»Märchen sind wunderbare Zeitmaschinen« (Funke, Märchenbuch 8). Diesen Gedanken stellt Cornelia Funke einer von ihr edierten Sammlung der Grimm’schen Märchen voran, die 2012 parallel zum zweiten Band ihrer Romanreihe Reckless erschienen ist. Die Verbindung zwischen Funkes Romanreihe und den Märchen der Brüder Grimm ist dabei eine doppelte. Zum einen sind die Namen der Protagonisten in Funkes Romanen, die Brüder Jacob und Will Reckless, selbst eine offensichtliche Anspielung auf die Grimms, und zum anderen wird die (Zeit-)Reise ins Märchen, die Funke im Vorwort ihres Sammelbandes als Leseerfahrung herausstellt, in den Reckless-Bänden von den Protagonisten wortwörtlich durchgeführt. So findet der ältere der beiden Brüder, Jacob, mit zwölf Jahren im Arbeitszimmer seines verschollenen Vaters einen Spiegel, der ihn aus der parallel zur außerliterarisch konstruierten Primärwelt des Textes in eine sekundäre Welt voller Märchenfiguren bringt, in der er von da an den Großteil seiner Zeit mit der Jagd nach magischen Artefakten (wie dem Tischleindeckdich oder den gläsernen Schuhen einer Prinzessin) verbringt. Die Handlung des ersten Bandes beginnt zwölf Jahre später, als Will seinem großen Bruder zum ersten Mal durch den Spiegel folgt und so ebenfalls, wie Funke es im Vorwort zu ihrer Märchen-Sammlung beschreibt, zu einem Zeit-, bzw. Weltenreisenden wird:

Wir reisen zurück in eine Welt, in der die Nächte noch nicht von elektrischem Licht erhellt waren, in der kalte Winter den Hunger brachten, in der Könige über arme Bauern herrschten, und Frauen in endlosen Stunden am Spinnrad davon träumten, statt Garn Gold zu spinnen. (Funke, Märchenbuch 8)

Die Funktion der Zeitmaschine, die Funke hier den in ihrem Märchenbuch gesammelten Texten zuschreibt, scheint die Autorin somit auf den ersten Blick auch für ihre eigene Märchenwelt, die Spiegelwelt der Reckless-Reihe, zu beanspruchen. Denn ebenso wie die in ihrem Vorwort referenzierten und in ihrer Sammlung abgedruckten Märchen der Brüder Grimm ist Funkes Spiegelwelt ein Ort voller Könige und Spinnräder. Schneewittchen-Flüche sind dort ein gängiger Begriff, Blaubärte treiben ihr grausiges Handwerk und die Kaiserin von Austrien1 stammt von Aschenputtel persönlich ab. Kurzum, die Spiegelwelt ist ein Ort, an dem alles das tatsächlich existiert oder existiert hat, was in der Primärwelt, der Jacob und Will entstammen, nur als Märchenstoff bekannt ist. Doch in dieser Märchenwelt leben nicht nur Hexen, Feen und Steinmenschen, sondern zu Beginn der Haupthandlung des ersten Bandes seit neuestem auch Fotografen, Telegrafen und Werbedesigner.2 Die Märchenwelt ist, wie Christine Lötscher urteilt, als die Handlung einsetzt »bereits kontaminiert« (Lötscher 36) und über den Verlauf der Romanreihe hinweg befindet sich die Spiegelwelt von Reckless mitten in einer industriellen Revolution. Die Zeitmaschine der Reckless-Romane bringt Leser_innen somit in eine Welt, in der die unbestimmte Vergangenheit der Grimm’schen Märchen aus Funkes Sammelband, die Zeit von Königen, armen Bauern und goldspinnenden Frauen, mit der konkreten historischen Entwicklung der Zeit, in der die Grimms ihre Märchen sammelten, der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, zusammentrifft.

In Steinernes Fleisch, dem ersten von bisher drei Bänden, werden die Schlachten zwischen diversen menschlichen Königreichen und den Steinmenschen, auch Goyl genannt, bereits mit Flinten und Kanonen geschlagen, Gaslicht erhellt die Straßen der größeren Städte der Spiegelwelt, aber Automobile existieren noch nicht3 und Frauen in Männerhosen werden kritisch betrachtet. Drachen sind hingegen längst ausgestorben und Riesen seit langem nicht mehr gesichtet worden. Im zweiten Band, Lebendige Schatten, erreichen dann erste ›pferdelose Kutschen‹ aus Albion den Kontinent (Funke, Schatten 113) und Flugzeuge sowie Eisenschiffe bestimmen nun den Krieg (Funke, Schatten 157). Die Bewohner_innen der Spiegelwelt, denen die Protagonisten der Reihe auf ihren Reisen begegnen, wenden sich währenddessen immer stärker von der Magie ab und der Technologie zu. Im dritten Band, Das goldene Garn, eskaliert der politische Konflikt schließlich soweit, dass erste Pläne für Panzer und Raketen mit Sprengköpfen entstehen (Funke, Garn 15). Mit dem gewohnten vage-mittelalterlichen Setting von Märchen hat die Spiegelwelt zu diesem Zeitpunkt kaum noch etwas gemeinsam und selbst das 19. Jahrhundert, in dem die Welt zu Beginn der Romanreihe noch fest verankert war, wird hier bereits technologisch zurückgelassen.

Inwiefern in Cornelia Funkes Reckless-Reihe eine technologisierte Märchenwelt dargestellt wird und welche Auswirkungen dieses worldbuilding4 für die Handlung der Romane hat, wird im Folgenden anhand der Analyse von drei Aspekten des Konflikts von Vergangenheit und Zukunft diskutiert. Die Analyse des Dualismus von Technologie und Magie in der Spiegelwelt, des Vorkommens von Märchen innerhalb der Märchenwelt sowie der Opposition von Vater und Sohn als Repräsentanten von Zukunft und Vergangenheit mündet dabei abschließend in eine kritische Reflexion des Widerspruchs zwischen worldbuilding und Plot in Funkes Romanreihe.

