Das als durchweg innovative Enzyklopädie der antiken Mythen angelegte Verwandlungsepos des augusteischen Dichters Ovid (43 v. Chr. bis 17 n. Chr.) offenbart laut jüngsten literaturwissenschaftlichen Analysen und Rezeptionsforschungen eine postmodernistische Poetologie, die auf die phantastische Literatur der Gegenwart einen bedeutenden Einfluss auszuüben scheint (Janka und Stierstorfer; Janka, Naso magister vivus, mit weiterer Literatur). Dieser Beitrag geht der Frage nach, inwieweit die phantastischen Handlungselemente der Metamorphosen1 (wie allfältige Gestaltverwandlungen, Fabelwesen und das Einwirken göttlicher und halbgöttlicher Aktanten in menschliche Handlungswelten und Konfliktstrukturen) durch Techniken komplexen Erzählens und präcineastischer Vergegenwärtigung eine eigentümliche Akzentuierung erhalten. Anhand einer Typologie von Erzählerfiguren und einer Funktionsanalyse ausgewählter Binnen- und Schachtelerzählungen sollen Ovids wandlungsreiche Arrangements des Mythenerzählens und Mythenerlebens als protophantastische Techniken komplexer Erzählkunst erwiesen werden. Der zweite Teil des Aufsatzes geht der filmischen Umsetzung von ovidisch inspirierten Narrationen über mythologische Hybridwesen in aktuellen Kinoblockbustern nach. Beide Teile sind dadurch eng miteinander verbunden, dass Ovids hyperrealistische und effektvolle Schilderungen von zentralen Ereignissen der Metamorphosen sich auch in aktuellen Kinoblockbustern wiederfinden. Dabei ist der Nachweis zu führen, dass Ovids Adaptionsweise des Mythos und dessen Zuspitzung auf die Verwandlung hin sich im Medium des bio-mythologischen Romans bis hin zu aktuellen Kinofilmen fortsetzt. Der Beitrag trägt somit der These Rechnung, dass sich Ovids spielerisch detailverliebter und handlungsbetonter Umgang mit Sagen bis in die gegenwärtigen Romane und Filme niederschlägt.
1. Disposition und Programm der Metamorphosen Ovids: Makrostrukturen protophantastischen Erzählens
Eine Betrachtung von Disposition und Programm der Metamorphosen Ovids legt Makrostrukturen protophantastischen Erzählens innerhalb der für die antike Literatur ausgesprochen avancierten narrativen Organisation des mythologischen Materials offen. Der extrem verdichtete Paratext des nur vier Verse umfassenden Prooemiums nimmt nach dem Bekenntnis zu innovativer Ästhetik und der Nennung des Leitthemas »Gestaltwandel« auch die universelle stoffliche Reichweite und die Darstellungstechnik in den Blick:
Ov. met. 1,1–4:
In nova fert animus mutatas DICERE formas corpora; di, coeptis – nam vos mutastis et illa – aspirate meis primaque ab origine mundi ad mea perpetuum DEDUCITE tempora carmen!
Neuem strebe ich zu, vom Wandel zu dichten der Formen in neue Körper; ihr Götter, dem Werk – ihr habt’s ja verwandelt – helft mit Inspiration und vom ersten Ursprung des Kosmos fortlaufend führt herab bis zu meiner Zeit die Erzählung!2
Die selbstreflexiven metapoetischen Schlüsselbegriffe perpetuum carmen und deducite carmen bezeichnen die makrostrukturellen und mikrostrukturellen Prinzipien von Ovids Erzähltechnik, deren »phantastischer« Inhalt mit der titelgebenden Zweiwortverbindung mutatae formae erfasst ist, den der Autor als seine lateinische Version des griechischen Wortes metamorphōseis an den Anfang stellt. Dass die etwa 250 Geschichten von Gestaltverwandlungen in rund 12 000 lateinischen Hexametern, die Ovid auf drei »Pentaden«, also Fünfergruppen, von Gedichtbüchern (volumina) verteilt hat, als ein fortlaufendes Ganzes (perpetuum carmen) Aufnahme finden können, verdanken sie indes nicht nur dieser komplexiven thematischen Verbindung, sondern viel eher dem raffinierten erzähltechnischen Verknüpfungsmanagement. Der Gesamtduktus erweckt den Anschein (grober) chronologischer Linearität und lässt sich schematisch wie in Abb. 1 abbilden.
Der »Sinn« (animus) des Primärerzählers, der ausweislich seiner einleitenden Worte dem steten Wandel verpflichtet ist und der die Gottheit selbstbewusst zu dementsprechender Inspiration in die Pflicht nimmt, setzt diese Vorliebe anhand der Vielfalt von Erzählstimmen um, an die er die kunstreiche Ausarbeitung kleinerer und feinerer Einzel- oder Binnenerzählungen delegiert. Indem er sie zum durchgehenden Mittel der Erzählorganisation erweitert, verleiht er dem traditionellen epischen Apologos, also der Binnenerzählung des Odysseus in Homers Odyssee und des Aeneas in Vergils Aeneis, eine ganz innovative Dimension als verwandlungsepisches Strukturelement.
2. Komplexes Erzählen als Verfahren von Ovids innovativem lusus
Dieses auch in »technischer« Hinsicht komplexe Erzählen erweist sich als spezifisches Verfahren von Ovids Ästhetik: Diese beruht wesentlich auf der Polyphonie des proteischen Primärerzählers und der etwa vierzig Binnenerzähler, die als Instanzen von Kohärenz und Dissonanz des »Gedichtkontinuums« (carmen perpetuum) fungieren (vgl. hierzu bes. Wheeler; Barchiesi; Rosati; Horstmann, jeweils mit reichhaltiger weiterer Literatur). Die quantitative Auswertung des Gesamtwerkes ergibt für den Primärerzähler, also den extradiegetischen Erzähler, einen Anteil von ca. 48%. Die Sekundärerzähler, also die intradiegetischen Binnenerzähler, übernehmen mit ca. 37% über ein Drittel des Textes. Direkte Reden umfassen ca. 15%.
Für die technische Konturierung dieser Binnenerzählungen sind die jeweiligen personae relevant. In zehn prominenten Fällen setzt der Primärerzähler raumgreifendere Binnenerzähler über teilweise mehrere hundert Verse hinweg als Erzähler und Fokalisierer zweiter (oder höherer) Ordnung ein. Diese Scharnierfiguren strukturieren das Erzählkontinuum und vermitteln eine subjektive Figurensicht, deren Neufokalisierung die aus traditionellen Quellen geschöpften mythologischen Erzählungen innovativ in Szene setzt und diesen dabei vielfach ein präcineastisches, also die Imagination multisensorisch stimulierendes Gepräge verleiht (vgl. Fondermann, der sich allerdings auf Dramatisierung durch erzählerische Visualisierung beschränkt). Ovid schafft dabei ganz heterogene Konstellationen: Im vierten Buch erzählen die drei Töchter des Minyas, des Gründers von Orchomenos bei Theben in Böotien, als neben Pentheus und Lycurgus »die klassischen Verächter des Dionysos« (Bömer, Kommentar, Buch IV–V 11), während des Dionysosfestes beim Weben die Geschichten von Pyramus und Thisbe, Mars und Venus, den Liebschaften des Sonnengottes sowie von der Vereinigung von Salmacis und Hermaphroditus zu einem gemischtgeschlechtlichen Wesen (Ov. met. 4,55–388). Auf die poetischen Weberinnen folgen mit den Musen etablierte Dichtungsgöttinnen als interne Langstreckenerzählerinnen (Ov. met. 5,300b–678), zu denen sich an strukturell paralleler Stelle am Ende der zweiten Pentade Orpheus, das thrakische Urbild von Gesang und Dichtung, als Pendant gesellt (Ov. met. 10,148–739).2 Besondere Prominenz unter den Binnenerzählern genießen weiterhin Nestor, der älteste griechische Teilnehmer am trojanischen Krieg und damit Ur-Experte zu den Geschichten aus dem epischen Kyklos (Ov. met. 12,169–576), sowie der Verwandlungsphilosoph, »Sektengründer« und Lehrdichter Pythagoras (Ov. met. 15,75–478).
