Die Klage, dass Erzählungen über die Zukunft heute nur noch in der Form von Dystopien erscheinen, ist weit verbreitet. Ob der in diesem Lamento enthaltene Befund, dass es früher anders war und in einer unbestimmten Vergangenheit positive Utopien vorherrschten, auch der Realität entspricht, ist allerdings nicht ausgemacht. Unabhängig von dieser Frage lässt sich aber festhalten, dass sich Dystopien seit geraumer Zeit großer Beliebtheit erfreuen; seien es Young Adult Dystopias wie die Hunger-Games-Bücher und deren Verfilmungen oder Fernsehserien wie BLACK MIRROR (GB 2011–2019, Idee: Charlie Brooker) und THE HANDMAIDʼs TALE (US 2017–, Idee: Bruce Miller) dystopische Stoffe gehören heute zum Grundbestand populären Erzählens.

In ihrem Kern versteht sich die Dystopie als kritisches Genre, das gesellschaftliche Missstände anprangert, indem sie diese ins Monströse steigert. Angesichts des anhaltenden Erfolgs dystopischer Stoffe drängt sich freilich die Frage auf, ob dieser kritische Impetus wirklich (noch) gegeben ist. Denn wie kritisch können Mega-Franchises wie Hunger Games oder THE HANDMAIDʼS TALE, die von Großkonzernen für ein Millionenpublikum produziert werden, wirklich sein? Ist die Dystopie nicht längst zu einem Bausatz von beliebig kombinierbaren Genre-Tropen verkommen?

In Absent Rebels, das auf ihrer Dissertation in Anglistik an der Universität Mannheim basiert, bleibt Annika Gonnermann nicht bei dieser Frage stehen, sondern geht einen Schritt weiter. Ihre Grundthese lautet, dass die Dystopie in ihrer heute dominanten Form und damit auch ein beträchtlicher Teil der Utopieforschung von einem überholten Modell ausgehen. In zentralen Punkten habe sich das Genre seit seiner Entstehung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nämlich kaum verändert; wie bei den Klassikern von Samjatin, Huxley und Orwell stehe in der zeitgenössischen Dystopie nach wie vor der Konflikt eines Einzelnen mit einem totalitären Regime im Zentrum. Damit erweise sich das Genre aber als zutiefst anachronistisch, »for totalitarianism has disappeared from the socio-cultural reality of most Western readers« (17). Heute, so Gonnermann u. a. an Zygmunt Bauman und Tom Moylan anknüpfend, ginge die Bedrohung – sowohl für den Einzelnen als auch den Planeten insgesamt – nicht mehr von einem übermächtigen Staat, sondern vom neoliberalen Wirtschaftssystem aus. Nicht Big Brother ist der Feind, sondern der globalisierte Kapitalismus, zu dessen Wesen es aber gehöre, dass er – hier bezieht sich die Autorin auf Fredric Jameson und insbesondere auf Marc Fishers Konzept eines »Capitalist Realism«– alle Lebensbereiche durchdringe. »[By] obscuring the very possibility of conceiving of alternative systems« (59) habe sich der moderne Kapitalismus gegen jede Form von Kritik immunisiert. Weder existiert eine Außenposition, von der aus eine sinnvolle Kritik formuliert werden könnte, noch gibt es innerhalb des Systems eine Führerfigur oder -gruppe, deren Sturz eine echte Verbesserung mit sich brächte.

Im Folgenden greift Gonnermann auf die von Rahel Jaeggi in ihrer Kritik von Lebensformen (2014) entwickelte Unterscheidung von externer, interner und immanenter Kritik zurück. Die klassische Dystopie verknüpft den Rebellionsplot mit Kritik von einem externen, vermeintlich moralisch überlegenen Standpunkt aus. Im kapitalistischen Realismus, der die aktuelle Ordnung als alternativlos erscheinen lasse, könne diese Position aber nicht mehr eingenommen werden. Um etwas Substanzielles über unsere Gegenwart auszusagen, muss das Genre ohne totalitäres Regime und Rebellion auskommen. Als einzige Möglichkeit der Kritik bleibt, die Widersprüche des Systems in einem dialektischen Prozess freizulegen.

