Die deutsche fantastische Literatur befindet sich in einer Umbruchsphase. Eine junge Generation von Autor*innen hat, inspiriert von US-amerikanischen Entwicklungen, zum Sturm auf Werte und Traditionen gerufen und fordert, mehr »progressive Phantastik« zu schreiben. Zugleich beschränkt sie sich nicht mehr darauf, neue fiktionale Welten zu erschaffen, sondern setzt mit Aktivismus auch in anderen Medien ein Zeichen gegen Marginalisierungen und für Diversität und soziale Gerechtigkeit. Judith und Christian Vogt gehören wohl zu den bekanntesten und am deutlichsten für diesen Wertewandel eintretenden Autor*innen der deutschen Phantastik.

Seit dem Debüt Im Schatten der Esse (2011), einem Rollenspiel-Roman für Das Schwarze Auge, hat Judith Vogt alleine und in Kooperation mit Partner Christian Vogt bis heute 22 Romane vorgelegt. Die Vögte, wie sie sich selber nennen, erhielten 2013 den Deutschen Phantastik Preis für den Roman Die zerbrochene Puppe (2012) und waren bereits mehrfach für den Seraph und den Kurd-Laßwitz-Preis nominiert, unter anderem mit Roma Nova (2018), Wasteland (2019) und Anarchie Déco (2021). Neben ihrer Tätigkeit als Autor*in ist Judith Vogt zudem als Mitherausgeber*in des Fanzines Queer*Welten und des Genderswapped-Podcasts tätig.1 Im Interview berichten die Vögte über ihre Tätigkeit als Aktivist*innen für Diversität und soziale Gerechtigkeit, wie sie Sprache in ihren Romanen genderneutral gestalten und wie ihnen fantastische Genres dabei helfen.

ZFF: Sie haben Ihre Karriere als Autor*innen mit Romanen für Rollenspiele angefangen, die allerdings noch unter dem Namen Judith C. Vogt erschienen sind. Mittlerweile haben Sie ein sehr breit aufgestelltes Portfolio und schreiben zumeist unter beiden Namen Judith und Christian Vogt. Wie kam es dazu und wie funktionieren Sie als Autorenpaar?

Judith Vogt: Alle Romane, auf denen »Judith C. Vogt« oder »Judith Vogt« steht, habe ich allein geschrieben. Das C. steht für meinen Zweitnamen, weil mir damals ein Freund sagte, wenn ich schon einen hätte, müsste ich den auch wie so ein George R. R. abkürzen. Ich hatte mich vor meinem ersten veröffentlichten Roman (Im Schatten der Esse, 2011) zehn Jahre lang bei Verlagen beworben und eigentlich nie vor, Rollenspielromane zu schreiben, bis mich andere Autor*innen auf einer Convention dazu ermutigt haben, es mal mit einem Roman zu Das Schwarze Auge zu versuchen. Rollenspielromanen haftet ja ein gewisses Stigma an, das auch nicht an mir vorbeigegangen ist, aber grundsätzlich hat mir die Arbeit innerhalb eines solchen bestehenden Erzählkosmos viel Spaß gemacht. Ein Jahr nach meinem Erstling hatten Christian und ich allerdings schon eine gemeinsame Idee, sodass wir auf Die zerbrochene Puppe zum ersten Mal mit beiden Namen stehen, einfach weil Christian daran auch als Autor beteiligt war. Seitdem schreibe ich immer seltener allein und wir arbeiten immer häufiger im Team, schon deshalb, weil unser Teamwork einfach sehr gut funktioniert.

ZFF: Durch Ihr sehr vielschichtiges Schreiben haben Sie schon Erfahrungen mit den unterschiedlichsten spekulativen Textsorten gemacht – welche Erkenntnisse haben Sie dabei über die Genres gewonnen? Wo fühlen Sie sich am wohlsten?

Christian Vogt: Wir reden bei Genres ja viel über Erwartungshaltungen. SF richtet, dem klassischen Vorurteil nach, den Blick in die Zukunft, während Fantasy in die Vergangenheit schaut. Es gibt aber diffuse Grenzbereiche, in denen wir uns beispielsweise bei den Steampunk-Romanen und Anarchie Déco bewegen. Wir fühlen uns in beiden Genres zu Hause beziehungsweise: Es ist weniger eine Binarität und mehr ein Spektrum! Die Themen, die uns wichtig sind, lassen sich in beiden Genres gut behandeln, denn während es in der Phantastik zwar auch einen als Norm gesetzten Grundzustand gibt, lässt sich dieser unserer Ansicht nach im Genre besonders kreativ unterwandern oder aufbrechen. Einige Geschichten werden erst recht interessant, wenn sie in einem dafür unüblichen Genre stattfinden und schon dadurch die Erwartungen gebrochen werden.