3. Erzähl-Fluss Achelous als Binnenerzähler erbaulicher Göttergeschichten vor heroischem Publikum
Als Fallbeispiel dient der Erzähl-Fluss Achelous, den Ovid als Binnenerzähler erbaulicher Göttergeschichten vor heroischem Publikum gegen Ende des zweiten Werkdrittels (Ov. met. 8,547–9,88) inszeniert. Der akarnanische Flussgott Achelous fungiert in seinem Höhlenhaus als Gastgeber und Erzähler, der einen Resonanzraum für eigene Geschichten wie für diejenigen der bei ihm auf dem Heimweg von der calydonischen Eberjagd einkehrenden Helden eröffnet.3 Der Fluss ist nämlich gerade von Regengüssen angeschwollen, als der athenische Superheld Theseus mit seinen Gefährten Pirithous und Lelex bei ihm einkehrt (Ov. met. 8,547–570). Die Erzählung imaginiert Achelous also doppelgestaltig sowohl als Fließgewässer als auch als anthropomorph ikonisierte Gottheit. Gerade in Achelous’ Höhle entwickelt sich ein quasi-philosophischer Heroendialog über die Glaubwürdigkeit der Überlieferungen von »phantastischer« göttlicher Straf- und Verwandlungsmacht. Der notorisch wendige Flussgott ist als Strafinstanz und Bestrafter doppelt erfahren. So berichtet er, wie er selbst aus Zorn die Najaden, die ihn beim Rinderopfer nicht bedacht hatten, in die Inselgruppe der Echinaden verwandelt habe (Ov. met. 8,577–610). Daraufhin sieht er sich höhnischer Kritik des als »Atheist« charakterisierten Pirithous, des Sohnes des Erzfrevlers Ixion, ausgesetzt (Ov. met. 8,616–618a). Diese sucht zuvorkommend der altersweise und fromme Lelex durch erbauliche Gegengeschichten zu entkräften: In gut hundert Versen bietet er die märchenhafte Geschichte vom frommen alten Ehepaar Philemon und Baucis aus Phrygien, die im Kontrast zu ihrer schnöden Umwelt die inkognito bei ihnen einkehrenden göttlichen Gäste Iuppiter und Mercurius freundlich aufnehmen und als Belohnung die gemeinschaftliche Verwandlung in zwei denkwürdige Bäume erhalten (Ov. met. 8,618b–724). Daraufhin zeigt sich besonders der tonangebende Theseus derart bewegt, dass er weitere Wundertaten der Götter zu hören begehrt, den Erzähler Achelous also zu einem weiteren Vordringen in den »phantastischen« Raum des Wechselspiels von menschlicher Freveltat und göttlicher Rache durch physische Zersetzung des Frevlers (griech. theomachos) veranlasst: Nachdem er zunächst Proteus als Beispiel für vielfältigen Gestaltwandel exponiert und damit die Phantastik des Gestaltwandels multipliziert hatte, gelangt er assoziativ zu seiner ultimativen Frevlererzählung von Erysichthon (zu Ovids Umgang mit Vorbildern und Quellen vgl. Bömer, Kommentar, Buch VIII–IX 232–238, der die Geschichte indes mit Wilamowitz zur »epischen Burleske« verharmlost). Dieser war nämlich der Vater der Mestra, die wiederum dem Proteus in ihrer Verwandlungskunst ähnelte (Ov. met. 8,725–728a).
Im Rahmen seiner Erzählung von der Hybris des Thessaliers Erysichthon, der einen sprechenden, gewaltbekundenen Namen (wörtlich: »Erdaufreißer«) trägt und der allen Warnungen zum Trotz eine der Fruchtbarkeitsgöttin Ceres heilige Eiche fällt, entfaltet der Binnenerzähler Achelous ein unheimliches Szenario mit Aktanten aus einer alptraumhaften phantastischen Gegenwelt. Ceres, die Göttin der Sättigung, beauftragt auf Bitten der trauernden Baumgöttinnen (Dryaden) eine Berggöttin (Oreade) damit, Ceres’ absolute Anti-Figur, die personifizierte Hungerdämonin, aufzusuchen, um diese gegen Erysichthon zu hetzen. Die dramatische Begegnung und deren für den Hochmütigen fatale Auswirkungen erzählt der Flussgott – unter Verwendung von direkter Rede und drastischer visueller Vergegenwärtigung, welche die Hungerdämonin mit Quasi-Kamerablick abtastet und bloßstellt – folgendermaßen: Ov. met. 8,788–808, 814–820 (in der deutschen Übersetzung von Markus Janka):
»Es liegt ein Ort am äußersten Ende des eisigen Skythiens, 788 Trauerboden, unfruchtbar, verödet und baumlos der Landstrich. Eiseskälte trostlos wohnt dort mit Blässe und Schlottern 790 und die Hungerdämonin; die soll in das Innerste dringen in dieses Frevlers Verbrechertum, das heiß sie! Nicht Fülle darf sie besiegen, sie soll bezwingen im Kampf meine Kräfte! Auch die Wegstrecke darf dich nicht schrecken, nimm meinen Wagen, nimm mit Zügeln zum Lenken auf hoher Bahn meine Schlangen!« 795 Sie lieh ihn aus, die durchflog die Luft auf geliehenem Wagen, kam in Scythien an und am Gipfel des stockstarren Berges (Caucasus nennen sie ihn) ließ die Schlangenhälse sie locker, und die Hungerdämonin sah sie auf steinigem Acker, wie sie mit Krallen und Zähnen zupfte an spärlichen Gräsern. 800 Bloß Gestrüpp war ihr Haar, gehöhlt die Augen und Blässe im Antlitz, Lippen ganz grau vom Schmutz, erstarrt von Fäulnis die Kehle, zäh ihre Haut, durch die man die Eingeweide erblickte. Ihre Knochen ragten verdorrt aus verkrümmtem Geschlechtsteil, statt eines Bauchs war für Bauch noch Platz; es schwebe, so meint man, 805 ihre Brust und werde allein vom Brustkorb gehalten; wachsen ließ die Gelenke Magersucht und an den Knien schwoll die Rundung und riesig gediehen Knöchelödeme. […] 808
Ceres’ Weisungen setzt die Hungerdämonin, obwohl sie ihre Gegenkraft ist, um, durch die Luft wird vom Wind sie 815 zum befohlenen Haus getragen und sofort betritt sie dieses Frevlers Gemach, den im Tiefschlaf völlig Entspannten (denn es war in der Nacht) umschlingt sie mit beiden Ellbogen, haucht sich diesem Mann ein, ja Kehle und Brustkorb und Mundraum füllt ihr Atem, verbreitet in leeren Adern das Hungern […] 820
Im ersten Abschnitt zitiert Achelous die Beauftragung der Oreade zur Herbeiholung der Hungerdämonin durch Ceres, deren direkte Rede eine weitere Fokalisierungsebene eröffnet (Ov. met. 8,788–795). In der Reihe der Personifikationen für das eisige Grauen des als vegetationslos stilisierten Scythien setzt Fames (Hunger) nach Pallor (Blässe) und Tremor (Schlottern) den bildgewaltigen Schlusspunkt. Nach geraffter Schilderung der Flugreise der Oreade auf dem Schlangenwagen zum Kaukasus wird deren visuelle Kontaktaufnahme mit der Hungerdämonin aus der Perspektive der Angekommenen fokussiert. Das »steinige« Ackerland präfiguriert die monströse Gestalt des Ungeheuers, die gleichsam aus der Totale beim (unterweltlich vergeblich) anmutenden Versuch der Mangelausbeutung mit allen Leibeskräften gezeigt wird (Ov. met. 8,796–800). Die folgende Beschreibung des personifizierten Hungers, die Achelous als allwissender Binnenerzähler gibt, tastet deren Gestalt von oben nach unten kameragleich ab und lenkt die Blickrichtung von einer quasi halbnahen Aufnahme von Haaren, Augen und Gesicht über die Nahaufnahme von Mund und Kehle, um dann wieder gewissermaßen halbnah Bauchraum, Unterleib und den Platz für den Magen zu fokussieren, dann auf Brustkorb und Knie zu blenden und so ein Gesamtbild der Gestalt gewordenen Auszehrung zu malen (Ov. met. 8,801–808). Die bildgebende Rahmung lenkt hier also die erzählerische Dramaturgie. Achelous’ direkt anschließende Schilderung von Fames’ Mission reicht von der Totalen, welche den Flug der Dämonin einfängt, über die Halbtotale, die sie beim Betreten von Erysichthons Haus und beim Vordringen in sein Schlafzimmer begleitet, bis zur halbnahen und nahen Perspektive bei der Inkubation des unstillbaren Hungers in Kehle, Mund und Brustkorb des Opfers (Ov. met. 8,814–820).
4. Die kreative Transformation von ovidischen Prätexten zu Erysichthon in Jane Alisons Der Liebeskünstler (2003): Eine »Bio-Mythographie« im Gewand des phantastischen historischen Romans
Die kreative Transformation von ovidischen Prätexten zu Medea und Erysichthon in Jane Alisons Der Liebeskünstler (2003) belegt die postmoderne Fortschreibung von Ovids Erzähltechnik: In Alisons »Bio-Mythographie« im Gewand des phantastischen historischen Romans lassen sich ringkompositorische Erzählstruktur und Zeitebenen (vgl. Janka, »Ovidische Bio-Mythographie« 174–179) als Aktualisierung ovidischer Erzähltechnik lesen. Dabei wird deutlich, dass die eben zitierten Prätexte Ovids als Motoren des Fokalisierungswechsels Triebkraft entfalten.
Eine Analyse der ringkompositorischen Erzählstruktur und der Zeitebenen von Alisons Roman rund um das Skandalon von Ovids nach wie vor mysteriöser Verbannung ergibt das folgende Bild (vgl. Janka, »Ovidische Bio-Mythographie« 174–179):
Prolog (7–14): Soldaten des Regimes exekutieren Augustus’ Verbannungsurteil gegen Ovid im Jahr 8 n. Chr.