Der Dualismus von Technologie und Magie in der Spiegelwelt

Alt gegen neu, Vergangenheit gegen Zukunft – von Beginn an ist dieser Dualismus der Spiegelwelt auf worldbuilding-Ebene der zentrale Konflikt der Reckless-Reihe:

Die Stadt sah von fern aus wie eines der Bilder, die man auf Lebkuchendosen druckte, aber seit ein paar Jahren durchzogen Eisenbahngleise die Hügel dahinter, und aus Fabrikschornsteinen stieg grauer Rauch in den Abendhimmel. Die Welt auf der anderen Seite des Spiegels wollte erwachsen werden. Aber das Steinerne Fleisch, das seinem [Jacobs] Bruder wuchs, hatten nicht mechanische Webstühle oder andere moderne Errungenschaften gesät, sondern der alte Zauber, der in ihren Hügeln und Wäldern hauste. (Funke, Fleisch 15 f.)

Den Modernisierungen und technischen Erneuerungen, durch die der Schauplatz der Handlung sich über die drei Romane hinweg von einer zeitlosen, vage-mittelalterlichen Märchenwelt zu einer modernen Welt des 20. Jahrhunderts entwickelt, steht, wie dieses Zitat zeigt, eine andere Kraft gegenüber, welche aus Jacobs Perspektive unzweifelhaft der Vergangenheit der Spiegelwelt angehört. Ein »alte[r] Zauber« ist es, der Jacobs Bruder beim Betreten der Spiegelwelt in einen Goyl verwandelt hat und zu dessen Lösung sich Jacob nun ebenfalls alter Magie bedienen muss. Doch während die Technologie der Spiegelwelt sich weiterentwickelt, bleibt die Magie der Welt konstant. Beide, die an der Zukunft orientierte Technologie und die an der Vergangenheit orientierte Magie, stehen sich so im gegenwärtigen Moment der Entwicklung der Spiegelwelt oppositionell gegenüber.

Cornelia Funke selbst erklärte nach Veröffentlichung des ersten Bandes der Reckless-Reihe, dass sie Europa im 19. Jahrhundert bewusst als Vorbild für die Spiegelwelt gewählt habe, da diese Zeit, ihren eigenen Worten nach, »beides kannte: Fortschrittsbegeisterung und romantische Vergangenheitsverklärung« (Freund). Die Gleichzeitigkeit einer Orientierung an Zukunft und Vergangenheit im gegenwärtigen Moment führt aufgrund ihrer Wurzeln im Märchen in der Spiegelwelt jedoch weit stärker zu einer Frontenbildung, als dies im Europa des 19. Jahrhunderts historisch verbürgt der Fall war. So spalten sich die Bewohner der Spiegelwelt durch ihre Reaktion auf die rasanten Veränderungen ihrer Welt in zwei Lager: in diejenigen, die den Fortschritt willkommen heißen, ihn vorantreiben und von ihm profitieren, und diejenigen, die ihm skeptisch gegenüberstehen, ihn kritisieren oder durch ihn nachteilige Behandlung erfahren.

So wurden die Hexen, das erfahren Leser_innen im zweiten Band, beispielsweise bereits aus den Städten der Spiegelwelt vertrieben, da sie dem Fortschrittsglauben der Menschen dort im Weg standen: »In Schwansteins gaslichterleuchteten Straßen gab es schon seit Jahren keine praktizierende Hexe mehr. Hexen verkörperten die Vergangenheit und die Bewohner von Schwanstein glaubten an die Zukunft« (Funke, Schatten 35). Weniger eine Verklärung als eine Leugnung der eigenen Vergangenheit wird hier offensichtlich. Denn die an der außerliterarischen Welt orientierte Entwicklung von Hexen als Frauen, die der Heilkunst mächtig waren, zu Ärzt_innen und Krankenpfleger_innen – auf welche die Figur Clara, eine Medizinstudentin aus der Primärwelt des Textes, im ersten Band Bezug nimmt mit der Aussage: »In unserer Welt arbeiten Hexen in Krankenhäusern« (Funke, Fleisch 66) – erscheint in der Spiegelwelt, in der die Magie der Hexen tatsächlich existiert, wenig sinnig. Mit den Hexen wird demnach auch die Hexenkunst Opfer der Entwicklungen: Die Auswirkungen schwarzer Magie werden »im Namen des Fortschritts als Krankheit bezeichnet« (Funke, Garn 13) und den Platz der weißen Magie und Heilkunde als sogenannte »alte Medizin« nimmt, zumindest in den Städten, die neue Medizin ein (Funke, Schatten 36). Die Magie der Hexen kann so nicht in die Entwicklungen der Welt einbezogen werden und muss zum Fremdkörper in der technologisierten Spiegelwelt werden. Parallel zu der Umbenennung der Heilkunst von ›Magie‹ zu ›Medizin‹ wird auch Magie im Allgemeinen über den Verlauf der Reckless-Romane zur ›alten Magie‹, die der ›neuen Magie‹ von Technik und Wissenschaft die Zukunft überlassen muss (Funke, Garn 17–18). Dem berühmtesten Ingenieur der Spiegelwelt wird so der Beiname »der neue Zauberer« (Funke, Schatten 159) verliehen.

Jacob selbst, ein berühmter Schatzsucher der Spiegelwelt, bekommt aufgrund der sich wandelnden Zeit mehrfach den – mit unterschiedlicher Ernsthaftigkeit vorgetragenen – Ratschlag zu hören, er solle den Beruf wechseln. Im zweiten Band ist es zuerst der am (eigenen) Fortschritt in jeglicher Hinsicht interessierte Zwerg Evenaugh Valiant, ein Geschäftskontakt aber auch Antagonist Jacobs, der ihm erklärt, warum sein Beruf in der Spiegelwelt keine Zukunft haben kann: »›Die Welt ist ein Pulverfass. Das Geschäft mit Sprengstoff und Munition war nie besser. Feenlilien und Hexennadeln …‹, der Zwerg grunzte verächtlich, ›Handelsgüter von gestern! Waffenhandel. Das ist die Zukunft‹« (Funke, Schatten 67). Wenig später wird Jacob auf ganz ähnliche Art von einem alten Freund, dem Historiker Robert Lewis Dunbar, ebenfalls für seine Suche nach magischen Artefakten verspottet: »Wonach suchst du diesmal? Ein Habetrotshemd? Ein Gryphonshuf? Du solltest den Beruf wechseln. Glühbirne, Batterie, Aspirin – das sind die Worte, die in diesen Zeiten nach Magie klingen« (Funke, Schatten 122). Den Waffen und modernen Erfindungen, so zeigt der Vergleich beider Zitate, gehört aus den unterschiedlichsten Blickrichtungen die Zukunft. Doch nicht nur das: Dunbar sieht die Forschung an Glühbirne, Batterie und Aspirin im Vergleich mit Jacobs Suche nach verschollenen magischen Gegenständen nicht einfach nur als sinnvollere Beschäftigung an, er erkennt zudem, dass die modernen Erfindungen in den Augen der Spiegelwelt die Magie bereits abgelöst haben und die Objekte, denen Jacob hinterherjagt, somit wertlos machen. Wie die Hexen, die aus den Städten verbannt und deren Arbeit mit anderen Mitteln substituiert wurde, prognostiziert Dunbar so, dass auch die magischen Artefakte und damit Jacobs Beschäftigung in der Spiegelwelt früher oder später zu Fremdelementen werden müssen.

