Es war in Zürich 2012, als mir Simon Spiegel und seine Forschung erstmals auffielen. Wir waren von der Konferenzleitung der dritten Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung in dasselbe Panel gesteckt worden und mussten dort feststellen, dass wir für unsere ganz unterschiedlichen Fragestellungen dasselbe empirische Untersuchungsobjekt ausgewählt hatten: das Venus Project Jacque Frescos, bzw. dessen Darstellung in Texten und Filmen. Fresco, der sich schon seit Jahrzehnten mit technokratischen Ideen und sozialtechnischen Entwürfen auseinandergesetzt hatte, betrieb seit den 1990er-Jahren in Venus, Florida, eine Art Showroom für die architektonischen Modelle, die er für sein gesellschaftspolitisches Ideal einer ressourcenbasierten Wirtschaft entworfen hatte. In den Jahren vor der Zürcher Jahrestagung erlangte dieses Venus Project in einigen Medien etwas Bekanntheit. Während es mir, dem Politikwissenschaftler, um den Zusammenhang von utopischen Texten und realpolitischen Projekten ging, suchte Spiegel, der Filmwissenschaftler, nach dem utopischen Film. Realität und Film werden einander gerne gegenübergestellt, wobei dann das Besondere des Films ist, dass er eben nicht real ist. Aber Realität und Film haben auch gemeinsam, dass sich Utopien in ihnen nicht gerade wohl fühlen. Um so elektrisierter waren wir unterschiedlichen Forscher, als wir doch Realitäten bzw. Filme gefunden hatten, in denen Utopisches verwirklicht bzw. eben in eine filmische Form gebracht worden ist. Ich stellte den Zusammenhang zwischen der dem Venus Project zugrundeliegenden literarischen Utopie Looking Forward (1969), der darin ausgedrückten Ideologie sowie den Realisierungsbestrebungen in einem Freizeitpark und mehreren (inzwischen gescheiterten) stadtplanerischen Projekten her. Die damals sehr verbreiteten YouTube-Filme der ZEITGEIST-Reihe Peter Josephs (2007–2011) sah ich vor allem als Propagandainstrument für die Verbreitung der Utopie. Spiegels Herangehensweise war anders. Er konzentrierte sich insbesondere auf den Abschnitt im zweiten Film der Reihe, ZEITGEIST ADDENDUM (US 2008), in dem Frescos utopisch-architektonische Entwürfe visualisiert und angepriesen werden. Diese Darstellungen im Rahmen eines Lösungsversprechens für viele in den ZEITGEIST-Filmen genannte Probleme interpretierte Spiegel als filmische Utopie. Das fand ich sehr spannend – ich hatte ja gleichzeitig mit Chloé Zirnstein an der LMU München über Utopie promoviert, und Zirnstein bestätigte in ihrer Dissertation, was auch viele andere herausfanden: dass Utopien sich prinzipiell nicht dazu eignen, verfilmt zu werden. Spiegel wollte also das finden, was es nicht gab und nicht geben konnte: den utopischen Film. Er fand ihn nicht im Spielfilm (auf den sich Zirnstein und andere konzentriert hatten), sondern im Propagandafilm. Seine Idee, nichtfiktionale und pseudo-nichtfiktionale Filme nach Utopien zu durchforsten, arbeitete er in den folgenden Jahren aus. Wer immer zu den Jahrestagungen der GfF kam und sich in die richtigen Panels setzte, konnte seine Suche nach dem utopischen Film 2013 in Gießen und 2014 in Klagenfurt weiterverfolgen. In späteren Jahren stellte er weitere Einzelstudien vor, die aus dieser Suche resultierten: 2016 in Münster den nostalgischen Abgesang auf die Utopie im Spielfilm TOMORROWLAND (US 2015) und 2017 in Wien das Versagen der Arbeitsgruppe defa-futurum, DDR-kompatible utopische Filme zu produzieren. 2019 ist endlich das Buch erschienen, das diese und viele weitere Beispiele unter einem theoretischen Rahmen zusammenfasst und den Grundstein für jede zukünftige filmwissenschaftliche Utopieforschung legt, die über ein resignatives ›gibt’s ja gar nicht‹ hinauswill. Bilder einer besseren Welt ist Spiegels Habilitationsschrift, aber das schmälert weder das Vergnügen noch den Erkenntnisgewinn, den auch Fachfremde aus dem Buch ziehen können.