Erster Teil (15–75): Neun Kapitel Rückblende (Analepse) in das Jahr vor Ovids Relegation: Schwarzmeerurlaub Ovids infolge einer schöpferischen Krise; Begegnung mit Xenia, der weiblichen Hauptfigur des Romans, dem fiktiven, aus dem Phasierland stammenden Medea-Modell des fiktiven Ovid, die als »Barbarin«, Naturmensch, Heilerin, Schadenszauberin, Muse, Congenia und Prophetin konturiert ist.
Zweiter Teil (77–162): Elf Kapitel über Rückreise und Neuanfang in Rom: Durch die Kaiserenkelin Julia als Patronin und Xenia als Muse gewinnt Ovids neues Projekt, eine Medea-Tragödie, an Fahrt.
Dritter Teil (163–229): Doppelte Katastrophe von Beziehungs- und Publikationsdrama: Die Eifersucht Xenias und die Enthüllung von Ovids Geheimnis mit Julia führt zur Verbannung beider.
Epilog (231–236): Der Leser begleitet Ovid vom Hafen in Ostia auf der Überfahrt bis nach Tomi.
Im ersten Teil des Romans beschreibt Alison im Zusammenhang mit Ovids Annäherung an sein unheimliches künftiges Medea-Modell Xenia eine Szene, in der für den Protagonisten Dichtung und Lebenswirklichkeit verschwimmen. Da seine Geliebte eine Art Inkubation zu erleben scheint, erinnert sich Ovid an die von ihm ersonnene Hungerdämonin aus der Erysichthon-Geschichte seiner Metamorphosen. Da diese als Reminiszenz der Romanfigur verkleidete intertextuelle Referenz auf Ovids Hauptwerk mit einer geographischen Koinzidenz (Kaukasus) und sinnlichen Äquivalenzerfahrung (Inkubation) verquickt ist, führt Alison in ihrer postmodernen Phantastik paradigmatisch vor, wie protophantastische Literatur der römischen Antike sprichwörtlich zu neuem Leben erwacht:
Eine merkwürdige Brise kam auf, die den Geruch von etwas Kaltem und Verrottetem mit sich führte, als sei sie aus den Tiefen der Erde aufgestiegen. […] Er [Ovid] stellte sich vor, dass dieses Etwas, das in ihr [Xenias] Zimmer eingedrungen war, nicht einfach ein Lufthauch war, sondern etwas im übertragenen Sinne. Vielleicht war es ein subtiles Etwas, das aus dieser wilden, fruchtbaren Landschaft stammte, eine Art grimmiger Geist dieses Ortes, der sich auf ihrer schlafenden Brust niederließ und wie ein Hauch in ihren Mund einströmte und dadurch eine Verwandlung herbeiführte: das Einfließen eines anderen Wesens.
Gibt es diese Dinge in der Luft, die nachts wie ein Atemhauch in einen Menschen eindringen können? Er selbst hatte sich das vorgestellt in seiner Geschichte von Erysichthon und Hunger. Seine Gestalt des Hungers war monströs gewesen, nichts als Knochen und eiternde Wunden und Verlangen; sie war durch das Fenster des gierigen Erysichthon hereingeflogen, hatte sich auf seine Brust gehockt und gewartet, bis er schnarchte und sein Mund sich weit öffnete, und dann hatte sie sich selbst auf schreckliche Art in ihn gehaucht. Schaudernd und erregt fiel Ovid jetzt ein, dass sein Geschöpf, der Hunger, hier im Kaukasus gewohnt hatte. Wieder, wieder verkörperte das Mädchen seine Gestalten, als ob er es selbst heraufbeschworen hätte. (52 f.)
Die Imaginationsimpulse des Phantastischen, welche die Erzähltechnik dieses Textes prägen, greifen Ovids Prätext vielschichtig auf: Das »Kalte und Verrottete« rekurriert auf Frigus iners (Ov. met. 8,790). Die Inkubation durch einen »Geist des Ortes« wird im Weiteren explizit mit dem Vorgang verglichen, bei dem in den Metamorphosen Fames von Erysichthon Besitz ergreift (Ov. met. 8,791–793 und 8,818–820). Die Gestalt des personifizierten Hungers wird von Alison – im Vergleich mit Achelous’ Vergegenwärtigung – eher knapp beschrieben, während die Inbesitznahme selbst sich enger an die ovidische Erzählkameraführung anlehnt. Alisons Pointe liegt in der folgenden Engführung von Leben und Werk ihrer Ovid-Figur: Die Erinnerung an die (in den Metamorphosen beschriebenen) phantastischen Erzeugnisse seiner schöpferischen Einbildungskraft bringt Alisons Ovid dazu, in seiner innerhalb der Fiktion realen Freundin Xenia eine Verkörperung seiner früheren Phantasiegebilde zu erkennen. Im romfernen Raum, im Kaukasus »am Ende der Welt«, scheinen Wirklichkeit und Einbildung zu verschwimmen. Die in den Metamorphosen durch die Technik der Binnenerzählung realisierte Verschiebung des phantastischen Raumes in weit entrückte Fernen verlagert die postmoderne Romannarration in das Innengeschehen des reflektierenden Handlungsträgers Ovid.
Die Linie von Ovids actionreicher Mythenversion, die Alisons Roman vorlagenbewusst aktualisiert, setzt sich auch in aktuellen cinematographischen Werken fort.
5. Adaption von Ovids präcineastischen Narrationstechniken im Gegenwartskino: zu Digitalisierungsstrategien antiker Hybridwesen in aktuellen Kinoblockbustern
5.1. Von computeranimierten Schlangenhaaren zu rasanten Rundflügen mit Pegasus vor dem Green-Screen – Hochphase von Blockbustern mit mythologischen Sujets
Die erzähltechnische Visualisierung der personifizierten Fames und Erysichthons Befall durch sie weist in ihrer physiologischen und psychopathologischen Eindringlichkeit starke Ähnlichkeiten mit einem Filmscript auf und untermauert so die These von den präcineastischen Zügen der Metamorphosen Ovids. Der Theologe und Antikenrezeptionsforscher Reinhold Zwick verknüpft den gegenwärtigen Erfolg des vielfach aus Ovids Hauptwerk entlehnten antiken Mythos im Film eng mit dem Durchbruch der digitalen Technik und bescheinigt dem antiken Substrat vielseitige Anreize zur Demonstration der Möglichkeiten neuester digitaler Technik (Zwick, »Metamorphosen« 15). Weitere plausible Thesen zum Revival der cineastisch adaptierten griechisch-römischen Mythologie sollen die Frage beantworten helfen, warum mythologische Sujets seit dem Millennium wieder Hochkonjunktur haben. Sodann sollen drei Beispiele zeigen, auf welche Weise mythologisch motivierte Hybridwesen mithilfe modernster Technik animiert werden. Exemplarisch seien die Hydra von Lerna, die Medusa, das Flügelpferd Pegasus und der Zyklop Polyphem betrachtet.