Wie diese Beispiele zeigen, orientiert sich die Spiegelwelt im Verlauf der Romanreihe nicht nur am Fortschritt, den die Zukunft bringen wird, sondern wendet sich auch dezidiert von der Vergangenheit und den damit verbundenen magischen Ursprüngen der Welt ab.

In Reckless überwiegt trotz der wiederholten Betonung dieses Fortschrittsglaubens jedoch insgesamt der Eindruck der Fortschrittskritik. Zum einen, da mit Jacob ein an der Vergangenheit orientierter Protagonist die Handlung dominiert,5 und zum anderen, da es auch aus der Perspektive anderer Figuren nicht die Magie, sondern stets die technischen Erneuerungen sind, die als Fremdkörper beschrieben werden. So wundert sich nicht nur Jacob, sondern beispielsweise auch einer seiner Antagonisten, der Goyl Hentzau, über die rapide Veränderung der Spiegelwelt: »Die Schüsse klangen seltsam in der Stille. Wie etwas, das nicht in diese Welt gehörte. Flinten, Dampfmaschinen, Züge – Hentzau kam all das immer noch unnatürlich vor. Er wurde alt, das war es« (Funke, Fleisch 98 f.). Noch eindrücklicher als in dieser Passage aus Hentzaus Sicht wird die Unnatürlichkeit der Technisierung der Spiegelwelt aus der Perspektive eines Tieres verdeutlicht, das auf die Geräusche der sich wandelnden Welt mit instinktiver Furcht reagiert: »Die Stute spitzte so besorgt die Ohren, als wären die Drachen zurück, aber sie hörte nur die neue Zeit. Das Heulen der Sirenen. Das Ticken der Uhren. Die Maschinen wollten laufen und sie liefen schnell« (Funke, Schatten 47).

So wie Magie in zahlreichen anderen Fantasy-Werken (bspw. in den Harry- Potter-Romanen durch Harrys Perspektive, die ebenso wie Jacobs die eines Außenseiters ist) stets als das Wunderbare und somit das Auffällige dargestellt wird, nehmen diesen Platz aus Sicht zahlreicher Protagonist_innen der Reckless-Reihe in erster Linie die technischen Erfindungen ein, denen im Vergleich die magischen Elemente der Spiegelwelt als selbstverständlicher oder zumindest natürlicher gegenüberstehen. Die Elemente in der Gegenwart der Spiegelwelt, die der Vergangenheit angehören, wie Magie und magische Artefakte, werden somit von einem Großteil der fokalisierten Figuren als natürlicher Teil der Welt verstanden, während die Elemente, die auf eine technologisierte Zukunft der Spiegelwelt hindeuten, den Platz von Fremdkörpern einnehmen, der im worldbuilding der Romanreihe eigentlich den Elementen aus der Vergangenheit eingeräumt wird.

Neben Jacob selbst, der im Verlauf der Romane stets mit Nostalgie an die Kinderschuhe zurückdenkt, denen die Spiegelwelt gerade entwächst, ist es besonders der Historiker Dunbar, der in den Reckless-Romanen Skepsis vor der Zukunft zum Ausdruck bringt. Dies ist zum einen darin begründet, dass Dunbar als Historiker ebenso wie Jacob zu den Figuren gehört, die allein durch ihre Profession der Vergangenheit zugewandt sind. Daher muss Dunbar angesichts der Entwicklungen seiner Welt seine eigene Arbeit gefährdet sehen: »Was tut ein Historiker in einem Land, das nur noch an die Zukunft glaubt? Was soll Gutes dabei herauskommen, wenn wir uns das Leben von Zeigern und Zahnrädern diktieren lassen?« (Funke, Schatten 122). Dunbar hat jedoch anders als Jacob noch einen zweiten Grund, warum er der technologisierten Zukunft der Spiegelwelt skeptisch begegnen muss: Wie Fuchs, eine Gestaltwandlerin und Jacobs treueste Gefährtin, ist Dunbar als Sohn eines Rattenmenschen ein magisches Wesen und somit rein körperlich mit der magischen Vergangenheit der Welt verbunden:

»[…] Ich bin nicht sicher, ob Gewehre eine gute oder schlechte Erfindung sind. Die Frage stellt sich wohl bei jeder Erfindung, allerdings muss man sie sich in diesen Tagen für meinen Geschmack allzu häufig stellen. […] Wir [Dunbar und Fuchs] stehen beide zwischen den Zeiten, stimmt’s? Wir tragen die Vergangenheit auf der Haut, aber die Zukunft ist zu laut, um sie zu ignorieren. Das, was war, und das, was sein wird. Das, was verloren geht, und das, was gewonnen wird …« (Funke, Schatten 143)

Als magische Wesen sind Dunbar und Fuchs der beste Beweis für die magische Vergangenheit der Spiegelwelt, die von den fortschrittsbegeisterten Bewohner_innen teilweise bereits geleugnet wird. Ob Dunbar und Fuchs dieselbe Zukunft wie den Hexen bevorsteht, wird dabei in den bisherigen Romanen der Reihe nicht exploriert.

Dunbars Oppositions-Figur auf der Seite der Fortschrittsbegeisterten ist Kami’en, der König der Goyl, der als Initiator des großen Krieges zwischen Menschen und Steinmenschen zum direkten und indirekten Förderer neuer Technologien wird. Zwar nutzt auch Kami’en die Unterstützung von magischen Wesen, doch aus den wenigen Kapiteln, die Einblick in seine Sicht geben, wird deutlich, dass der König der Goyl Technik der Magie vorzieht. Über Drachen urteilt er beispielsweise so: »Sie waren fantastische Waffen im Krieg. Aber sie waren nicht allzu gehorsam. Maschinen sind so viel leichter zu kontrollieren« (Funke, Schatten 247).

