rittertum mit der ritterlichen Ideologie in Martins A Song of Ice and Fire, sondern zeigt auf, wie gelehrte Theorien (Norbert Elias’ Über den Prozess der Zivilisation) auch in der Sekundärwelt wirkungsmächtig sind. Dabei spielt es keine Rolle, ob Elias’ Theorie die realweltlichen Entwicklungen korrekt erfasst oder nicht (cf. die fundamentale Kritik durch Hans Peter Duerr). Vielmehr kommt es darauf an, dass die Entwicklung des Rittertums in Westeros den gleichen Parametern folgt, wie sie Elias vor fast 80 Jahren für das europäische Rittertum beschrieb. Müllers Beitrag weist deshalb mit diesem Ansatz über die vorherrschende komparatistische Praxis hinaus und ist einer der Höhepunkte des Bandes.
Dass ein solch komparatistischer Ansatz durchaus zu einem äußerst gelungenen Aufsatz führen kann, beweist Hans Rudolf Velten. Er vollbringt das Kunststück innerhalb von knapp 18 Seiten nicht nur eine kritische Diskussion der verschiedenen theoretischen Konzepte und ihre Eignung für die Analyse vorzustellen, sondern gibt auch einen prägnanten und kompetenten Überblick über die Erscheinungsformen der Zwerge in den verschiedenen literarischen Gattungen und Traditionen. Auf dieser Grundlage analysiert er dann die Weiterentwicklung der »zwergischen Archetypen« in den Werken von Tolkien, Heitze und Rehfeld. Bei Tolkien wäre vielleicht noch Renée Vinks Aufsatz »›Jewish‹ Dwarves: Tolkien and Anti-Semitic Stereotyping« (2013) zu berücksichtigen gewesen, was jedoch dem insgesamt sehr interessant und erfreulich zu lesenden Aufsatz keinen Abbruch tut.
Einen weiteren Höhepunkt stellte für mich Matthias Däumers spannende Spurensuche zur Figur des Attila/Etzel und seiner Rezeption und Adaption in Literatur und Film bis hin zur Figur des Khal Drogo dar. Es war ein glücklicher Zufall, dass ich unmittelbar davor Harald Reinls DIE NIBELUNGEN (DE 1966–67) gesehen hatte, aber auch ohne die Kenntnis von Reinls Klassiker zeigt der sehr nachvollziehbar Aufsatz auf, wie die Figur des historischen Attila bereits kurz nach seinem Ableben Stoff der Legendenbildung wurde, dann mit anderen Erzählstoffen verschmolz und im Etzel der Nibelungen-Erzählung mündete. Für die Figur von Khal Drogo greift George R. R. Martin deshalb nicht so sehr auf historische Quellen zurück, so Däumers Fazit, sondern auf die mit der Attila/Etzel-Figur verbundenen literarischen Topoi und Elemente, wie sie in mittelalterlichen und post-mittelalterlichen Texten und Filmen anzutreffen sind.
Der Nibelungenmythos ist auch der intertextuelle Bezugsrahmen für Tommy Krappweis’ Mara-und-der-Feuerbringer-Trilogie. Andrea Sieber geht in ihrem Aufsatz auf die unterschiedlichen Strategien der intertextuellen Bezugnahme ein und liefert ein solides close reading des Werks. Niels Penkes Diskussion von Neil Gaimans American Gods, dem Kinderbuch Odd and the Frost Giants sowie seiner Norse Mythology untersucht zwar ebenfalls die Art und Weise der Rezeption dieser (alt-)nordischen Stoffe in Gaimans drei sehr unterschiedlichen Werken, doch geschieht dies im Rahmen einer theoretischen Metareflexion. Penkes kommt zum Schluss, dass Gaiman als postmoderner Autor sich nicht so sehr für die »Wiederbringung einer verlorenen, homogen geglaubten Kultur interessiert, sondern einzig und allein den ›good stories‹ nachspürt« (217). Damit rückt er Gaimans Umgang mit mythischen und literarischen Elementen in die Nähe von Tolkiens »Cauldron of Stories«, auch wenn sich die ›Suppen‹ der beiden Autoren zumindest oberflächlich unterscheiden.