Absent Rebels fordert nicht weniger als eine Neuorientierung der Dystopieforschung – weg vom traditionellen Modell, in dem die Überwindung der dystopischen Ordnung den Anbruch einer neuen Zeit verspricht, hin zu Romanen, bei denen es keinen eindeutig identifizierbaren Antagonisten mehr gibt. Dass entsprechende ›moderne Dystopien‹ tatsächlich existieren, führt Gonnermann beispielhaft an fünf Romanen vor. Nach einer relativ kompakten theoretischen Einführung analysiert sie in den folgenden fünf Kapiteln The Circle (2013) von Dave Eggers, The Heart Goes Last (2015) von Margaret Atwood (2015), The Feed (2002) von M. T. Anderson, Cloud Atlas (2004) von David Mitchell und Kazuo Ishiguros Never Let Me Go (2005). Die Abfolge der Texte ist dabei auch als Bewegung hin zu immer unkonventionelleren Formen zu verstehen. Während Eggersʼ Beststeller über einen allmächtigen Technologiekonzern à la Google oder Apple noch weitgehend traditionellen Mustern folgt – dessen Protagonistin Mae könnte rebellieren, sie entscheidet sich aber bewusst dagegen, da sie dessen Ziele für erstrebenswert hält –, steht bei Mitchell und Ishiguro ein Aufbäumen gegen das System nie wirklich zur Debatte. Dies gilt insbesondere für Never Let Me Down; dessen Protagonisten, Klone, die als medizinische Ersatzteillager dienen, stellen ihre Situation nie ernsthaft in Frage. Vielmehr akzeptieren sie ihre Rolle auf der untersten Stufe des kapitalistischen Verwertungszusammenhangs und erweisen sich ganz im Sinne Jamesons und Fishers als unfähig, echte Alternativen zu imaginieren. Wie Gonnermann in ihrer Analyse zeigt, ist die Hauptfigur Kathy wie auch andere Figuren Ishiguros, etwa Klara in Klara and the Sun (2021), dem jüngsten Roman des Nobelpreisträgers, eine unzuverlässige Erzählerin, der nicht bewusst wird, was sie alles nicht versteht. Sie hat das System, in dem sie aufgezogen wurde, so sehr verinnerlicht, dass ihr ein Ausbruch nie als Option erscheint. Die radikalste Utopie, zu der sie fähig ist, ein Aufschub ihres Einsatzes als Organspender um ein paar kümmerliche Jahre.

Die Analysen der fünf Romane, die mehr als zwei Drittel des rund dreihundertseitigen Textes und damit den Kern der Studie ausmachen, sind differenziert und auch ohne Kenntnis der untersuchten Texte gut nachvollziehbar. Gonnermanns Argumentation, dass die Romane einerseits als Dystopien gelten können, andererseits aber vom etablierten Rebellionsplot abweichen, ist überzeugend und wird von ihr detailliert belegt. Die Autorin kann somit ihre Ausgangsthese bestätigen, dass ein neuer, der aktuellen politischen und sozialen Situation adäquater Dystopie-Typus existiert, den die Forschung bislang weitgehend ignoriert hat.

Wie wohl die meisten Wissenschaftsbereiche ist auch die Utopieforschung tendenziell konservativ und wendet sich mit Vorliebe kanonisierten Titeln zu. Dass Gonnermann, anstatt die x-te Lektüre von Nineteen Eighty-four (1949) vorzulegen, neue Pfade beschreitet, ist auf jeden Fall zu begrüßen. Es wäre dennoch zu fragen, ob nicht gerade ihre Interpretation von Orwells Roman, dem Text, der ihr am häufigsten als Referenz dient, etwas einseitig ausfällt. So hält sie bei einem Vergleich der gescheiterten Rebellion von Violet, der Hautpfigur von Feed, und jener Winston Smiths fest, Letztere »constitutes a central plot device to regain power after the macro-systemic revolution has failed to gain momentum« (196). Diese Einschätzung lässt sich durch den Text allerdings kaum stützen. Nicht nur kommt Winston gar nie dazu, Schritte in Richtung einer Revolution zu unternehmen, im Gespräch mit OʼBrian macht dieser zudem klar, dass eine Rebellion zu keinem Zeitpunkt eine valable Option darstellte. Der allmächtige Staat Orwells mag heute nicht mehr der Ursprung allen Übels sein, die Unmöglichkeit, dem System zu entrinnen, das Fehlen einer Außenposition, ist bei ihm aber bereits gegeben.