Märchen in der Märchenwelt

Um Kami’ens Stellung im Dualismus von Magie und Technologie und im Konflikt von Vergangenheit und Zukunft, besser zu verstehen, ist es sinnvoll, zuerst eine generelle Feststellung zum Status von magischen Objekten und Figuren in der Spiegelwelt zu machen. Denn innerhalb der Spiegelwelt, die, wie zuvor gezeigt, von der Verwirklichung der gesammelten Welten der Grimm’schen (und anderer) Märchen ausgehend,6 den vage-mittelalterlichen Schauplatz der Textsorte bis zur Industrialisierung historisch weiterentwickelt, existieren ebenfalls Märchen. Diese sind nicht identisch mit den Erzählungen, welche die Grimms in der Primärwelt des Textes, sprich: auf der anderen Seite des Spiegels, gesammelt haben, sie folgen aber nicht nur denselben Erzählprinzipien,7 sondern erfüllen auch dieselbe Funktion wie Märchen es in der Primärwelt des Textes und in der außerliterarischen Welt der Leser_innen von Reckless tun. Dies wird im Text besonders deutlich, wenn Hentzau, eine der sowohl fortschritts- als auch magieskeptischen Figuren und die rechte Hand des Goylkönigs Kami’en, den Einfluss, den Märchen auf sein Leben hatten, kommentiert:

Ammenmärchen. Als Kind hatte Hentzau nichts lieber gehört, weil sie der Welt einen Sinn und ein gutes Ende gaben. Einer Welt, die in oben und unten zerfiel und von Göttern mit weichem Fleisch regiert wurde. Doch Hentzau hatte ihnen ihr weiches Fleisch zerschnitten und gelernt, dass sie keine Götter waren – ebenso, wie er gelernt hatte, dass die Welt keinen Sinn machte und nichts ein gutes Ende nahm. (Funke, Fleisch 75)

Märchen sind in der sekundären Textwelt der Spiegelwelt also parallel zu den Grimm’schen Märchen in der Primärwelt und der außerliterarischen Welt dafür bekannt, dass sie Kindern vorgelesen oder erzählt werden, dass sie Gut und Böse deutlich voneinander trennen und dass sie (meist) ein gutes Ende haben. Aus Hentzaus Perspektive wird hier an den Märchen der Spiegelwelt zudem deutlich, dass diese eine rein menschliche Sicht auf die Welt zeigen, nach welcher den »Göttern mit weichem Fleisch« Herrschaft über die Welt zusteht. Auch wenn die Romanreihe diesen Aspekt nicht weiter ausführt, wird hier zumindest angedeutet, dass die von den Märchen der Menschen propagierte Weltsicht ein Grund für die Erhebung der Goyl sowie den damit ausgelösten Krieg gewesen sein könnte.

Zusätzlich zu den Märchen, die Hentzau in seiner Kindheit gehört hat, muss es in der Spiegelwelt allerdings auch Goyl-Märchen geben. Im ersten Band wird die Erzählung bzw. Weissagung vom Jadegoyl, einem angeblich unbesiegbaren Steinmenschen, dessen Haut reine Jade ist, explizit von mehreren Figuren als Märchen identifiziert.8 Diese angebliche Märchenfigur stellt sich durch die Jadehaut, die Will Reckless im Verlauf der Handlung wächst, letztlich jedoch als real existierende Gestalt heraus. Der Roman unterstützt dabei die Lesart, nach der Figuren wie Hänsel und Gretel in der Primärwelt des Textes und der Jadegoyl in der sekundären Spiegelwelt auf einer Ebene stehen. Denn dieselbe textliche Formatierung eines Zitates aus dem (von Funke für die Romanreihe erfundenen) Märchen vom Jadegoyl (Funke, Fleisch 75) wurde zuvor als Absetzung eines Zitates aus dem Grimm’schen Märchen von Hänsel und Gretel (Funke, Fleisch 52) dafür genutzt, den Text des Märchens, das auf der primären Seite des Spiegels erzählt und auf der sekundären Seite des Spiegels wahr wird, von dem Text des Romans abzusetzen. Folgt man der bis dahin im Roman dargelegten und durch die Formatierung (Kursivdruck und Einrückung) unterstützten Logik, müsste der Jadegoyl so zumindest in der Spiegelwelt ebenso Fiktion bleiben, wie Hänsel und Gretel es in der Primärwelt auf der anderen Seite des Spiegels sind. Da er dies jedoch nicht tut, da der Jadegoyl durch Wills Verwandlung von einer Märchenfigur zu einer in der Wirklichkeit der Spiegelwelt real existierenden Person wird, nimmt die Spiegelwelt an diesem Punkt zusätzlich zu der parallelen Technologie-Entwicklung zur Primärwelt auf der anderen Seite des Spiegels auch Qualitäten der Primärwelt an, die das Verhältnis der Sekundärwelt zu Magie grundsätzlich erschüttern. In der sekundären Spiegelwelt existieren somit nämlich einerseits Figuren und Objekte, die in der Primärwelt auf der anderen Seite des Spiegels lediglich der Stoff für Märchen sind.9 Andererseits existieren mit dem Jadegoyl innerhalb der sekundären Spiegelwelt nun aber ebenfalls Figuren und Objekte, die sowohl Stoff für exklusive Märchen der Sekundärwelt als auch innerhalb der Sekundärwelt real sind. Es existiert in der Spiegelwelt also zeitgleich Magie, die als selbstverständlich aufgefasst wird und deren Anzweiflung lächerlich wäre, sowie Magie, die (mit der zunehmenden Entwicklung der Welt) den Status von Märchen und Legenden einnimmt. Der Zweifel an Magie hat somit parallel zu den neusten technologischen Entwicklungen in der Spiegelwelt ebenfalls Fuß gefasst.