Zwick fokussiert in erster Linie die technischen Errungenschaften und berücksichtigt weniger gesellschaftliche Entwicklungen als Grund für eine Renaissance der antiken Mythologie im Film. Ihm zufolge erfährt die antike Mythologie in der zeitgenössischen Kinolandschaft deshalb einen so starken Auftrieb, weil sie sich dazu eignet, die darin enthaltenen phantastischen Elemente wie vielgestaltige Hybridwesen mit der neuesten Computer-Technik eindrucksvoll in Szene zu setzen. Denn eine Vielzahl von animierten Fabelwesen findet etwa in die erste Verfilmung von Percy Jackson Eingang (Zwick, »Metamorphosen« 16): Dass technische Errungenschaften des digitalen Filmzeitalters zur Darstellung von mythologischen Fabelwesen dienlich sind und damit zur visuellen Umsetzung von antiken Mythen, insbesondere der Odyssee, reizen, betont auch der Althistoriker Andreas Goltz:
Zweifellos bedeutet die Darstellung solch phantastischer Gestalten wie der Kyklopen oder der Meeresungeheuer Skylla und Charybdis, der Seelen verstorbener Helden im Hades oder der nicht wenigen wundersamen Verwandlungen in der Odyssee – etwa der Gefährten in Schweine durch Kirke oder des Odysseus zum Bettler durch Athene – stets eine Herausforderung für die Trickspezialisten, doch findet hier jede Verfilmung die ihrer Zeit und ihren technischen Möglichkeiten entsprechende Antwort: Sei es nun durch den Einsatz von Modellen, Spiegeltechnik, Lichteffekten und viel Nebel, oder die Verwendung digitaler Effekte, die in den letzten Jahrzehnten die Tricktechnik im Film revolutioniert haben. (111)
Die Althistorikerin und Didaktikerin Anja Wieber führt den seit dem Millennium anhaltenden Erfolg der Antikenfilme dagegen eher darauf zurück, dass diese den Rezipienten das Angebot des Eskapismus und das der Identifikation unterbreiteten (Wieber 13 f.). Adäquate Möglichkeiten der Immersion in mythologisch motivierte Welten und der Entwicklung von Empathie mit göttlichen und halbgöttlichen Helden lassen sich unseres Erachtens unter anderem auch an der aufwändigen technischen Gestaltung der Pro- und Antagonisten in neuesten Werken der Phantastik festmachen. Die These, die Wieber in ihrem Artikel exemplarisch an dem prominenten Beispiel GLADIATOR (US/GB 2000, Regie: Ridley Scott) mit Russell Crowe in der Hauptrolle belegt, schließt natürlich auch den mythoshaltigen Antikenfilm ein. Denn Wieber verweist auf aktuelle Adaptionen der Odyssee, des Argonauten- und des Hercules-Mythos, um die Popularität der Antike für den gegenwärtigen Film zu demonstrieren (vgl. Wieber 13). Diese These ist unseres Erachtens tragfähig. Denn mythoshaltige Antikenfilme bieten dem Publikum durchweg ambivalente Helden an, wie z. B. Hercules, Theseus und Odysseus oder auch Medea, Atalanta oder Deianira, die zur Identifikation einladen. Diese Darbietung von ambivalenten Helden und auch Heldinnen erweist sich für ein westliches Publikum als besonders ansprechend, weil nicht wie in der christlichen Mythologie ein einseitig positives Heldenbild propagiert wird, sondern weil jeder Heros wie auch jeder »normale« Mensch seine Schwächen hat, die auch dargestellt werden. Somit kann sich ein nicht perfekter Rezipient auch besser mit einem nicht perfekten Helden identifizieren. Des Weiteren fördern die entrückten Anderswelten der antiken Mythologie mit ihren übernatürlichen Fabelwesen den Eskapismus, weil sich der Rezipient dadurch in ein magisches Setting versetzen kann. Dieser Eskapismus wird durch die realgetreue Inszenierung antiker Fabelwesen noch verstärkt. Der Deutschdidaktiker Ulf Abraham erweitert Wiebers These dahingehend, dass spätestens seit Wolfgang Petersens Kassenschlager TROY (US/GB/MT 2004) im Kino ein Boom des antiken Mythos herrsche (Abraham 66). Wägt man die Thesen von Zwick und Goltz bzw. von Wieber und Abraham ab, so gelangt man zu dem Ergebnis, dass die Renaissance mythologischer Sujets in Kinoblockbustern wohl auf einer Mischung aus eskapistischen Neigungen in globalen Krisenzeiten von Zuschauerseite und dem Ausloten der neuen Möglichkeiten digitaler Technik von Seiten der Produzenten besteht.
Diese neuen, nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der Technik haben jedoch auch ihre Schattenseiten. Karin Richter kritisiert etwa die Tendenz zu sinnentleerten actionlastigen Handlungsgerüsten zugunsten einer Inszenierung von aufwändigem Kampfgeschehen in aktuellen mythopoetischen Fantasy-Filmen (vgl. Richter 1). Auffällig ist daher, dass die antiken Mythen gerade in gegenwärtigen Fantasy- oder Phantastik-Filmen mit großen Action-Anteilen adaptiert werden, von denen viele eine bildgewaltige Computeranimation nutzen. Als prototypische Beispiele hierfür dienen die Literaturverfilmungen zu den ersten beiden Bänden von Rick Rioardans Percy-Jackson-Serie: The Ligthning Thief (2005) und The Sea Monsters (2006). Einer ähnlichen Ästhetik folgen die Produktionen CLASH OF THE TITANS (US 2010, Regie: Louis Leterrier), WRATH OF THE TITANS (US/ES 2012, Regie: Jonathan Liebesman) und IMMORTALS (US 2001, Regie: Tarsem Singh). In diesen Werken stehen Halbgötter, wie z. B. Perseus und Theseus, im Mittelpunkt, die sich von den Göttern abwenden oder die sogar gegen den Olymp rebellieren, da sie sich von dem Pantheon um Zeus und seine »Familie« ungerecht behandelt fühlen. Im Laufe ihrer Bewährungsproben finden sie jedoch zu ihrem Glauben zurück.
Bei diesen wie auch bei den folgenden postmodernen mythopoetischen Filmen variiert die Technik der Adaption der Mythen sehr stark. Einige Fantasy- und Phantastik-Filme entlehnen lediglich ein einzelnes Element aus dem antiken Mythos. So hat in PIRATES OF THE CARIBBEAN: AT WORLD’S END (US 2007, Regie: Gore Verbinski) die Wassernymphe und Atlastochter Calypso einen größeren Auftritt als Zauberin und Herrscherin über das Element Wasser. In diesem Fall wird eine Person aus der homerischen Odyssee herausgegriffen und für den Plot in geeigneter Weise modifiziert.
Andere Fantasyfilme übernehmen gebündelt mehrere mythologische Figuren, Settings4 oder Gegenstände und fügen sie eklektisch und hybridisierend in postmoderne Abenteuer neuer Heldenfiguren ein. Beispiele hierfür bieten WONDER WOMAN (US 2017, Regie: Patty Jenkins) und SINBAD: LEGEND OF THE SEVEN SEAS (US 2003, Regie: Tim Johnson und Patrick Gilmore). Während der erstgenannte Film das Männer bekämpfende Volk der Amazonen aus dem trojanischen Sagenkreis, den Kriegsgott Ares als Antagonisten und andere Götter und Mischwesen aufgreift, bekommt es der Held Sinbad im letzteren Film bei seiner Odyssee durch die Weltmeere mit Zyklopen, Greifen, dem Seeungeheuer Ketus und der zänkischen Göttin Eris zu tun. Wieder andere Filme verknüpfen unterschiedliche Mythen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, eklektisch miteinander: ICE AGE: CONTINENTAL DRIFT (US 2012, Regie: Steve Martino und Mike Thurmeier) parodiert neben dem Sirenen-Mythos auch den Atlantis-Mythos, der ursprünglich aus Platons Dialogen Timaios und Kritias stammt.
Unzählige Filme kontaminieren ganze Mythen mit mythologischen Einzelelementen aus anderen Sagenkomplexen: Als Beleg hierfür lassen sich u. a. der Disneys-Kinofilm HERCULES (US 1997, Regie: John Musker und Ron Clements), eine weitere Hercules-Verfilmung mit Timothy Dalton namens HERCULES (US 2005, Regie: Roger Young) und CLASH OF THE TITANS anführen, dem der Perseus-Mythos zugrunde liegt. Zu den gängigen Standardversionen, wie sie in Mythenlexika dokumentiert sind, fügen diese Titel auch frei erfundene Szenen hinzu.
Auch an den beiden Verfilmungen von Percy Jackson ist zu ersehen, dass darin gesamte Einzelmythen, wie z. B. der bekannte Medusa-Mythos oder der Hydra-Mythos, aus diversen Sagenzyklen Eingang finden und miteinander im Rahmen einer modernisierten Heldenreise amalgamiert werden (vgl. Zwick, »Zeus & Co.« 247–249). Außerdem gibt es Filme, die lediglich mythologische Narrative adaptieren, um einen neuen Plot zu generieren, wie das Beispiel von Pan’S LABYRINTH/EL LABERINTO DEL FAUNO (ES/MX 2006, Regie: Guillermo del Toro) belegt. Denn darin entlehnt der Regisseur del Torro erzählerische Strukturen des Persephone-Mythos (vgl. Clarke 45).
Nach diesem Ansatz zur Kategorisierung verschiedener Adaptionsweisen von mythischen Versatzstücken sei anhand von drei aktuellen Filmen den zwei zentralen Fragen nachgegangen, auf welche Weise mythologische Hybridwesen in den fantastischen Plot eingebaut sind und wie diese Monster technisch inszeniert werden, um ihnen eine möglichst realistische Erscheinungsform resp. Hülle zu verleihen: PERCY JACKSON & THE OLYMPIANS: THE LIGHTNING THIEF (US/CA 2010, Regie: Chris Columbus), PERCY JACKSON: SEA OF MONSTERS (US 2013, Regie: Thor Freudenthal) und CLASH OF THE TITANS.