Freilich muss jede wissenschaftliche Arbeit sich an gewisse Gepflogenheiten halten, und dazu gehören ein gut begründeter theoretischer Rahmen und die Darstellung des Forschungsstandes. Im Falle der Utopieforschung ist das allein schon eine Mammutaufgabe, denn einerseits gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was ›Utopie‹ überhaupt ist (ein Text? ein politisches Ziel? ein sozialreformerisches Experiment?), und andererseits gibt es sprachlich voneinander getrennte Theorietraditionen, die Spiegel aneinander anschlussfähig machen musste. Die in den letzten Jahren theoriegeschichtlich stärkste deutschsprachige Forschungsarbeit zur Utopie ist sicherlich Thomas Schölderles Studie Utopia und Utopie (2011), in der die vorherige deutschsprachige Utopieforschung nahezu komplett rezipiert, relativiert, in Zusammenhang gesetzt und letztlich so systematisiert wird, dass man daran nicht mehr vorbeikommt, wenn man seither den Komplex der Utopie erforschen will. Schölderles Arbeit betont die literarische Utopie und orientiert sich an dem, was Richard Saage das »klassische Modell« nannte, das auf Thomas Morus’ Utopia (1516) zurückgeht: »Eine Utopie ist der meist literarisch verfasste, fiktionale und universale Entwurf von idealtypisch und rational-experimentell konstruierten Institutionen oder Prinzipien eines Gemeinwesens, der den realhistorischen Verhältnissen in kritischer Intention gegenübergestellt und auf ein besseres Leben der Menschen gerichtet ist« (Schölderle 481). Dieser Definition fügt Schölderle noch eine Tabelle mit Differenzierungskriterien hinzu, die zwischen konstitutiven, typischen und kontingenten Eigenschaften utopischer Texte unterscheiden und somit so manchen Irrweg der bundesdeutschen Utopiegelahrtheit (der zufolge Utopien unbedingt sozialistisch und/oder totalitär sein müssen) desavouieren. Spiegel findet Definition und Tabelle Schölderles so nützlich, dass er sie übernimmt – aber nicht ohne Modifikationen. Für Schölderles Modell spricht nicht zuletzt, dass er, anders als Saage, »die Erkenntnisse der Literaturwissenschaft und der Politologie in einem handhabbaren Modell vereint, das sich auch für literatur- respektive filmwissenschaftliche Belange eignet« (14). Bevor Spiegel aber die filmwissenschaftlich notwendigen Modifikationen vornimmt, wendet er sich der anglophonen Utopieforschung zu. Auch dort wird – etwa bei Lyman Tower Sargent – zwischen mehreren wesensmäßig unterschiedlichen Dingen unterschieden, die »Utopie« genannt werden, und der Begriff der literarischen Utopie wird ausdifferenziert. Spiegel kann sich auch an Sargents Definitionen der Dystopie, der kritischen Utopie oder der Satire orientieren (vgl. Sargent). Aber obwohl Sargent und andere bekannte englischsprachige Utopieforscher*innen auch einen Blick auf Filme geworfen haben, ist das für Spiegel nicht genug. Er benötigt ein eigenes, filmwissenschaftlich informiertes Modell für seine Untersuchung.
Für mich als von der Filmwissenschaft ganz unberührten Leser waren Spiegels Ausführungen zur Semiopragmatik nach Roger Odin, mit der die zentrale Unterscheidung zwischen fiktional und nichtfiktional getroffen und die Interpretationsgrundlage für die zu untersuchenden Filme gelegt werden soll, zunächst mühsam zu lesen. Aber es hat sich gelohnt. Es geht dabei um den Modus, in dem man einen Film sieht, was wiederum von den Angeboten abhängt, die der Film seinen Betrachtern*innen macht. Weder ist ein Film allein von sich aus fiktional (oder eben nicht), noch kann die Betrachter*in den Film ganz nach Belieben auslegen. Filme geben bestimmte Signale, die eine Art der Betrachtungsweise nahelegen. Ein Film mit Interviews, Bauchbinden und Überblicksgrafiken will offensichtlich als Dokumentation gesehen werden. Selbstverständlich können Filmemacher*innen mit diesen Sehgewohnheiten spielen und fiktionale Filme drehen, die dokumentarisch aussehen (oder umgekehrt). Spiegel behandelt daher nicht nur das allen Dokumentationen inhärente Problem der nicht zu erreichenden reinen, womöglich gar neutralen Abbildung der Wirklichkeit – alle Dokumentationen haben auch etwas Konstruiertes, Inszeniertes –, sondern er widmet auch den Mockumentarys (Fake-Dokumentationen) und anderen Hybridformaten ein ganzes Kapitel (107–129). Diese sind sehr fruchtbares Anschauungsmaterial für Utopiefilmforscher*innen, denn sie spielen mit der unscharfen Grenze zwischen Realität und Fiktion, die auch für literarische Utopien so typisch ist.