Kami’en, der König der Goyl, fasst diese, in ihrer Parallele zur Primärwelt des Textes und der außerliterarischen Welt der Leser_innen als geradezu aufgeklärt zu bezeichnende Weltsicht in seiner Reaktion auf das Märchen vom Jadegoyl zusammen:

Du verlangst, dass ich an ein Märchen glaube. […] Meine Munitionsfabriken produzieren nicht so schnell, wie meine Soldaten schießen. Die Lazarette sind überfüllt und die Partisanen haben zwei meiner wichtigsten Schienenwege gesprengt. Soweit ich mich erinnere, ist in den Märchen, die meine Mutter erzählt hat, von alldem nicht die Rede. Lass das Volk an den Jadegoyl und an Glückssteine glauben. Aber die Welt ist inzwischen aus Eisen gemacht. (Funke, Fleisch 270 f.)

In der Gegenüberstellung einer Welt, die noch an Märchen glaubte, mit der eisernen Welt des Krieges, den Kami’en ausgelöst hat, wird erneut der Dualismus von Vergangenheit und Zukunft deutlich. Kami’en hält die Märchen der Vergangenheit für gerade noch gut genug, um seinem Volk Hoffnung beziehungsweise nötige Illusionen zu geben. Er selbst sieht sich hingegen in einer Welt, die auf ihrem rasant fortschreitenden Weg in die Zukunft die Magie des Jadegoyls als Märchen zurücklässt und auf die Konflikte der Gegenwart vorzugsweise mit Eisen antwortet.

Den Warnungen vor dieser technologisierten Zukunft, die der Historiker Dunbar ausspricht, liegt letztlich die Wahrnehmung desselben Wandels zugrunde, nämlich die des Austauschens der alten Magie gegen eine neue:

»Die [magische] Armbrust ist hunderttausend dieser Flinten wert. Sie macht den Mann, der sie benutzt, mit einem Schuss zum Massenmörder. Ich bin sicher, sie werden irgendwann Maschinen bauen, die dasselbe können. Die neue Magie ist die alte Magie. Dieselben Ziele, dieselben Begierden …« (Funke, Schatten 145)

Wobei der Blick in die Geschichte der Spiegelwelt, der dem Historiker offensteht, zudem deutlich macht, was Kami’ens Einstellung zu dem Märchen vom Jadegoyl bereits vermuten lässt, nämlich, dass der Glauben an die alte Magie in der Spiegelwelt mit der Zeit verlorengeht:

Erlelfen! […] Die meisten seiner [Dunbars] Historikerkollegen hätten ihn dafür verspottet, dass er es überhaupt versuchte. Es war, als suchte man nach vergessenen Göttern: Zeus, Apollon, Odin und Freya … hatte es sie je gegeben? Dunbars Antwort war: Ja, ganz bestimmt, aber er hatte sich abgewöhnt, solche Ansichten laut zu äußern. (Funke, Garn 317)

Die einzige Figur, die diesen Wandel nicht für unaufhaltbar hält, ist Jacob Reckless. »Es ist nichts als ein Märchen, Jacob« (Funke, Schatten 71), wird auch Jacob auf seiner Suche nach dem nächsten magischen Artefakt wiederholt gesagt, anders als Kami’en antwortet er jedoch: »Und? Alles in dieser Welt klingt wie ein Märchen« (Funke, Schatten 71). Der Blick von außen, den Jacob als eine der wenigen Figuren aufgrund seiner Heimat in der Primärwelt auf der anderen Seite des Spiegels besitzt, erlaubt es ihm, die Magie der Spiegelwelt für unerschöpflich zu halten. Und da er sich in der Spiegelwelt von Kindheit an mit realen Figuren und Objekten konfrontiert sah, die in Jacobs Heimat lediglich fiktiv sind, fällt es ihm auch nicht schwer, an die Existenz von magischen Artefakten zu glauben, welche für die Bewohner der Spiegelwelt bereits zu Märchen geworden sind.

Vater und Sohn als Repräsentanten von Zukunft und Vergangenheit

Jacob steht somit in Opposition zu einer sich in der Spiegelwelt verbreitenden Grundeinstellung in dem Konflikt von Magie und Technologie. Ihm gegenüber, an der Spitze des Fortschritts, steht dabei nicht nur der Goylkönig Kami’en, sondern auch Jacobs eigener Vater. Denn John Reckless, Jacobs und Wills Vater, der – so wird es zu Beginn des ersten Bandes dargestellt – seine Familie verlassen hat als die Kinder noch klein waren, lebt, seit er aus der Primärwelt auf der anderen Seite des Spiegels verschwunden ist, in der Spiegelwelt. Dort treibt er die Industrialisierung maßgeblich voran, indem er als der bereits erwähnte »neue Zauberer« Erfindungen, die ihm aus der Entwicklung der Primärwelt bekannt sind, in der Spiegelwelt neu ›erfindet‹. Anstatt Aspirin und Glühbirne, denen selbst der fortschrittsskeptische Dunbar in der vorherigen Darstellung Respekt gezollt hat, sind die ›Erfindungen‹ von John Reckless allerdings primär der Rüstungsindustrie zuzuschreiben, da er für nahezu alle Seiten des politischen Konflikts Waffen herstellt. Im Verlauf des ersten Reckless-Bandes hat Jacob immer wieder Momente, in denen er sich diese Zusammenhänge zu erschließen beginnt. So ahnt Jacob zu Beginn von Steinernes Fleisch bereits, dass sein Vater, der sich während seiner Zeit in der Primärwelt auf der anderen Seite des Spiegels für Geschichte interessierte, alte Pistolen sammelte und Flugzeugmodelle baute, zumindest indirekt für die Industrialisierung der Spiegelwelt verantwortlich ist:

Nirgendwo ahmte die Spiegelwelt die andere Seite so eifrig nach wie in Schwanstein, und Jacob hatte sich natürlich schon oft gefragt, wie viel von alldem durch den Spiegel gekommen war, der im Arbeitszimmer seines Vaters hing. Im Museum der Stadt gab es ein paar Dinge, die verdächtig nach der anderen Welt aussahen. Ein Kompass und eine Kamera kamen Jacob sogar so bekannt vor, dass er sie für das Eigentum seines Vaters hielt […]. (Funke, Fleisch 31 f.)