Das Veröffentlichen von Büchern bewegt sich allerdings in einem engen kapitalistischen System, daher sind Genremixes oft mit einem gewissen Risiko verbunden, weil sie von Marketing über Buchhandel bis Lesendenschaft nicht leicht eingeordnet werden können und damit weniger Aufmerksamkeit erhalten. Dabei sind gerade das die interessanten Titel, finde ich. Außerdem muss ich zugeben, dass wir, wenn sich ein Konzept gleich gut in SF und Fantasy umsetzen lässt, uns für die Fantasy entscheiden, einfach nur, weil sie sich besser verkauft.

ZFF: Ein Thema, dass Ihnen in den letzten Jahren ganz besonders am Herzen liegt, ist die soziale Gerechtigkeit, das was in Mediendiskursen auch gerne »Wokeness« genannt wird. Sie treten dabei nicht nur in Ihren Romanen dafür ein, sondern nehmen sich des Themas auch auf anderen Kanälen an. Judith gibt ein Fanzine mit heraus, die Queer*Welten, und ist ein Teil des Genderswapped-Podcasts. Auch auf Twitter und anderen sozialen Medien sind Sie beide sehr aktiv in Diskussionen zum Thema. Gerade in der Phantastik-Bubble scheint diesbezüglich ja immer wieder »Redebedarf« zu bestehen – warum ist das so?

Judith Vogt: Ich glaube, das hat auch mit der nach wie vor großen Lücke zwischen der englischsprachigen und der deutschsprachigen Szene zu tun. Die Szene, die Awards, die Diskurse und auch die Bestseller in den USA und in Großbritannien haben sich stark verändert und politisch positioniert. Das geht an uns nicht vorbei, die Bücher kommen ja als Übersetzungen sowie als Verfilmungen hier an. Gleichzeitig gibt es – auch international – sehr viel Rückbesinnung auf Altes (wenn auch oft in »diversifizierter Form«, wie in den Fersensehserien The Lord of the Rings: The Rings of Power [US In Vorbereitung, Idee: J. D. Payne und Patrick McKay] und The Wheel of Time [US 2021–, Idee: Rafe Judkins]). Das heißt, wir stecken aktuell gerade in Deutschland in einem Ringen zwischen einer Form von Nostalgie, die wenig Neues zulässt und auch in ihren Communities ordentlich für Gatekeeping sorgt, und dem Vorhaben, das, was lange als Eskapismus galt, mit einer politischen Dimension zu versehen und es umzugestalten. Leser*innen lesen derweil viel aus dem englischsprachigen Raum und wir hören oft, die deutschsprachige Phantastik sei ohnehin stehengeblieben (gleichzeitig werden neue Romane oft gar nicht wirklich gelesen).

ZFF: Gerade weil Sie solche Themen angehen, werden Sie aber auch regelmäßig angefeindet. Es gibt immer wieder Personen oder auch ganze Gruppen, die es vor allem auf Judith als Zielscheibe abgesehen haben. Wie gehen Sie damit um, welche Strategien haben Sie dafür entwickelt?

Judith Vogt: Es ist schwierig, da wirksame Strategien zu entwickeln, ohne sich verdrängen zu lassen. Es ist auch immer eine Risikoabwägung: Meinen Facebook-Account habe ich gelöscht, weil es einfach zu viel wurde. Das bedeutet aber natürlich auch, dass wir auf die Sichtbarkeit dort jetzt einfach verzichten.

Bei unserem letzten Buch, Schildmaid, gab es zum ersten Mal schon am Erstverkaufstag auf allen Plattformen wortreiche, aber inhaltsleere Rezensionen. Ich kann nicht behaupten, dagegen eine Strategie zu haben, außer mich zu ärgern – und mich zu freuen, wenn die positiven Rezensionen das dann doch unweigerlich überstrahlen. Ich muss auch ganz ehrlich sagen: Rechte und misogyne Trolle sind eine Sache, aber trauriger machen mich tatsächlich die einflussreichen Kolleg*innen, die das Narrativ pflegen, ich würde einen aggressiven Mob lenken, und die mich für so ziemlich jede Kritik und jede Krise in der Szene verantwortlich machen. Mittlerweile bin ich tatsächlich vorsichtig, ob ich zu einem Konflikt überhaupt den Mund aufmache, weil ich ziemlich sicher danach zur Ursache erklärt werde. Das ist wirklich auf eine Art vereinfachend und meist auch einfach falsch, die mich schon ziemlich ärgert.

Christian Vogt: »Die Misere mit Judith« ist bei uns zum geflügelten Ausdruck geworden. Dass man sich dabei so auf Judith als Symbol für ihre unbequem empfundene politische Arbeit versteift, verfolgt auch den Zweck, die Arbeit einer ganzen Gruppe herunterzuspielen, und macht gleichzeitig deren Arbeit unsichtbar.