Tiere bzw. nichtmenschliche Kreaturen bilden das verbindende Glied zwischen den verbleibenden Beiträgen. Theresa Specht geht in ihrer Diskussion der Schattenwölfe (direwolves) in Martins A Song of Ice and Fire einerseits dem Motiv des Seelentiers, anderseits der mit dem Fenriswolf verknüpften (Welt-) Untergangssymbolik nach. Wie Specht anhand von vor allem altnordischen Texten aufzeigt, knüpft Martin damit an mittelalterliche Traditionen an. Leider wird das in allen germanischen Dichtungen anzutreffende Motiv der »Tiere der Walstatt« (beasts of battle), zu denen nebst dem Raben und dem Adler auch der Wolf gehört, nicht erwähnt. Dies ist schade, denn es hätte die Textgrundlage über die altnordischen Quellen hinaus erweitert und dem Argument zusätzliches Gewicht verliehen.
Die Beiträge von Christine Theillout sowie Sebastian Holtzhauer und Angila Vetter haben beide den Drachen bzw. den Drachenkampf als Thema. Holtzhauer und Vetters Aufsatz ist im Kern ein close reading von Terry Pratchetts Scheibenwelt-Roman Guards! Guards!, in dem er in gewohnt parodistisch-intertextueller Manier literarische Klischees auf die Schippe nimmt. Die Bemühungen des Autorenpaars die unterschiedlichen Versatzstücke zumindest teilweise auf Elemente aus der mittelalterlichen Literatur zurückzuführen sind nur bedingt sinnvoll. Meiner Meinung nach nimmt Pratchett vielmehr bereits über mehrere Literaturgenerationen tradierte und zu Allgemeinplätzen ›verkommene‹ Motive und Elemente auf und parodiert sie. Wenn schon eine direkte Quelle dafür gesucht wird, dann ist ein Blick in die moderne Fantasy ratsam, aber nicht primär in die mittelalterliche Literatur. Abgesehen von diesem Kritikpunkt bietet der Beitrag jedoch eine überzeugende Analyse von Pratchetts Spiel mit der narrativen Kausalität.
Vollständig dem Drachen gewidmet ist Christine Theillouts Aufsatz, der mit 36 Seiten der längste im Band ist. Im ersten Teil wagt Theillouts einen Überblick zur Figur des Drachen allgemein, was durch die Limitierung des Platzes nicht sehr befriedigend ausfällt. Dafür entschädigt der zweite Teil durch eine kompetente und die unterschiedlichsten Ansätze berücksichtigende Interpretation ausgewählter mittelalterlicher und moderner ›Drachentexte‹. Theillout konzentriert sich auf prominente Klassiker wie den Beowulf-Drachen oder Fafnir für die mittelalterliche Literatur bzw. auf die DRAGONHEART-Filme und Tolkiens Glaurung und Smaug für die Fantasy, berücksichtigt jedoch auch die nicht-literarische enzyklopädische Tradition und die allegorischen Interpretationen der Drachenfigur. Dadurch gelingt es ihr, die vielschichtige Komplexität der Drachenfigur sowohl in der mittelalterlichen Literatur wie auch in der von ihr profitierenden modernen Fantasy aufzuzeigen.
Insgesamt kann ich die Lektüre der meisten Aufsätze dieses Bandes empfehlen. Die Texte sind sorgfältig lektoriert und recherchiert – und es ist wünschenswert, dass sie auch jenseits des deutschen Sprachgebiets rezipiert werden.
Autor
Thomas Honegger promovierte 1996 mit einer Studie zu Tieren in der mittelalterlichen Literatur Englands an der Universität Zürich. Seine Habilitationsschrift (2001) behandelt die Interaktion zwischen höfischen Liebenden in der mittelalterlichen erzählenden Literatur. Er betreute mehrere Sammelbände mit Aufsätzen zur alt- und mittelenglischen Literatur sowie zum Werk von Prof. Tolkien als Herausgeber und hat darüber hinaus zu Chaucer, Shakespeare und den mittelalterlichen Romanzen publiziert. Seine neuste Buchpublikation ist Introducing the Medieval Dragon (University of Wales Press, 2019). Seit 2002 ist er Professor für anglistische Mediävistik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Konkurrierende Interessen
Der Autor hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.
References
Zitierte Literatur
Vink, Renée. »›Jewish‹ Dwarves: Tolkien and Anti-Semitic Stereotyping«. Tolkien Studies 10 ( 2013): 123–145. DOI: [doi: 10.1353/tks.2013.0003]