Ebenso wie in diesen Überlegungen Jacobs, wird anhand der Arbeit, die John Reckless seit Jahrzehnten in der Spiegelwelt ausübt, der Einfluss deutlich, welchen die Primärwelt auf die Spiegelwelt ausübt. Nicht nur in Jacobs Gedanken, in denen er die beiden Welten miteinander vergleicht, wird das Verhältnis von Primär- und Sekundärwelt als ein Nachahmen der einen Welt in der anderen ausdrückt. Denn auch Jacobs Vater ist seit Jahren – wie Jacob später erfährt – aktiv damit beschäftigt, die Entwicklungen der Primärwelt in der Spiegelwelt nachzuahmen und damit aus den Erfindungen anderer Menschen aus einer anderen Welt in dieser Welt, in die er sich zurückgezogen hat, Anerkennung und finanziellen Gewinn zu erwirtschaften. Aufmerksame Leser_innen erinnern sich daher ebenso wie Jacob an die Beschreibung der Flugzeugmodelle im Arbeitszimmer von John Reckless, wenn gegen Ende des ersten Bandes von mechanischen Drachen aus Metall und Holz die Rede ist, welche Jacob treffsicher als die »erwachsenen Brüder der Modelle, die verstaubt über dem Schreibtisch von John Reckless hingen« (Funke, Fleisch 249) identifiziert.

In seiner Reaktion auf diese Flugzeuge, oder besser gesagt, in seiner Reaktion auf die Existenz dieser Flugzeuge in der Spiegelwelt wird Jacobs Opposition zu seinem Vater besonders deutlich. Während John Reckless innerhalb der Romanreihe das Extrem auf der Seite der neuen, menschengemachten Magie, der Technologie, repräsentiert, steht Jacob als Protagonist der Reckless-Bücher fest auf Seiten der Vergangenheit und der alten Magie. Die Erfahrung, innerhalb der von ihm aufgrund ihrer Magie und nostalgischen Prägung gewählten Heimat – mit Cornelia Funke könnte auch von einer Zeitreise-Funktion gesprochen werden, welche die Spiegelwelt für Jacob erfüllt – in einem Flugzeug zu sitzen, löst in Jacob daher in erster Linie Angst vor der weiteren Entwicklung seiner Wahlheimat aus: »Fliegen. Es war, als wären beide Welten verschmolzen. Als gäbe es den Spiegel nicht mehr. Wenn aus den Drachen Maschinen wurden, was kam als Nächstes?« (Funke, Fleisch 258.) John Reckless hingegen, der ebenso wie sein Sohn die Spiegelwelt als sein Zuhause erwählt hat und ebenso wie Jacob geliebte Menschen dafür auf der anderen Seite des Spiegels zurückgelassen hat, schreckt nicht einmal im dritten Band, als er stolz ›seine‹ neuste Erfindung, die ersten Baupläne für Panzer und Raketen, vorstellt, vor den Konsequenzen seiner Arbeit zurück. Zwar äußert er kurz Gewissensbisse bezüglich der Industrie, in welcher er sich mit seinem Wissensvorsprung aus der anderen Welt betätigt,10 letztlich überwiegen jedoch nicht nur sein Egoismus, sondern vor allem anderen auch sein Glauben, der Spiegelwelt nur bei ihren nächsten Schritten in die Zukunft unter die Arme zu greifen. John Reckless findet es daher auch, als er von den Abenteuern seines Sohnes in der Spiegelwelt erfährt, »faszinierend, dass sein ältester Sohn es sich zur Aufgabe gemacht hatte, nach der verlorenen Vergangenheit dieser Welt zu suchen, während sein Vater ihr die Zukunft brachte« (Funke, Garn 19).

Die Überzeugung von John Reckless, der Spiegelwelt die Zukunft zu bringen, macht dabei eine Schlussfolgerung nötig, die bereits zuvor kurz, durch den Verweis des Historiker Dunbars auf »vergessene[…] Götter[…]« (Funke, Garn 317) angerissen wurde: Denn wenn die Spiegelwelt ebenso wie die Primärwelt auf eine Antike mit Göttern wie Zeus, Apollon, Odin und Freya zurückblicken kann und sich zum Zeitpunkt der Handlung mitten in einer industriellen Revolution mit Eisenbahnbau und Waffenindustrie befindet, dann erscheint ihre Entwicklung hin zu einer Zukunft von großen Kriegen, geführt mit Raketensprengköpfen, nicht länger verwunderlich. Die Entwicklung der Spiegelwelt, die in der nostalgischen Wahrnehmung der Welt durch Jacob und andere Figuren wie Dunbar und Fuchs eigentlich in ihrem vage-mittelalterlichen Märchen-Stadium feststehen müsste, wird so zwar durch den Kontakt mit der Welt auf der anderen Seite des Spiegels beschleunigt, nicht aber durch ihn ausgelöst. Das wahre Fremdelement in der Spiegelwelt müsste somit, gerade aus der Sicht Jacobs, der aus einer Welt der parallelen Entwicklungen stammt, nicht die Technologie, sondern die Magie sein. Denn der abnehmende Glaube an Magie innerhalb der Gesamtbevölkerung der Spiegelwelt wird vor dem Hintergrund dieser Überlegung zu einer ebenfalls logischen Entwicklung, welche die außerliterarische Aufklärung parallelisiert.

Reflexion des Widerspruchs zwischen worldbuilding und Plot

An dieser Stelle erreicht die Analyse einen Punkt, an dem auf den deutlichen Widerspruch zwischen worldbuilding und Plot innerhalb der Romanreihe hingewiesen werden muss: Denn während der Schauplatz der Handlung in Reckless, wie dargestellt wurde, immer mehr einer technisierten Zukunft entgegenstrebt, bleibt Jacob als Protagonist der Reihe auf Handlungsebene seinem Handwerk als Schatzjäger treu und treibt allein durch das Auffinden verschollener magischer Objekte den Plot voran. Das komplexe worldbuilding, durch das an diesem Ort eine unaufgeklärte Welt voller tatsächlicher Magie und eine rationalisierte Welt der Technologie parallel zueinander existieren, was sich im Vater-Sohn-Konflikt auch auf Figuren-Ebene spiegelt und die Spiegelwelt so zu einem Ort der Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem macht, wird in den bisherigen Reckless-Bänden nahezu vollständig dadurch untergraben, dass auf Plot-Ebene keine der neuen Technologien mit der alten Magie auch nur konkurrieren kann. Und abgesehen davon, dass Jacobs Reisezeit sich durch die Nutzung von Eisenbahnstrecken verringert, bedingt die sich entwickelnde Technik den Haupthandlungsstrang in allen drei Bänden so gut wie gar nicht.