5.2. Die Hydra als digitaler Riesendrache mit feuerspeienden 3D-Flammen und Medusas individuelle Schlangenhaare
Als erstes begegnen wir der mehrköpfigen Hydra. Diese taucht in der Verfilmung PERCY JACKSON & THE OLYMPIANS: THE LIGHTNING THIEF auf. Hier wird das Monster der Hydra für ein mythenunkundiges Publikum als Drache familiarisiert: Die drei Freunde Percy, Annabeth und Grover betreten nach der Enthauptung der Medusa und nach einem Zwischenstopp in einem Motel den Parthenon-Tempel von Nashville, weil sich dort eine magische Perle befindet, welche die Halbgötter für ihre Unterweltreise benötigen. Als der Nachbau des griechischen Tempels, in dem auch eine Athene-Statue mit Nike-Gottheit in der Hand steht, frei von Touristen ist, schmuggeln sie Percy und Co. in den Hauptsaal. Sie müssen nämlich die gerade genannte Perle stehlen, die sich auf deren Helm befindet. Dabei stoßen sie jedoch auf eine Putzkolonne, die den Tempel reinigt. Kurzerhand betäubt Annabeth diese mit Pfeilen. Percy fliegt unterdessen mit seinen Flügelschuhen zum Kopf der Athene und entwendet die besagte Perle. Unmittelbar darauf erwacht die fünfköpfige Putzkolonne plötzlich wieder und spricht einstimmig zu Percy: »Wir haben Sie erwartet, Mr. Jackson. Geben Sie uns den Herrscherblitz und wir lassen Sie gehen!« (PERCY JACKSON & THE OLYMPIANS: THE LIGHTNING THIEF, 01:03:41–01:04:02) Daraufhin spuckt einer der Reinigungskräfte Feuer. Sodann steigt Rauch auf und die Mitglieder der Putzkolonne verschmelzen zu einer mehrköpfigen Hydra, die die Halbgötter mit einer Feuersbrunst nach Drachenmanier angreift.
In dieser Adaption wird der Mythos in seinem Kern verändert: So ist die Hydra zwar, wie etwa bei Ovid (Ov. met. 9,192–193), ein mehrköpfiges Ungeheuer, dessen Köpfe sich nach dem Abtrennen verdoppeln. Sie dient jedoch offensichtlich dem Titanen Kronos, der Monster aus dem Tartarus zu Percy schickt, um ihm den Blitz des Zeus zu entwenden. Obwohl das Feuer in der Standardversion der natürliche Feind der wasseraffinen Schlange namens Hydra ist, kann sie in dieser Verfilmung Feuer speien und wird daher als in der Phantastik etablierter Drache inszeniert. Dadurch wirkt dieses antike Fabelwesen auch auf mythenunkundige Rezipienten vertraut. Mithilfe ihrer vielen Köpfe kann sie zugleich aus mehreren Mäulern Feuer spucken und erscheint daher noch gefährlicher als ein »normaler« Drache. Dadurch wird im Sinne dieser actionhaltigen Phantastik-Verfilmung eine spannende Kampfhandlung evoziert. Zudem kämpft der Heros gegen diesen »Drachen« mit einem Schwert und wehrt mit seinem Schild das Feuer ab, sodass auch das Kampfgeschehen gegen die Hydra wie ein prototypischer Drachenkampf inszeniert wird. Dem Drachen wird in diversen Sagen – man denke nur an den höfischen Roman Tristan (Gottfried von Straßburg, 1210) – ebenfalls der Kopf abgeschlagen. In der Standardversion wurde das Monster mit einer Fackel bekämpft, sodass darin das Element Feuer gegen das Element Wasser, für das die Hydra eigentlich steht, siegt.
In einer kurzen, von der Community for Entertainment Artists publizierten Dokumentation auf der Plattform YouTube5 stellt die Firma »Digital Domain«, die zu den weltweit führenden Special-Effect-Herstellern gehört und die 1997 Oscars für TITANIC (US 1997, Regie: James Cameron) und THE FIFTH ELEMENT (FR 1997, Regie: Luc Besson) gewonnen hat, Hintergründe zur Inszenierung des Hydra-Kampfes vor. Diese war ihr erstes Großprojekt in Bezug auf eine Schlacht mit einem Fabelwesen. Kelly Port, der VFX Supervisor, also der Projektmanager bei Film- und Computerspielproduktionen, der für die visuellen Effekte verantwortlich zeichnet, erklärt, dass für die Überschwemmungsszene der Hydra mit Wasser physikalische Simulationen erstellt wurden. Dadurch sollte einerseits der Fluss des Wassers natürlich wirken, aber andererseits auch als künstlich beeinflusst durch die Macht von Percy Jackson erscheinen. Dazu stellte man 3D-Modelle von Wassermassen her, die dann gerendert wurden. Auch für das Feuer, das die Hydra aus ihren Mäulern spuckt, haben die Trickspezialisten mehrere Simulationen erstellt, die sie dann durch Rendern real gestalteten. Um die Feuerstrahlen möglichst realistisch erscheinen zu lassen, wurde mittels HDR-Technik (High Dynamic Range Image), auch Hochkontrastbild genannt, versucht, die Lichtverhältnisse durch einen von Feuer erleuchteten dunklen Tempel real erscheinen zu lassen. Die Feuerelemente wurden in der Stadt Vancouver B.C. gefilmt, die neben Los Angeles und New York eine der wichtigsten nordamerikanischen Filmstädte ist. Die Feuersbrunst besteht aus zwei Phasen: Erst erscheint im Rachen des Ungeheuers ein blaues Gas, das sich in einem nächsten Schritt in eine Feuersbrunst verwandelt. Sodann geht der Animation Supervisor Erik Gamache genauer auf das realistische Ins-Leben-Rufen der Hydra ein. Diese habe man bewusst als Hybrid aus Drache und Schlange inszeniert, um einerseits einen heroischen Kampf zu evozieren und um andererseits die Säulen des Parthenontempels in Nashville, wo die Hydraszene stattfindet, optimal einzubeziehen, sodass die langen Hälse der Hydra hinter den Säulen hervorschnellen können bzw. zwischen den Säulen Platz haben. Die Produzenten haben sich zudem gegen eine in der Romanvorlage vorkommende Chimäre entschieden, weil dieses Mischwesen aus Löwe, Ziege und Schlange auf die Zuschauer lächerlich wirken könnte. Nach der Evokation von 3D-Modellen der Hydra wurde diese durch ein aufwändiges muscle- and skin-system, also durch Visualisierungsvorschläge für die Muskel- und Hautpartien, ins Leben gerufen. Die Köpfe sind als eigene sich streitende und gegenseitig beim Zubeißen behindernde Individuen realisiert, um zu plausibilisieren, dass Percy und seine Helfer nicht sofort aufgefressen werden. Insgesamt betrieb das Studio für eine realgetreue Inszenierung der Hydra höchsten Aufwand, sodass das Wesen zwar einerseits einen »echten« Eindruck erweckt, auf der anderen Seite jedoch mit Action-Effekten wie aus einem Computerspiel wie der Final-Fantasy-Saga angereichert wirkt. So taucht auch in der gerade genannten prominenten Computerspielreihe die Hydra als Drachenmonster in diversen Teilen auf.6 Bei diesem Kampf muss der Zuschauer beispielsweise gleichzeitig auf zehn sich unterschiedlich bewegende Drachenköpfe, mehrfache Feuersbrünste und riesige Wassermassen achten. Bei der Entstehung der Hydra sieht man große Rauchschwaden und beim Sieg über die Hydra wird diese von einer weißen starren Masse als Akt der Versteinerung überzogen. Insgesamt mündet dieser ambitionierte Versuch eines realgetreuen Kampfes gegen die Hydra in ein taktisch vielfältiges computerspielaffines Kampfgewirr.
Percys Beschützer Grover kann die Hydra schließlich erst durch den Einsatz des Schlangenhaupts der Medusa als Vehikel zur Versteinerung des Monsters besiegen. Dieses Haupt der Medusa hat im Film das Antlitz von der Schauspielerin Uma Thurman, das wohl mit der Motion-Performance-Technik kreiert wurde. Dazu werden neben den Gesichtszügen auch Gestik und Mimik von Personen digitalisiert. Beim Akt der Versteinerung schreit das Medusenhaupt kurz stumm auf, wobei das Monster sowohl die Augen aufreißt als auch die Augenbrauen nach oben zieht. Dies dient wohl der Steigerung der Dramatik beim beginnenden Akt der Versteinerung, der eine sukzessive Gestaltverwandlung nach dem Muster von Ovids Metamorphosen darstellt.
Die Inszenierung von Medusas Schlangenhaar mithilfe neuester Computertechnik lässt dieses sehr lebendig erscheinen. So bewegt sich jede einzelne Schlange in eine andere Richtung und scheint ein eigenes Individuum zu sein. Dazu hat man offensichtlich mithilfe eines 3D-Modells sich bewegende Schlangen erzeugt und anschließend realgetreu gerendert. In älteren Filmen wirken die Bewegungen von Fabelwesen eher abgehackt-stakkatohaft, weil sie mit Stop-Motion-Technik produziert wurden, als eine digitale Evokation des Fabelwesens am Computer noch nicht möglich war. Als Beispiel ist hier das Original von CLASH OF THE TITANS (US, Regie: Desmond Davis) von 1981 anzuführen. Hier wirkt Medusa eher wie eine nachträglich ins Bild eingebaute Knetfigur.
