Es gab bisher keine zusammenfassende Darstellung, die sich auf den deutschen Zukunftsroman und seine direkte Nachfolgerin, die deutschen Science Fiction konzentriert. Nur Manfred Nagls Science Fiction in Deutschland (1972) könnte als solcher Versuch angesehen werden, doch die selektive Darstellung der Texte und die stark marxistische Sichtweise des Autors zehren am wissenschaftlichen Wert dieser Veröffentlichung.
Diese Leerstelle in der Sekundärliteratur erstaunt, denn an mangelnder Wirkungsmächtigkeit eines Kurt Laßwitz, Hans Dominik, Herbert W. Franke oder Walter Ernsting auf dem Buchmarkt kann das nicht liegen – alle waren zu ihrer Zeit bekannt und populär und sind es zum Teil noch heute. Namen wie Alfred Döblin, Ernst Jünger oder Arno Schmidt zeigen, dass es immer wieder Autoren gab, die die Potenziale des Genres erkannt und sich nicht gescheut haben, sich seiner zu bemächtigen.
Hans Esselborns Die Erfindung der Zukunft in der Literatur. Vom technisch utopischen Zukunftsroman zur deutschen Science Fiction ändert dies und füllt damit eine klaffende Lücke der Forschungsliteratur. Esselborn ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln und beschäftigt sich seit den 1980er-Jahren auch mit den Themen Utopie und SF. Er dürfte den meisten Interessierten durch seine Veröffentlichungen als Autor und Herausgeber zum Thema Science Fiction bekannt sein und ist zudem Herausgeber des Gesamtwerkes von Herbtert W. Franke im p.machinery-Verlag.
Einem Übersichtswerk über die Entstehung und Charakteristika des deutschen Zukunftsromans und seiner Entwicklung hin zur deutschen SF stehen gleich mehrere widrige Umstände entgegen: Die in der Literaturwissenschaft schlechte Forschungslage, die große Vielfalt der Literatur, die für sich das Label Science Fiction in Anspruch nimmt, ihre Tendenz, sich mit anderen Gattungen zu vermischen, die große Spanne zwischen einer Masse von trivialen Texten einerseits und philosophisch-literarisch durchformten Texten andererseits sowie die schnelle internationale Entwicklung des Genres.
Angesichts einer sehr großen Anzahl von Primärtexten ist es offensichtlich, dass eine zusammenfassende Darstellung Schnitte ansetzen muss, um nicht auszuufern. Esselborn unternimmt diese Begrenzungen seines Gegenstandes zum einen durch die Fokussierung seiner Arbeit auf die literarisch anspruchsvolleren deutschen Texte, die einen hohen Gehalt an technischen, naturwissenschaftlichen und philosophischen Fragestellungen mit sich bringen; zum anderen beschränkt er die Darstellung des US-amerikanischen Einflusses nach dem Zweiten Weltkrieg auf wesentliche Autoren: Isaac Asimov, Philip K. Dick und William Gibson – Gegenstand des Buches ist schließlich die deutsche SF. Schließlich liegt sein Fokus auf denjenigen Romanen, in denen tatsächlich Technik und Wissenschaft eine Rolle spielen.
Esselborn behandelt in einem ersten Teil die Theorie und Definition der Gattung, um dann in einem zweiten Teil die Entwicklung derselben chronologisch zu analysieren. SF ist bei ihm sowohl der übergreifende Terminus für die Gattung im Allgemeinen als auch im speziellen für die amerikanisch beeinflusste Zukunftsliteratur seit den 1950er-Jahren. Demgegenüber stehen die älteren, auf Jules Verne und H. G. Wells zurückgehenden Zukunftsromane.
Esselborn streift die Bedingungen der Gattung, die sich im 17. und 18. Jahrhundert in der Aufklärung mit dem neuen Bild der Geschichte als »Prozess« (14) etabliert. Der Mensch ist nun aktiver Gestalter und nicht mehr Teil eines göttlichen Heilsplanes. Der technisch-industrielle Wandel des 19. Jahrhunderts legt einen weiteren Baustein der Gattung, die Futurologie einen weiteren. Mit dem Jahr 1900 setzt er den Anfang der modernen Gattung, die sich um die »Konstruktion möglicher Zukünfte im Roman« (26) dreht:
Man kann die Science Fiction als Zukunftsmaschine ansehen, die angetrieben von persönlichen Erwartungen, Wünschen und Befürchtungen fiktive Szenarien in einem Feld von wahrscheinlichen Zukünften produziert, um durch die dramatische Darstellung die Realisierbarkeit und Wünschbarkeit konkreter Möglichkeiten zu testen und zusätzlich den Leser durch ein Probehandeln daran zu gewöhnen. (29)
Dafür schlägt er den Begriff einer »Ästhetik der Zukunft« (30) vor. Im Folgenden diskutiert Esselborn die Definitionen und Konturen der Gattung anhand der bisherigen Forschungsliteratur. Dazu gehören extrem weite Definitionen, die Lukian von Samosata und François Rabelais einschließen, und enge, die nur für die amerikanische SF seit Hugo Gernsback gelten. Mit dem Bezug der Literatur der Zukunft auf Wissenschaft und Technik berührt das Buch eines der kennzeichnenden Kernthemen. SF ist nicht die Popularisierung von Wissenschaft (38), sondern will die »dargestellte Welt mit konkreten Details« ausstatten. Sie kann ein Gedankenexperiment oder Versuchslabor sein (39). Esselborn verweist dabei auf die Zeitgebundenheit des Wissens der Autoren.