Einzige Ausnahme bleibt die zuvor bereits zitierte, vielversprechende Passage im ersten Band, in der Jacob mithilfe eines Flugzeugs die Flucht gelingt. Jacob reagiert in dieser Situation zuerst mit dem für seine Weltsicht üblichen Schock auf die rasante Technisierung der Spiegelwelt: »Es waren Doppeldecker, wie man sie im frühen zwanzigsten Jahrhundert in Europa gebaut hatte. Ein gewaltiger Sprung in die Zukunft für die Spiegelwelt« (Funke, Fleisch 252). Im Verlauf der Episode macht Jacob sich in dieser Passage die neue Technologie der Spiegelwelt jedoch erstmals zu Nutzen11 und der Protagonist der Reckless-Reihe erreicht einen Moment, in dem er die Gleichwertigkeit von Technologie und Magie reflektiert:

Maschinen. Metallener Lärm. Gebaute Bewegung. Mechanischer Zauber für die, denen kein Fell und keine Flügel wuchsen. […] Zieh sie hoch, Jacob. Fuchs lässt sich ein Fell wachsen, dein Bruder trägt eine Haut aus Stein und du hast nun Flügel. Maschinenzauber. (Funke, Fleisch 254)

Dieser Maschinenzauber ist jedoch nur von kurzer Dauer. Die Flucht gelingt, aber das Flugzeug stürzt ab und Jacob verschwendet danach nie wieder einen Gedanken daran, die vor ihm liegenden Hürden mithilfe von Technologie zu überwinden. Sein Moment der Reflexion erwirkt keine Veränderung, weder auf Figuren- noch auf Plot-Ebene.12

Die Flugzeuge, Eisenbahnen oder ›pferdelosen Kutschen‹ der Spiegelwelt sind so zwar eventuell in der Lage, in Bezug auf ihre Geschwindigkeit mit einem fliegenden Teppich mitzuhalten, da dessen Magie es Jacob jedoch zusätzlich zu seiner Geschwindigkeit auch ermöglicht, einen magischen Effekt zu erwirken, den er für die Lösung seines aktuellen Problems benötigt, bleiben sie letztlich konkurrenzunfähig. Und ebenso ergeht es in Reckless auch allen anderen technologischen Erneuerungen: Den Flüchen oder sonstigen magischen Probleme, die Jacob über die drei Bände hinweg lösen muss, lässt sich stets nur durch weitere Magie entgegenwirken. Eine Versteinerung oder Verglasung oder anderweitige körperliche Verletzung durch Magie kann keine ›neue Medizin‹ kurieren – was besonders bedauerlich ist, wenn im ersten Band mit Clara eine angehende Ärztin von der anderen Seite des Spiegels nahezu durch die gesamte Geschichte hinweg anwesend ist, ohne dass sie einen sinnvollen Beitrag zum Plot leisten kann. Letztlich lassen sich, passend zu seinem Beruf des Schatzjägers, Jacobs Probleme immer mit der Entdeckung eines legendären magischen Artefakts lösen. Der auf worldbuilding-Ebene beschriebenen Entwicklung der Spiegelwelt fort von der Magie und hin zur Technologie wird somit durch die magische Allmacht dieser Märchenobjekte widersprochen, deren Wahrhaftigkeit zwar auf worldbuilding-Ebene angezweifelt, auf Plot-Ebene jedoch stets bestätigt wird. Aufgrund dieser für den Plot notwendigerweise überhöhten Objekte behält die ›alte Magie‹ im Konflikt mit der Technologie so letztlich stets die Überhand, denn zu der Lösung von Jacobs (magisch herbeigeführten) Problemen kann die Technologie der Spiegelwelt nicht beitragen. Daher bleibt sie ultimativ für den Plot der Reihe bedeutungslos.

Bereits von Anfang an ist die Trennung von Vergangenheit und Zukunft, von alt und neu, von Technologie und Magie in den Reckless-Romanen daher identisch mit der Trennung von Plot und worldbuilding. Während der Plot von Funkes Reckless-Reihe so gemeinsam mit ihren Protagonisten ganz in der Welt von Märchen und magischen Artefakten verharrt bleibt, entwickelt sich die Welt der Romane um beide herum zu etwas ganz anderem. Und eben jener Funktion, als Zeitmaschine für Besucher_innen zu dienen, welche Cornelia Funke den Märchen in ihrem Sammelband zuschreibt, verweigert sich die Spiegelwelt von Reckless aufgrund ihres worldbuildings, da die Romanreihe eine Welt zeigt, in welcher gegenwärtig ein intensiver Konflikt zwischen Vergangenheit und Zukunft ausgetragen wird, dessen Sieger bereits festzustehen scheint: Elektrisches Licht erhellt längst die Straßen der Spiegelwelt, ihre Könige arbeiten mittlerweile an der Entwicklung von Massenvernichtungswaffen, und die Träume der Frauen am Spinnrad werden vom Lärm der Maschinen unterdrückt, die nun das Spinnen für sie übernehmen. Die Märchenwelt Cornelia Funkes verweigert sich somit nicht nur der Nostalgie-Funktion, die Funke im Vorwort ihres Sammelbands Märchen zuspricht, sondern illustriert stattdessen gerade das unaufhaltsame Voranschreiten der Zeit, welchem sich ihr Protagonist entgegenstellt.