5.3. Pegasus als digitaler Flughengst mit detailreichen 3D-Schwingen
Wie Percy verfügt auch sein Namensvetter Perseus über seine digitalen Gadgets, um seinen Feinden den Garaus zu machen. So hilft ein digital evozierter Pegasus dem geraden erwähnten Helden im Remake von CLASH OF THE TITANS VON 2010. Darin zähmt Perseus ein schwarzes Flügelross mit Fingerspitzengefühl, von dem die Priesterin Io sagt, dass »kein Mensch […] je auf ihm geritten [ist]« (CLASH OF THE TITANS, 00:36:19–00:36:22), und das am Anfang als bedrohliches Fabelwesen inszeniert wird. Dieses Pferd hat ihm wohl sein Vater Zeus geschickt, damit er es als Schlachtross gegen den titanischen Kraken verwenden kann. Dadurch kommt nicht nur ein rasanter Luftkampf gegen die Tentakel des Kraken in Gang, sondern auch eine Jagd nach dem Medusenhaupt, das fliegende Harpyien entwendet haben (vgl. CLASH OF THE TITANS, 01:22:31–01:26:28). Zugleich rettet Perseus bei diesem Rundflug über eine Küste am Mittelmeer auch die Königstochter Andromeda. Um den Eindruck von Höhe und Weitläufigkeit zu vermitteln, wurde vor einem Greenscreen gedreht. Dies bedeutet, dass man die Szene vor einem grünen Hintergrund abgefilmt und im Nachhinein mithilfe digitaler Technik die Landschaft während des Rundflugs sowie einen titanischen Riesenkraken eingefügt hat. Dies wird an einer kurzen Dokumentation auf der Plattform YouTube ersichtlich, die den Rezipienten einen Blick hinter die Kulissen des Films werfen lässt. In dieser erkennt man Perseus-Darsteller Sam Worthington, der vor grünem Hintergrund und mit Seilen befestigt auf einer Art Sattel reitet, aus dem dann durch digitale Bearbeitung der Pegasus wird. Darüber hinaus ist Alexa Davalos, die Darstellerin der Andromeda, zu sehen, die an eine Holzapparatur auf einem Steinfelsen vor dem Meer gebunden ist. Als Hintergrund lässt sich ebenfalls ein Greenscreen erkennen.7 Auch diese Szene wirkt durch die Spezialeffekte wie einer die Handlung vorantreibenden Kurzsequenz eines Computerspiels entnommen. So muss der Zuschauer gleichzeitig die Verfolgungsjagd zwischen Perseus und den Harpyien verfolgen, während der riesige Krake sich mit unzähligen Tentakeln aus dem Wasser erhebt, Wassermassen zum Beben bringt und Teile der Stadt Argos zerstört. Unterdessen betrachten hunderte von Anhängern einer apokalyptischen Sekte diese Spektakel, während Andromeda als Opfer vor dem Antlitz des Kraken pendelt. Dieser wird kurz darauf – wie die Hydra in der gerade erwähnten Verfilmung von Percy Jackson – von einem Medusenhaupt, das Perseus in der Hand hält, versteinert. Die Steinbrocken des zerfallenen Monsters stürzen wie bei einem Erdbeben ins Meer. Bei diesem dicht gedrängten Aufgebot an Effekten, die mit einer Massenszene verbunden sind, fühlt man sich wie mitten in ein Computerspiel versetzt, welches auch parallel zum Film mit dem gleichen Titel produziert wurde.8 Für diese visuellen Effekte zeichnet die renommierte Firma MPC-Film verantwortlich, die auch Teile von X-MEN oder HARRY POTTER produziert und damit auch Oskars gewonnen hat.
Im Film CLASH OF THE TITANS springt im Unterschied zur Standardversion des Mythos die Figur des Pegasus nicht aus dem Rumpf der Medusa wie in der ovidischen Version, worauf Heinz-Peter Preußer verweist:
Wir […] erblicken den Pegasus, das geflügelte Pferd, das im Film als Geschenk der Göttin Io an Perseus erscheint, nicht dem Körper der erschlagenen Medusa entspringt, wie der Mythos erzählt. (84)
Zu ergänzen ist, dass das geflügelte Pferd Pegasus hier dem Perseus nicht von Io, sondern von Zeus geschenkt wird, der trotz des Streits mit seinem Sohn immer ein wachsames Auge auf ihn hat und ihm am Ende seiner Abenteuer offenbart, dass er ihm das magische Schwert und Pegasus zu seiner Verteidigung geschickt hat (vgl. CLASH OF THE TITANS, 01:13:35–01:14:10). Diese Gestaltung betont den göttlichen Beistand und bereitet die Bekehrung des Perseus vom Ungläubigen zum Gläubigen vor. In der Standardversion von Ovid (Ov. met. 5,256–5,259) erhält nicht Perseus, sondern der Heros Bellerophon das Flügelpferd von Poseidon, damit er das Monster der Chimäre unschädlich machen kann.
Auch in der Fortsetzung WRATH OF THE TITANS dient derselbe Pegasus einerseits als tierisches Vehikel, um Perseus am Anfang des Films in den Norden von Argos zu transportieren, wo Königin Andromeda eine Schlachtordnung aufstellt (vgl. WRATH OF THE TITANS, 01:19:39–01:21:33). Andererseits fungiert Pegasus als Schlachtross für Angriffe aus der Luft. So transportiert es den Heros direkt in den Schlund des bösartigen Kronos, sodass Perseus den sogenannten göttlichen Speer von Trium, eine besondere Kombination aus göttlichen Waffen, in das Innere des Monsters schleudern und somit dessen Existenz beenden kann (vgl. WRATH OF THE TITANS, 01:17:47–01:21:13). Perseus bemächtigt sich in diesen beiden Filmen entgegen der Standardversion des männlichen Flügelpferdes. Bei Ovid erhält Perseus nur die Flügelschuhe des Hermes, um die Medusa zu besiegen, aber kein fliegendes Pferd. Die Filmemacher geben wohl gegenüber den Flügelschuhen dem geflügelten Pferd den Vorzug, weil sich dadurch ergiebigere Actionszenen im Sinne dieser actionreichen Fantasy-Verfilmungen generieren lassen. Zudem lässt sich durch neueste digitale Technik ein möglichst realistisches Flügelpferd kreieren, an dessen Schwingen sich jede einzelne Feder bei Luftzügen detailgetreu bewegt (vgl. CLASH OF THE TITANS, 00:35:49–00:36:11). Interessant ist hierbei, dass Pegasus in diesem Zweiteiler – wie bereits oben gesagt – als ein von Zeus gesandtes Geschenk funktionalisiert wird. Somit siegt Perseus in beiden Endkämpfen gegen den riesigen Kraken und danach gegen den überdimensionalen Kronos nur mit Gottes Hilfe gegen das Böse. Dadurch eröffnen die Filme die christliche resp. monotheistische Lesart, dass man nur durch die Unterstützung von Gott gegen das Böse siegen kann.