Hier wird deutlich, welchen Vorteil Spiegel aus der Verwendung von Schölderles Modell zieht: Schon Morus hatte seine Utopia mit Signalen sowohl für Wahrheit als auch für Falschheit gespickt. Das mag er – wie so manche Mockumentary-Macher*innen – aus humoristischen Gründen getan haben. Aber auch für die späteren intentionalen Utopien, die geschrieben wurden, um für ein gesellschaftliches Ideal zu werben, gilt, dass sie sowohl zugeben müssen, etwas Irreales zu zeigen, als auch versichern wollen, dass das Gezeigte realistisch ist. Das gilt ebenso für die ihnen hinreichend ähnlichen Propagandafilme. Wie eine Mockumentary muss daher auch ein utopischer Film etwas zeigen, das mit der Kamera erfasst wurde, obwohl es nicht wirklich ist, und dabei gleichzeitig so tun, als gebe es die gezeigte bessere Gesellschaft wirklich – und doch wollen Mockumentary und utopischer Film die verständigen Betrachter*innen an dem Spaß teilhaben lassen, ein transparentes Spektakel zu sehen. Aus Spiegels filmtheoretischen Ausführungen wird deutlich, dass sehr wohl filmische Utopien möglich sein sollten, und dass diese weder rein fiktional sein werden (da das zu langweilig wäre) noch im eigentlichen Sinn dokumentarisch (da die Utopie ja etwas Nicht-Existentes behandelt, das insofern auch nicht dokumentierbar ist).
Selbstverständlich findet Spiegel auch eine Reihe solcher Filme. Sie entsprechen alle mehr oder minder den modifizierten Utopiekriterien, ohne dass je einer zur idealtypischen Utopie würde. Spiegels Auswahl ist nicht als vollständige angelegt, strebt also auch nicht an, einen Überblick über das Feld des utopischen Films zu erstellen. Vielmehr soll das Feld als solches abgesteckt und damit erst zum Feld erklärt werden – bisher ist es nämlich eher ein Dschungel, in den Spiegel mehrere Pfade schlägt. Schon im Theorieteil analysiert er den zweiten ZEITGEIST-Film intensiv (78–91 et passim), sodass er sozusagen ein Vorbild hat, das er immer wieder zum Vergleich heranziehen kann. Durch die Vergleiche wird aber auch deutlich, wie vielfältig das Feld des utopischen Films ist. Die defa-futurum-Filme, die er, neben vielen weiteren untersuchten Filmen, auf seiner Homepage zur Betrachtung zur Verfügung stellt (www.utopia2016.ch/bilder-einer-besseren-welt/), waren durchaus mit utopistischen Ambitionen geplant worden. Anhand seiner Archivrecherchen kann Spiegel zeigen, dass es in der DDR zwar durchaus den Willen gab, eine bessere sozialistische Zukunft ins Kino zu bringen, doch die dabei entstandenen Filme trauen sich dann doch nicht, die damalige Realität des Realsozialismus als etwas Verbesserungswürdiges zu bewerten. Da sich die DDR bereits als besserer Staat verstand, tat man sich in ihr schwer, etwas noch Besseres zu entwerfen.
Das ist auch das Problem anderer Propagandafilme, wie sich in den nächsten Kapiteln zeigt. Spiegel analysiert Filme der Sowjetunion, des frühen Zionismus und des sogenannten Islamischen Staats (ISIS). Sie alle wollen zeigen, dass es eine bereits existierende bessere Gesellschaft gibt. Obwohl sie diese dabei selbstverständlich beschönigen, verletzen sie doch ein zentrales Kriterium der Utopie: dass die darin beschriebene bessere Ordnung fiktiv ist. Dadurch unterscheiden sie sich von der nächsten Kategorie der utopischen Filme, die Spiegel untersucht: den Stadtutopien (275–325). Stadtplanung hatte schon immer etwas Utopisches, da gesellschaftsformende Infrastruktur behandelt wird, die noch nicht existiert und angeblich besser sein soll. In den Filmen THE CITY (US 1939), TO NEW HORIZONS (US 1940) und THE EPCOT FILM (US 1967) wird tatsächlich ein ›Noch-Nicht‹ dargestellt, das besser als die zeitgenössischen Städte der USA sein soll und somit – teilweise recht explizit – real Existierendes und als wahrscheinlich eingeschätzte Tendenzen kritisiert. Darüber hinaus werden in ihnen Themen behandelt, die im außerfilmischen utopischen Diskurs etwa von Stadtplanern wie Ebenezer Howard, Lewis Mumford, Frank Lloyd Wright und Le Corbusier diskutiert wurden. Spiegel kann daher nachweisen, dass es utopische Filme sind. Und doch weichen auch sie von den Utopiekriterien ab, mal aus künstlerischen, mal aus kommerziellen Gründen.