Danach wird Darko Suvins Poetik der Science Fiction ausführlich besprochen und die Gattung der Phantastik abgegrenzt, weil »in der Science Fiction das Unbekannte im Kosmos wie im Menschen nach allgemeinen Gesetzen erklärbar sein« muss. (49). Esselborn definiert die Gattung im Anschluss an Suvin folgendermaßen: »Science Fiction ist ein narratives Ausspinnen des Möglichkeitsdenkens auf eine kohärente und konsequente Weise, die eine rationale Erklärung erfordert und ermöglicht« (54). Zudem werden die wichtigsten Motive und Themen – Planetenreisen, Außerirdische, Künstliche Intelligenz – beschrieben.
Mit Jules Verne, H. G. Wells und Kurt Laßwitz beginnt Esselborn die Entwicklungsgeschichte der SF im deutschsprachigen Raum. Sie werden als Meilensteine der frühen Gattung einzeln vorgestellt und die Verdienste herausgehoben: bei Verne, die Aktualisierung der voyage imaginaire, bei Wells die Einführung eines schockierenden Novums (Zeitmaschine, Unsichtbarkeit, Marsianer), bei Laßwitz die Technologie, Philosophie und Ethik. Alle drei definieren – obwohl nur Laßwitz deutschsprachiger Autor war – den deutschen Zukunftsroman und wirken bis ins 20. Jahrhundert hinein.
In chronologischer Reihenfolge bespricht der Autor dann die Entwicklung des deutschen Zukunftsromans und der SF anhand wesentlicher Züge und einiger ihrer herausstechenden Autoren. Weitere Schriftsteller werden genannt und ihr Werk in die von Esselborn konstatierten Strömungen eingeordnet. Für die Vorkriegszeit sind das die Zukunftsromane nach der Art von Jules Verne und Kurd Laßwitz sowie die Werke von Bernhard Kellermann und Paul Scheerbart. Bei der Zukunftsliteratur nach dem Ersten Weltkrieg geht er nicht nur auf die technischen Zukunftsromane ein, sondern auch auf die politischen. Hans Dominik wird als populärer Autor dargestellt. Differenziert geht Esselborn auf den Vorwurf ein, Dominik habe faschistische Zukunftsromane geschrieben. Dazu untersucht er die Position des Autors in den fünf ideologischen Feldern des Faschismus: Militarismus, Nationalismus, Rassismus, Führergedanke und Irrationalismus im Kontext seiner Werke. Nationalistische und rassistische Töne lassen sich laut Esselborn ausmachen, Militarismus, Führergedanke und Irrationalismus spielen hingegen keine große Rolle im Werk des Schriftstellers. Mit Alfred Döblins Berge, Meere und Giganten (1924) schließt er die Zwischenkriegszeit ab.
Mit Arno Schmidt und Ernst Jünger reklamiert Esselborn für die junge Bundesrepublik zwei Autoren für die Gattung, die von der Literaturwissenschaft hin und wieder als Beitragende zur Gattung vergessen werden. Die Gelehrtenrepublik (1957) oder KAFF auch Mare Crisium (1960) sind eben auch SF, was auch für Jüngers Heliopolis (1949) zutrifft. Für die DDR-Literatur stehen Eberhardt del’Antonio, Johanna und Günter Braun und Angela und Karlheinz Steinmüller. Den Übergang von den Motiven und Erzählweisen des Zukunftsromans zur angelsächsisch geprägten Science Fiction setzt Esselborn mit dem Einfluss der ersten Übersetzungen Ende der 1950er-Jahre und mit den Publikationen der Taschenbücher im Goldmann-Verlag und dem Heyne-Verlag ab 1960 an. Isaac Asimov ist hier kennzeichnend. In den 1960er- bis 1980er-Jahren prägen Autoren wie Philip K. Dick und William Gibson die Gattung. Das letzte Kapitel des Buches beschreibt die SF der 1960er-Jahre bis heute. Die Werke wichtiger deutscher SF-Autoren wie u. a. Herbert W. Franke, Carl Amery, Wolfgang Jeschke, Andreas Eschbach, Frank Schätzing, Marcus Hammerschmitt und Dietmar Dath werden analysiert. Eine ausführliche Bibliographie von SF-Literatur und Sekundärwerken beschließt das Buch.