5.4. Polyphem als mechatronischer Superroboter im Schottenrock
Auch in der Verfilmung des Romans PERCY JACKSON: SEA OF MONSTERS triumphiert Percy nicht ohne Beistand gegen archaische Mächte. Darin brechen Percy, Annabeth und Tyson zur Zyklopeninsel auf, um dem Riesen das goldene Vlies zu stehlen und um Grover zu befreien. Ares’ Tochter Clarisse schließt sich im Gegensatz zum Roman der Truppe als Helferfigur an und muss nicht aus den Händen von Polyphem befreit werden. Dadurch ist die Truppe um eine weibliche Identifikationsfigur reicher. Mit dem Vlies möchten sie wie im Roman einen magischen Baum, der ihr Trainingscamp durch einen unsichtbaren Schutzwall gegen Feinde abschirmt, heilen. Im Film bewohnt der Zyklop eine Höhle in einer stillgelegten Achterbahn, die sich auf der Insel der Zauberin Circe, welche dort einen Freizeitpark errichtet hat, befindet. Da Polyphem – wie Tyson berichtet – bei der Eröffnung des Parks einige Besucher verspeist hat, ist der Park mittlerweile stillgelegt und dient als gruseliges Setting (vgl. PERCY JACKSON: SEA OF MONSTERS, 01:09:50–01:10:05). Um zur Höhle des Polyphem zu gelangen, müssen sich die Halbgötter in das Innere einer düsteren Achterbahn namens »Sturz in den Tod« (PERCY JACKSON: SEA OF MONSTERS, 01:10:46) begeben. Mit einer langsamen Gondel werden sie auf verrosteten Gleisen in den Schlund der höhlenartig konzipierten Achterbahn gebracht. Nachdem sie in das Innere transportiert worden sind, entdecken Percy und seine Freunde viele Totenschädel von Satyrn, die auf Pflöcken aufgespießt sind, und heruntergekommene Dekoration von Jahrmarktbuden. Clarisse sieht beim Betreten der Höhle zudem einen Felsblock und erwähnt, dass Polyphem einst Odysseus auf seinem Heimweg mit einem Felsblock in seiner Höhle eingesperrt habe (vgl. PERCY JACKSON: SEA OF MONSTERS, 01:11:59–01:12:06). Dies weckt die Erwartungshaltung, dass bald ein Riese auftauchen wird. Sobald die Halbgötter in der Höhle sind, wirft Polyphem mit Einrichtungsgegenständen um sich, da er riesigen Hunger hat und bereits seine komplette Schafsherde verspeist hat. Satyr Grover, der sich als »Zyklopen-Kammerzofe« (vgl. PERCY JACKSON: SEA OF MONSTERS, 01:13:18) mit einem künstlichen Riesenauge auf der Stirn verkleidet hat, versucht, ihn zu besänftigen. Der dümmliche und aufgrund seiner Augenverletzung, die ihm einst von Odysseus zugefügt wurde, kurzsichtige Zyklop durchschaut die plakative Verkleidung nicht. Nach einem erfolgreichen Versuch von Percy, dem Zyklopen, der Rastafari-Locken am Kopf trägt und mit einem Kilt bekleidet ist, das goldene Vlies von seinem Rücken zu stehlen, verfolgt das wild gewordene Monster die Freunde durch die gesamte Höhle. Dabei schleudert er Percy über einen Tisch, schlägt dessen Bruder Tyson in hohem Bogen zu Boden und spuckt Clarisse brüllend an. Dabei ruft er den Halbgöttern Folgendes nach: »Hinterhältige Brut, ich reiß’ euch in Stücke« (PERCY JACKSON: SEA OF MONSTERS, 01:15:57–01:16:30)! Der Satyr Grover lässt danach einen riesigen Kronleuchter aus Eisen auf den Zyklopen hinabfallen, indem er mit seinen Bocksfüßen ein Seil lockert. Dadurch wird der Zyklop für eine kurze Zeit unschädlich gemacht, sodass die Halbgötter das Fell aus der Höhle bringen können. Am Ende stürmen die Helden aus der Höhle, die Tyson im letzten Moment mit dem Felsblock verschließt, der sich beim Höhleneingang befindet, indem er dessen Stütze löst. Auf diese Weise wird der Zyklop Polyphem so in seine eigene Höhle eingeschlossen, wie er selbst einst Odysseus und seine Gefährten eingesperrt hat. Wutentbrannt brüllt er aus der verschlossenen Höhle und befiehlt den Halbgöttern, zurückzukommen (vgl. PERCY JACKSON: SEA OF MONSTERS, 01:10:18–01:16:30). Diese Änderung ist als Verkehrung des Polyphem-Mythos bei Homer (Odyssee 9,105–566) und Ovid (Ov. met. 13,755–779) anzusehen, die damit als Antitexte Bedeutung gewinnen. Der Zyklop wird hier im Gegensatz zu den Fabelwesen in den beiden anderen, gerade besprochenen Filmen nicht mithilfe digitaler Technik ins Leben gerufen, sondern durch ein sehr realistisch wirkendes Kostüm. Besonders lebendig erscheint das Gesicht von Polyphem, dessen Augen und Mund mithilfe einer Fernsteuerung bewegt werden können. In einem Video auf der Plattform YouTube wird im Rahmen eines Blicks hinter die Kulissen gezeigt, wie das Gesicht funktioniert.9 Es ist wider Erwarten nicht digital inszeniert, sondern mittels eines »animatronic head«, das bedeutet, dass der Kopf und Teile des Gesichts (wie z. B. Auge, Augenbraue, Nase und Mund) z. B. per Fernbedienung steuerbar sind. Dafür wurde das renommierte Studio »Amalgamated Dynamics, Inc.« beauftragt, das wie die beiden vorher erwähnten Studios mit Oscars prämiert worden ist und für die späteren Teile der ALIEN-Reihe die Menschen tötenden Monster, die ursprünglich H. R. Giger kreierte, animierte und ebenso für STARSHIP TROOPERS (US 1997, Regie: Paul Verhoeven) die unansehnlichen, käferartigen »bugs«. In dieser Szene sind offensichtlich nur die zerberstenden Felsen, die Polyphem bei der Verfolgung der Protagonisten zerstört, mit digitaler Technik inszeniert. Die Szene wirkt ähnlich actionreich wie die vorher beschriebenen Szenen.
Im Vergleich zu Ovid und Homer bleibt unverändert, dass der Zyklop ein primitiver und einäugiger Schafhirte ist, der jedoch im Gegensatz zur Standardversion aus Gier bereits alle seine Tiere verspeist hat. Zudem stellt ihn der Film wie einen grobschlächtigen Schotten mit Tätowierungen im Gesicht, die an indigene Kulturen erinnern, dar. Indem die Helden den Zyklopen am Ende der Episode in seine eigene Höhle einschließen, rächen sie sich für dessen Verbrechen an Odysseus. Durch diese Veränderung resp. Fortsetzung der Standardversion können die Halbgötter den Zyklopen abschütteln und führen ihm direkt vor Augen, wie hinterhältig es ist, eingesperrt zu werden. Auch das Auffressen von Gefährten des Helden wird nicht explizit dargestellt: Hier erzählt Tyson den Helden auf dem Weg zur Insel, dass der Zyklop bereits viele Menschen verspeist hat. Dies lässt eine Inszenierung des Zyklopen als hochgefährlich und archaisch zu, ohne dass das Geschehen in diesem Kinder- und Jugendmedium zu brutal würde.
Fazit: Kostspielige Specialeffekte zur Generierung von Action nach Vorbild von Computerspielen als Hyperimitation ovidischer Visualisierungstechnik
So lässt sich konstatieren, dass mythologische Hybridwesen aus der antiken Tradition seit dem Boom der digitalen und mechatronischen Technik im Film um die Zeit des Millenniums sehr aufwändig und realistisch inszeniert werden. Sie wirken daher weniger »gemacht« als die Fabelwesen aus den 1980er-Jahren, die in Stop-Motion-Technik entstanden sind. Jedoch werden diese Effekte nicht sparsam, sondern großzügig nach dem Vorbild von Computerspielen, die häufig parallel zu den Filmen erscheinen und dieselben Titel tragen, eingesetzt. So reiht man meist zur Evokation von Action Kampf an Kampf im Rahmen einer Heldenreise nach Campbell aneinander, um die Fabelwesen als Antagonisten oder Helferfiguren in den Plot zu integrieren. Dabei arbeiten die Special-Effect-Studios, die extra zur formvollendeten Gestaltung der Fabelwesen von den Produzenten hinzugezogen werden, was enorme zusätzliche Kosten in Millionenhöhe verursacht, mit viel Detailtreue: Auf diese Weise erkennt man an der Haut der Hydra einzelne glänzende Schlangenschuppen, am Flügel des Pegasus wehende Federn, am Kopf der Medusa sich selbstständig bewegende Schlangen und bei Polyphem ein vom Einstich des Pfahls des Odysseus gerötetes Auge, das beweglich ist. Bemerkenswert erscheint, dass die digitale Evokation von Fabelwesen offensichtlich noch aufwändiger ist als die Umsetzung durch einen Roboter. Nur so erklärt sich die Inszenierung humanoider Monster wie des Zyklopen durch Robotik, während tierische Fabelwesen wie Pegasus, der Kraken oder die Hydra durch digitale Technik ins Leben gerufen werden. Das Auftauchen von Fabelwesen ist jedoch häufig durch Rauch, Wasser oder Feuer begleitet, um dem Geschehen mehr Dramatik zu verleihen. Auf diese Weise lassen sich viele Szenen im Laufe der Queste der Protagonisten als Stationen mit Kämpfen gegen Fabelwesen linear sequenziell gestalten. Dadurch entsteht neben der vorhersehbaren Kontinuität eine vielseitige Stimulation von Reizen, die aufgrund des hohen Grads an Explizitheit jenes Potenzial für »Kino im Kopf«,10 wie es in den prototypischen Textstellen von Ovids Metamorphosen angelegt ist, einschränkt, sodass die perfektionistische technische Inszenierung der Hybridwesen oftmals eher einem Feuerwerk und einer Kampforgie nach dem Vorbild von Computerspielen als einer sinnvollen narrativen Einbettung in den Plot gleicht. Dies unterstreicht etwa Zwick:
Aber die spannenden Ausgangskonstellationen werden meist zerrieben im Gewitter der digitalen Effekte, die nach einer Weile mehr Langeweile als Spannung verbreiten. (»Metamorphosen« 16)
Diese actionreiche Form der Umsetzung von Mythen scheint an ein jüngeres Publikum angepasst, das mit Computerspielen aufgewachsen ist und eine Addition von unzähligen Spezialeffekten eher faszinierend als für die Fantasie hinderlich empfindet. Den Trend zur Überinszenierung in Special-Effekt-Blockbustern à la THE MATRIX (US 1999, Regie: Andy und Larry Wachowski) konstatiert auch Kluge:
Das Innovationspotenzial der neuen digitalen Medien kann sich in den Grenzziehungen des klassischen Kinofilms nicht wirklich entfalten. Es führt hier im besten Falle zu neuen, vielleicht wirtschaftlich interessanten Distributionsformen oder zu einer weiteren Perfektionierung von Spezialeffekten – zu Effekten, welche schließlich als »Images beyond Imagination« sogar die Entzauberung des Kinoerlebnisses bewirken können. Denn seitdem in der »Matrix« des digitalen Rasterbildes alles nur Vorstellbare denkbar und mit Hilfe des Computers auch machbar wurde, wurde zugleich das Geheimnis der lebenden Bilder enttarnt: Die »berechenbar« gewordene Bildermagie erscheint auf den Screens als ein Widerspruch in sich. (423)
Die in Ovids Metamorphosen innovativ entfaltete protophantastische Erzähltechnik weist zwar in der Akkumulation von faszinierend verstörenden, ja schockierenden Elementen der physiologischen und psychopathologischen Visualisierung auf die Inszenierungsmodi der Digitaltechnik des Gegenwartskinos voraus. Ovids »Imaginationsstimulanzien« lassen der Vorstellungskraft trotz oder gerade wegen der Buntheit und Vielfalt der das Phantastische vergegenwärtigenden Erzählinstanzen und deren Vereindringlichungsdichte jedoch noch genügend Raum zur Reflexion, um das Poetische der Bildermagie nicht anzutasten, sondern den animus auch des Rezipienten in nova zu entführen.