Überhaupt ist die Abweichung vom Idealtypus das deutlichste Verbindungselement der sehr unterschiedlichen Filme, die Spiegel untersucht. Das wird an seinen letzten beiden Beispielen deutlich, die er »postklassisch« nennt. Damit meint er nicht die Verfilmungen kritischer Utopien wie etwa der Mars-Trilogie Kim Stanley Robinsons (1993–1996); diese existieren nicht, obwohl es meines Erachtens möglich wäre, nachklassische (oder nach Sargent »kritische«) Utopien auch als Spielfilm umzusetzen. Vielmehr erweitert Spiegel seine Utopiedefinition und wirft auf eben das einen Blick, was Sargent in seinem Aufsatz noch als »intentionale Lebensgemeinschaften« (Sargent 119) von den literarischen Utopien abgegrenzt hatte. Im Film DEMAIN (FR 2015) werden Gesellschaften vorgestellt, die besser sind (oder zu sein vorgeben). Im Film THE MARSDREAMERS (FR/CH 2009) geht es mehr um Zukunftsaspirationen als um reale Projekte; dass der Film kritisches Potenzial entwickelt, liegt letztlich daran, dass mit Robinson ein Mars-Utopist zu Wort kommt, der die Marsträume der anderen Protagonisten für unrealistisch erklärt. Spiegel hält viel von Robinson und lässt sich gerne auf seine Fiktionen ein (vgl. Spiegel 2016). Ich hoffe ja, dass es irgendwann einen zweiten Band der Bilder einer besseren Welt geben wird, dann mit dem Untertitel Die Utopie im fiktionalen Film. Es wird lauter Filme nach 2020 analysieren, darunter die Verfilmungen Robinsons Mars-Trilogie, Ursula K. Le Guins The Dispossessed (1974) und Marge Piercys He, She and It (1991); es dürfte auch einen Verriss der Verfilmung von Starhawks The Fifth Sacred Thing (1993) enthalten. Der im zukünftigen Theoriekapitel intensiv zerpflückte VENUS-PROJECT-Spielfilm war ja schon in Planung, als Spiegel und ich 2012 in der Universität Zürich unsere Vorträge hielten. Immer noch wird Geld dafür gesammelt, was womöglich der eigentliche Zweck des ganzen Vorhabens ist.
Bevor aber dieser zweite Band auch nur gewünscht wird, sollte der erste gelesen werden. Ohne ihn kann man ohnehin nichts mehr über Utopie im Film sagen. Bilder einer besseren Welt. Die Utopie im nichtfiktionalen Film ist mit über 400 Seiten ein umfangreiches Werk, das aber mit 164 Abbildungen zum ständigen Blättern einlädt. Optisch eingerahmt ist es sozusagen zwischen ZEITGEIST ADDENDUM und THE MARSDREAMERS, denn das Cover kombiniert Bilder der beiden Filme. Es würde mich nicht wundern, wenn mancher das Buch angeberisch auf seinen Kaffeetisch legt, weil es so schön ist. Die Tatsache aber, dass es auch online im Open Access erhältlich ist (www.schueren-verlag.de/images/openaccess/9783741000829.pdf), weist es schon formal als wissenschaftliche Studie aus. Dass Spiegel durch diese Schrift zum Privatdozenten wurde, ist geradezu eine Frechheit – wenn ich gewusst hätte, dass man mit solchem Vergnügen habilitieren kann, hätte ich es auch gemacht.
Autor
Peter Seyferth, Dr., freiberuflicher politischer Philosoph aus München. 2006 Promotion in politischer Theorie über Ursula K. Le Guins Utopien. 2010–2016 Onlinebeauftragter der Gesellschaft für Fantastikforschung. Zahlreiche Publikationen zu Science Fiction, kritischen Utopien und Anarchismus. http://orcid.org/0000-0002-6731-267X.
Konkurrierende Interessen
Die Autorin hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.
References
Zitierte Werke
Sargent, Lyman Tower. »Wiedersehen mit den drei Gesichtern des Utopismus«. Übers. Lars Schmeink. Zeitschrift für Fantastikforschung 2.1 ( 2012): 98–144.
Schölderle, Thomas. Utopia und Utopie. Thomas Morus, die Geschichte der Utopie und die Kontroverse um ihren Begriff. Nomos, 2011. DOI: [doi: 10.5771/9783845229331]
Spiegel, Simon. »Vergesst das All: Begegnung mit Kim Stanley Robinsons Aurora«. Zeitschrift für Fantastikforschung 6.1 ( 2016): 73–89.
Zirnstein, Chloé. Zwischen Fakt und Fiktion. Die politische Utopie im Film. Herbert Utz Verlag, 2006.