Notes

  1. Die Spiegelwelt spiegelt wortwörtlich die außerliterarische Welt des 19. Jahrhunderts. Die wichtigsten Länder Europas finden daher in den Königreichen von Funkes Märchenwelt ihre Parallelen, so bspw. Austrien (= Österreich), Albion (= England) und Lothringen (= Frankreich). [^]
  2. »Terpevas war die größte Zwergenstadt und mehr als zwölfhundert Jahre alt, wenn man ihren Archiven Glauben schenkte. Aber die Werbeschilder, die an den Stadtmauern Bier, Augengläser und Matratzenpatente anpriesen, machten jedem Besucher auf der Stelle klar, dass niemand die modernen Zeiten ernster nahm als die Zwerge« (Funke, Fleisch 115). [^]
  3. »Die Idee des Automotors war bislang nicht durch den Spiegel gedrungen, und das Denkmal auf dem Marktplatz war das Reiterstandbild eines Fürsten, der in den umliegenden Hügeln noch Riesen erschlagen hatte« (Funke, Fleisch 32). [^]
  4. Anstatt Diegese wird im Folgenden der Begriff des worldbuilding verwendet, da dieser nach Tom Dowd et al. sowohl den Prozess der Erstellung einer »storyworld« sowie das Ergebnis dieses Prozesses definiert (vgl. Dowd et al. 21 f.). [^]
  5. »Die Städte der Spiegelwelt wuchsen wie Fungus und Terpevas war keine Ausnahme. Der Rauch der zahllosen Kohleöfen schwärzte Fenster und Mauern, und der Gestank, der in der kalten Herbstluft hing, kam nicht von welkem Laub, auch wenn die Kanalisation der Zwerge besser war als die der Kaiserin. Mit jedem Jahr, das Jacob in ihr verbrachte, schien die Welt hinter dem Spiegel sich mehr anzustrengen, ihrer Schwester auf der anderen Seite gleich zu werden« (Funke, Fleisch 117 f.). [^]
  6. Den Reckless-Bänden liegen neben den Grimm’schen Märchen auch insbesondere französische und russische Märchen-Sammlungen zugrunde; über den Ursprung der Quellentexte entscheidet dabei jeweils der Aufenthaltsort der Protagonist_innen innerhalb der Spiegelwelt sowie die damit korrespondierende Nation in der außerliterarischen Welt. [^]
  7. Umfangreiche Auszüge aus den Märchen der Spiegelwelt bieten die Reckless-Bände nicht, allerdings lässt das Märchen vom Jadegoyl auf Märchen-typische Merkmale wie die fehlende Konkretisierung von Protagonist_innen und Handlungsorten sowie eine sprachliche Orientierung an dem Stil der Grimm’schen Märchen schließen. [^]
  8. So sagt beispielsweise Hentzau zu Kami’en: »Der Jadegoyl ist ein Märchen. Seit wann verwechselt Ihr die mit der Wirklichkeit?« (Funke, Fleisch 24). [^]
  9. Die Verwirrung nimmt zu, wenn man bedenkt, dass die Spiegelwelt der Reckless-Bände ebenfalls die Tintenwelt der Tintenherz-Trilogie, einer früheren Romanreihe von Cornelia Funke, umfasst, worauf Funke selbst auf ihrer Webseite hinweist: »Willkommen hinter den Spiegeln … in einer Welt, die die unsere um 1860 herum spiegelt und doch ganz anders ist. […] Einige von euch haben die Welt hinter den Spiegeln vielleicht schon früher bereist – früher im wahrsten Sinne. Denn die Tintenbücher spielen ebenfalls in ihr, nur ist die Welt da noch etwa 500 Jahre jünger […]« (Funke, »Cornelia Funke«). Die Spiegelwelt dient Funke zudem als Erklärung für andere magische Gegenstände ihrer früheren Romane, so findet sich im zweiten Reckless-Band dieser Verweis auf das zentrale Plot-Objekt ihres früheren Romans Der Herr der Diebe: »In Lombardien drehte sich ein Karussell, das aus Kindern Erwachsene und aus Erwachsenen wieder Kinder machte […]« (Funke, Schatten 22). [^]
  10. »Es gab durchaus Momente, in denen Johns Gewissen ihn auf die Anklagebank setzte. Schließlich hätte er dieser Welt auch Erfindungen bescheren können, die sie gesünder und gerechter für ihre Bewohner machte« (Funke, Garn 15 f.). [^]
  11. Ausnahmen bilden zuvor nur kleinere Werkzeuge (wie eine Taschenlampe), die Jacob aus seiner Welt mit in die Spiegelwelt gebracht hat, die aber nie entscheidend für die Entwicklung des Plots werden. [^]
  12. Stephanie Dreier, die in ihrer Dissertation zu Reckless Vater und Sohn ebenfalls als Kontrastfiguren darstellt, interpretiert dieselbe Passage als eine Episode, »[which] highlights Jacob’s personal growth: airplanes were a long-time source of frustration related to his father that the hero learns to overcomes in order to save his friends« (Dreier 132). Dreier kommt zu diesem Schluss dabei vor dem Hintergrund eines Vergleichs der Figuren in Reckless mit den Figuren in den die Romanreihe inspirierenden Märchentexten. Betrachtet man jedoch Jacobs Einstellung zu Magie und Technologie im weiteren Verlauf der Handlung, so kann dieselbe Attestierung von »personal growth« nur schwerlich aufrechterhalten werden. [^]

Autorin

Im Anschluss an ein Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft sowie der Europäischen Literaturen in Berlin arbeitete Dana Steglich als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Humboldt-Universität zu Berlin. Derzeit forscht sie im Graduiertenkolleg Gegenwart/Literatur der Universität Bonn an ihrem Dissertationsprojekt zum Werk Lord Dunsanys.

Konkurrierende Interessen

Die Autorin hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

References

Zitierte Werke

Dowd, Tom, Michael Fry, Michael Niederman und Josef Steiff. Storytelling Across Worlds: Transmedia for Creatives and Producers. Focal Press, 2013.

Dreier, Stephanie. Old Fables and their New Tricks: Exploring Revisionist Fairytale Fantasy in Selected Texts by Cornelia Funke and Svetlana Martynchick. 2018. The University of British Columbia, Dissertation. open.library.ubc.ca/cIRcle/collections/ubctheses/24/items/1.0369283

Funke, Cornelia. Cornelia Funke. Die Offizielle Homepage. www.corneliafunke.com/de/spiegelwelt.

Funke, Cornelia, Hg. Mein Reckless Märchenbuch. Dressler, 2012.

Funke, Cornelia. Reckless: Das goldene Garn. Dressler, 2015.

Funke, Cornelia. Reckless: Lebendige Schatten. Dressler, 2012.

Funke, Cornelia. Reckless: Steinernes Fleisch. Dressler, 2010.

Freund, Wieland. »Cornelia Funke knöpft sich reaktionäre Märchen vor«. , 13. Sep. 2010. www.welt.de/kultur/article9613379/Cornelia-Funke-knoepft-sich-reaktionaere-Maerchen-vor.html.

Lötscher, Christine. »Die Rückkehr der Magie durch alte Gemäuer: Die Stadt als phantastische Kulisse und kulturell codierter Raum«. kjl&m 63.4 ( 2011): 32–40.