Die Utopieforschung ist insgesamt stark inhaltlich orientiert, formal-ästhetisch ausgerichtete Untersuchungen stellen eine Minderheit dar. Absent Rebels bildet hier keine Ausnahme. Formale Fragen stehen in erster Linie bei der Analyse von Cloud Atlas im Zentrum, was kein Zufall ist, da Mitchells Roman innerhalb des Untersuchungskorpus den formal avanciertesten Text darstellt. Nicht nur ist jedes Kapitel in einem anderen, sehr distinkten Stil geschrieben – von einem Reisebericht des 19. Jahrhunderts bis zum Schrumpf-Englisch einer nach-apokalyptischen Epoche –, die Aufteilung der Kapitel, bei der die Erzählung jeweils in der Mitte abbricht und dann im zweiten Teil des Buches wieder aufgenommen wird, macht Cloud Atlas zu einem ungewöhnlichen Text. Gonnermann kann plausibel darlegen, dass dieses Arrangement dazu dient, »to map the invisible mechanisms of network power through the centuries, offering its readers a digestible map of cause and consequence« (241).

Letztlich dominiert aber auch bei Gonnermann die inhaltliche Analyse. Obwohl sie die Dystopie in einer Fußnote als »Menippean satire« im Sinne Wayne Booths bezeichnet (49 f.) und Darko Suvin mit seinem Konzept der kognitiven Verfremdung einen ihrer theoretischen Angelpunkte bildet, geht sie nur selten darauf ein, wie die Dystopie ihre Inhalte darstellt. Gerade die Frage, wie sich Satire und Verfremdung zu Jaeggis Kritik-Trias verhalten, könnte sich aber als sehr fruchtbar erweisen.

Angesichts von Gonnermanns Anspruch, der Utopieforschung neue Felder zu eröffnen, sei zudem nicht verschwiegen, dass ihre Studie methodisch eher konservativ, d. h. dezidiert textorientiert ist. Man kann dies in Zeiten, in der insbesondere in der Germanistik fast alles analysiert wird außer literarischen Texten, als wohltuende Bescheidenheit und Fokussierung verstehen. Es ließe sich aber argumentieren, dass die interessantesten und folgenreichsten Entwicklungen im Bereich der Dystopie heute just in den visuellen Medien geschehen. Gonnermanns Kritik, dass Produktionen wie THE HANDMAIDʼs TALE primär massentaugliche Unterhaltung darstellen, mag berechtigt sein, aber es hat eben auch seine Bedeutung, wenn Menschen, die gegen die Globalisierung oder die Präsidentschaft Donald Trumps demonstrieren, Guy-Fawkes-Masken oder Handmaid-Trachten tragen. Derartige Phänomene sind außerhalb von Gonnermanns Erkenntnisinteresse, was völlig legitim ist, aber um etwas Substanzielles über die Rolle der Dystopie in der Gegenwart auszusagen, wäre ein transmedialer und stärker rezeptionsorienter Ansatz wohl ebenso wichtig. Trotz der genannten Kritikpunkte ist Gonnermann mit ihrer Studie aber ein analytisch überzeugendes Plädoyer für eine Abkehr von den Klassikern und eine Erweiterung des Korpus gelungen.

Autor

PD Dr. Simon Spiegel ist Scientific Research Manager am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich im Forschungsprojekt ERC Advanced Grant FilmColors und Privatdozent an der Universität Bayreuth. Er ist Chefredakteur der Zeitschrift für Fantastikforschung und schreibt regelmäßig für diverse Publikationen über Film und verwandte Themen. 2019 ist seine Habilitationsschrift Bilder einer besseren Welt. Die Utopie im nichtfiktionalen Film bei Schüren erschienen. Weitere ausgewählte Publikationen: Utopia and Reality. Documentary, Activism and Imagined Worlds (Mitherausgeber, University of Wales Press 2020); Theoretisch phantastisch. Eine Einführung in Tzvetan Todorovs Theorie der phantastischen Literatur (p.machinery 2010); Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films (Schüren 2007).

Konkurrierende Interessen

Der Autor hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Zitierte Werke

Fisher, Marc. Capitalist Realism. Is There No Alternative? O Books, 2009.

Jaeggi, Rahel. Kritik von Lebensformen. Suhrkamp, 2014.