Notes
- Im Folgenden abgekürzt mit »Ov. met.«. [^]
- Deutsche Übersetzung von Markus Janka. [^] [^]
- Als weitere raumgreifendere Binnenerzähler fungieren folgende Gestalten des Mythos: Buch 7: Aeacus (aus Ägina) und Cephalus (als Athen) (Ov. met. 7,523–865) im Umfeld der Expansion des kretischen Herrschers Minos nach Attika; Buch 9: Alcmene und Iole (Ov. met. 9,281–393) als prägende weibliche Bezugs- und Fokalisationsfiguren aus dem Sagenkreis um Heracles; Buch 11: Ceyx, der Friedensfürst aus dem mittelgriechischen Trachis, und Onetor (Ov. met. 11,291–378), die Peleus, Achilles’ thessalischem Vater, der in Trachis Zuflucht sucht, Geschichten erzählen; Buch 13: die Meeresnymphe Galatea, die auf Sizilien der Scylla vom Zyklopen Polyphem, der aus Eifersucht ihren Geliebten Acis tötete, erzählt (Ov. met. 13,750–897); Buch 14: Achaemenides und Macareus (Ov. met. 14,158–440), zwei vergessene Kameraden des Odysseus, die sich bei den Aeneaden wiederfinden und somit als Scharnierfiguren zwischen Homers Odyssee und Vergils Aeneis inszeniert sind. [^]
- Vgl. Bömer, Kommentar, Buch VIII–IX über geographische Unstimmigkeiten, die aber für die Erzähltechnik irrelevant bleiben (71). [^]
- Zur Funktionalisierung der mythologischen Settings in Ovids Metamorphosen im Vergleich zur postmodernen Fantasy und Phantastik sei auf den Artikel von Janka und Stierstorfer verwiesen. [^]
- https://www.youtube.com/watch?v=7k8Thb83uF0 (21. Aug. 2018). [^]
- Fandom Inc. New York: Final Fantasy. Hydra. Online abrufbar unter: https://finalfantasy.fandom.com/wiki/Hydra_(enemy) (15. Okt. 2019). [^]
- https://www.youtube.com/watch?v=FwEUXeh_ka0 (22. Aug. 2018). [^]
- https://www.youtube.com/watch?v=5LncKJcUa90 (15. Okt. 2019). [^]
- https://www.youtube.com/watch?v=W60PZ5DfvP0 (2. Sept. 2018). [^]
- Fondermann betont zu Recht, dass bei Ovid phantastische Elemente wie z. B. unterschiedlichste abnorme Hybrid- und Fabelwesen im Vordergrund stehen. Damit geht auch eine detailgenaue Beschreibung dieser Figuren einher. Er betitelt diese Narratologie treffend als »Imaginationsstimulanzien« (vgl. Fondermann 44–56).
Autoren
Markus Janka, Univ.-Prof. Dr., seit 2007 Lehrstuhl für Klassische Philologie und Fachdidaktik der Alten Sprachen an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Studium der Klassischen Philologie, Geschichte und Germanistik an der Universität Regensburg. Dort 1997 Promotion mit der Dissertationsschrift zum Thema Ovid, Ars amatoria, Buch 2. Kommentar (publ. Heidelberg: Winter, 1997), 2003 Habilitation an der Universität Regensburg zum Thema Dialog der Tragiker. Liebe, Wahn und Erkenntnis in Sophokles’ ›Trachiniai‹ und Euripides’ ›Hippolytos‹ (publ. München: Saur, 2004). Seit 2007 Mitherausgeber der Zeitschrift Gymnasium. Seit 2016 Leiter des deutschen Programmkomitees und Principal Investigator des »International Research and Educational Programme The Past for the Present«. Seit 2019 Mitglied des Vorstands der Elisabeth-J.-Saal-Stiftung Humanistische Bildung in Bayern.
Michael Stierstorfer, Dr., von 2013–2016 Lehrbeauftragter, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrkraft für besondere Aufgaben am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur der Universität Regensburg. Dort Promotion zu Funktionalisierung griechisch-römischer Mythologie in der Mythopoesie. Forschungsschwerpunkte: Phantastik, literarisches Lernen und Leseförderung durch KJL. Von 2016–2018 Zweites Staatsexamen als Lehrkraft für Latein und Deutsch. Seit 2018 am Gymnasium Schäftlarn bei München als Fachleiter für Deutsch, Kooperation in diversen Projekten zur multimedialen Antikenrezeption in der KJL mit der LMU München. Mitherausgeber der Rezensionsrubrik für Fachliteratur zur KJL auf KinderundJugendmedien.de. Seit 2020 Mitglied der Kritikerjury des Deutschen Jugendliteraturpreises in der Kategorie »Kinderbuch« und in der Jury »App des Monats« der Akademie für KJL.
Konkurrierende Interessen
Die Autoren haben keine konkurrierenden Interessen zu erklären.
Filmografie
CLASH OF THE TITANS. Regie: Desmond Davis. US 1981.
CLASH OF THE TITANS. Regie: Louis Leterrier. US 2010 (DVD: Warner Bros 2010).
THE FIFTH ELEMENT. Regie: Luc Besson. FR 1997.
GLADIATOR. Regie: Ridley Scott. US/GB 2000.
HERCULES. Regie: John Musker und Ron Clements. US 1997.
HERCULES. Regie: Roger Young. US 2005.
ICE AGE: CONTINENTAL DRIFT. Regie: Steve Martino und Mike Thurmeier. US 2012.
IMMORTALS. Regie: Tarsem Singh. US 2001.
THE MATRIX. Regie: Andy und Larry Wachowski. US 1999.
PERCY JACKSON & THE OLYMPIANS: THE LIGHTNING THIEF. Regie: Chris Columbus. US/CA 2010 (DVD: Twentieth Century Fox 2010).
PERCY JACKSON: SEA OF MONSTERS. Regie: Thor Freudenthal. US 2013 (DVD: Twentieth Century Fox 2013).
PIRATES OF THE CARIBBEAN: AT WORLD’S END. Regie: Gore Verbinski. US 2007.
SINBAD: LEGEND OF THE SEVEN SEAS. Regie: Tim Johnson und Patrick Gilmore. US 2003.
STARSHIP TROOPERS. Regie: Paul Verhoeven. US 1997.
TITANIC. Regie: James Cameron. US 1997.
WONDER WOMAN. Regie: Patty Jenkins. US 2017.
WRATH OF THE TITANS. Regie: Jonathan Liebesman. US/ES 2012 (DVD: Warner Bros. 2012).
Zitierte Werke
Abraham, Ulf. Fantastik in Literatur und Film: Eine Einführung für Schule und Hochschule. Erich Schmidt, 2012.
Alison, Jane. Der Liebeskünstler. Roman. Diana Verlag, 2003.
Barchiesi, Alessandro. »Narrative technique and narratology in the Metamorphoses«. The Cambridge Companion to Ovid. Hg. Philip R. Hardie. Cambridge UP, 2002. 180–199. DOI: http://doi.org/10.1017/CCOL0521772818.013.
Bömer, Franz. P. Ovidius Naso. Metamorphosen: Kommentar, Buch IV–V. Winter, 1976.
Bömer, Franz. P. Ovidius Naso. Metamorphosen: Kommentar, Buch VIII–IX. Winter, 1977.
Campbell, Joseph. Der Heros in tausend Gestalten. S. Fischer, 1953.
Clarke, Jacqueline. »Gender Roles, Time and Initiation in PAN’S LABYRINTH and the Homeric Hymn to Demeter«. New Voices in Classical Reception Studies 10 (2015): 42–55.
Fondermann, Philipp. Kino im Kopf. Zur Visualisierung des Mythos in den »Metamorphosen« Ovids. Vandenhoeck & Ruprecht, 2008. DOI: http://doi.org/10.13109/9783666252822.
Goltz, Andreas. »Odyssee-Rezeption im Film – Moralische Normen und Konflikte in Epos und Adaption«. Odyssee-Rezeptionen. Hg. Andreas Luther. Verlag Antike, 2005. 109–124.
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