Esselborns Geschichte des deutschen Zukunftsromans bzw. der deutschen SF ist eine Kombination aus theoretischen Grundlagen, Beschreibung der literarischen Entwicklungen über mehr als ein Jahrhundert hinweg und der Analyse von Autoren und Motiven. Er deckt damit einen weiten Bereich literaturwissenschaftlicher Beschäftigungen mit dieser Form der Literatur ab. Durch die chronologische Darstellung der Entwicklung der Gattung werden Zusammenhänge klarer und das Werk vieler Autoren lässt sich gut in ihrer Zeitverhaftetheit oder eben Eigenartigkeit einordnen. Kontinuitäten und Brüche in der Entwicklung des Zukunftsromans werden in Esselborns Buch sichtbar. Literaturwissenschaftliche Diskussionen wie zum Beispiel um die Definition der Gattung werden vorgestellt, wobei der Autor die sehr unterschiedlichen Ansätze der Literaturwissenschaft beschreibt, die Science Fiction entweder als »Massenliteratur« zu verstehen oder sich andererseits auf »anspruchsvolle SF« zu konzentrieren oder Genregrenzen generell zu negieren, sodass SF zu einem Etikett auf einem Buch wird, aber keine Eigenschaften eines Textes mehr beschreibt. Mit Suvin beruft sich Esselborn auf einen Klassiker, dessen Definition sowohl für die Massenliteratur als auch für sogenannte anspruchsvolle SF gilt. Auch hier muss er jedoch die Vielfalt der Umsetzung eines Novums, wie von Suvin postuliert, konstatieren. Das Ergebnis ist ein ausführlicher Themenkatalog des Zukunftsromans und der SF. Am Ende eines jeden Unterkapitels fasst Esselborn die dargestellten literaturwissenschaftlichen Standpunkte oder literarischen Entwicklungen in zusammen, was jedem Leser, der nach einem in ersten festen Boden in diesem vielfältigen Genre sucht, entgegenkommt.
Damit hat Esselborn das geschafft, was eine gute Literaturgeschichte leisten soll: Bezüge herstellen und den Stand des Wissens darstellen.
Den Studierenden der Literaturwissenschaften sei das Buch deshalb besonders ans Herz gelegt: Selten erhält man die Gelegenheit, auf so viel Vorarbeit in einem wenig beachteten aber populären Genre zurückgreifen zu können. Fans der Gattung werden einen Einstieg in die literaturwissenschaftliche Rezeption ihres Lieblingsgenres erhalten. Die Sprache des Werkes ist nicht so fachspezifisch, dass ein interessierter Leser oder eine interessierte Leserin sie nicht verstehen könnten. Die Erfindung der Zukunft in der Literatur vermittelt einen exzellenten Überblick über die Entwicklung der Gattung, über die Autoren und ihr Werk sowie über die wissenschaftliche Diskussion und dürfte für viele zur Anregung werden, weiter zu forschen: Über Autorenbiografien oder Produktionsbedingungen bei Buch- und Heftromanen zum Beispiel oder die Darstellung von zeitspezifischem Wissen in den Romanen.
Die Erfindung der Zukunft in der Literatur ist eine klare Antwort auf eine Lücke in der literaturwissenschaftlichen Literatur. Der Aufbau des Buches ist schlüssig, der Inhalt bildet die wichtigen literaturwissenschaftlichen Diskussionen über den Gegenstand ab und gibt eigene Impulse des Autors. Es wird sicherlich zu einem Standardwerk in der literaturwissenschaftlichen Forschung zu Zukunftsromanen und Science Fiction werden und das nicht nur, weil es die erste Literaturgeschichte der deutschen SF ist.
Autor
Robert Hahn, Jahrgang 1967, Studium der Germanistik, Slavistik und osteuropäischen Geschichte in Köln. Tätigkeit als freier Journalist für Wissenschaftszeitungen sowie als Lektor, Übersetzer und Redakteur. Seit 2011 Wissenschaftsjournalist an der Universität zu Köln mit Schwerpunkt Geisteswissenschaften/Naturwissenschaften. Seit 1998 Forschungsarbeiten zum Diskurs völkischer Zukunftsromane. Beschäftigung mit dem frühen deutschen Zukunftsroman sowie der deutschen Science Fiction nach dem zweiten Weltkrieg. Veröffentlichungen zum Motivinventar in völkischen Romanen.
Konkurrierende Interessen
Der Autor hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.
References
Zitierte Werke
Nagl, Manfred. Science Fiction in Deutschland. Untersuchungen zur Genese, Soziographie und Ideologie der phantastischen Massenliteratur. Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 1972.
Suvin, Darko. Poetik der Science Fiction. Zur Theorie einer literarischen Gattung. Suhrkamp, 1979.