ZFF: Judith, Sie haben zusammen mit James Sullivan auf Tor Online einen Text geschrieben, indem Sie dazu aufrufen, mit den alten Traditionen der Phantastik zu brechen und ein neues Schreiben zu finden, das der heutigen sozialen Realität entspricht.2 Sie haben gefordert, eine »progressive Phantastik« zu entwickeln. Hat der Aufruf funktioniert? Wie muss es weitergehen, damit die deutschsprachige Phantastik progressiv wird? Wo liegen noch Probleme?

Judith: Ja, es hat auf jeden Fall funktioniert. Unser Ansatz ist ja: »Lasst uns progressive Phantastik schreiben!« James, Nora Bendzko, Christian, ich – wir sind keine Torwächter*innen dieser Ideen. Es ist kein eingetragenes Warenzeichen. Und progressive Phantastik ist kein fester, erreichbarer Zustand. Es handelt sich um eine Absichtserklärung – wer progressive Phantastik schreiben will, muss nicht den perfekten Roman schreiben. Es ist eine Einladung, Traditionen zu überdenken, Stereotype aufzubrechen und auch zum Beispiel andere ästhetische Formen auszuprobieren. Progressiv heißt dabei, dass wir vor allem das Kreative, das Neue, das Entstehende in den Fokus nehmen wollen, nicht das Abarbeiten an Vergangenem oder die Kritik aneinander. Das ist zugleich auch das, woran es hakt: Es gibt sehr wohl den Gedanken, dass progressive Phantastik beispielsweise verletzungs- oder gewaltfrei sein soll, dass keine Stereotype mehr reproduziert werden, auch nicht unbewusst – deshalb wird progressive Phantastik oft mit einem sehr hohen Maß gemessen, um dann zum Schluss zu kommen: »Na ja, perfekt ist das ja auch nicht!« Es soll auch nicht perfekt sein – es soll anders sein. Und das ist es auch. Die Bücher, die zum Beispiel im vergangenen Jahr als progressive Phantastik bezeichnet wurden – von ihren Autor*innen, von Lesenden, aber auch bereits von Verlagen –, sind anders, und das ist aufregend.

Christian: An Progressivität wird leider viel zu oft ein Perfektionsanspruch gestellt. Politiker*innen progressiver politischer Parteien müssen sich z. B. auch an viel höheren Standards messen lassen als konservative Politiker*innen. Denen legt man Eigennutz sogar als Tugend aus. Dabei ist der Wunsch nach Perfektion kontraproduktiv, weil er für Stillstand sorgt. Perfektion kann es nie geben, damit erstickt man jeden Fortschritt im Keim. Ich wünsche mir für die progressive Phantastik eine Kultur der Fehlerfreundlichkeit und des ständigen Lernens und Verbesserns.

ZFF: Mit Wasteland haben Sie 2019 den – soweit ich weiß – ersten deutschen Roman geschrieben, der konsequent nicht-heteronormative Sprache nutzt. Dabei geht es nicht einfach um Gendersternchen oder neutrale Formulierungen (wie: »die Studierenden«), sondern um eine Sprache, die gegen die Normsetzung von Gender-Binarität arbeitet und Formulierungen findet, die von queerer Linguistik als »gender subversion« angesehen werden, also etwa das Femininisieren von sozial männlich gelesenen Begriffen wie »die Boss« oder die Verwendung von neutralen Neopronomen für nicht-binäre Menschen. Was hat Sie dazu bewogen, den Roman zu schreiben? Und wie haben Sie Ihre Sprache gefunden?

Judith Vogt: Die Idee zum Roman hatte ich schon lange. Erst, als wir tatsächlich an der konkreten Konzeption saßen, wurde uns klar, dass sich, wenn wir von einer Utopie in der Dystopie erzählen wollen, auch die Sprache unterscheiden muss. Das generische Maskulinum passte einfach nicht dorthin. Das war 2018, da kannte ich noch keinen Roman, der komplett geschlechtergerecht geschrieben war. Wir haben gedacht, wir schauen mal, ob es überhaupt geht. Das war ein spielerischer und kein dogmatischer Ansatz – wenn es keinen Spaß gemacht hätte oder es uns unmöglich gewesen wäre, hätten wir es nicht gemacht. Der Verlag war anfangs nicht mal eingeweiht. Im Laufe des Schreibens haben wir festgestellt, dass uns dieser kreative Umgang mit Sprache etwas ganz Neues gibt und wirklich auf eine anarchistische Weise Spaß macht. Sehr viel davon war einfach learning by doing – wir haben ganz unterschiedliche Strategien entwickelt, die sich auch außerhalb des Genres der Postapokalypse anwenden lassen. Einiges ist aber auch einzigartig für Wasteland und prägend für Setting und Geschichte. Wir haben beide gemerkt, dass wir uns, als wir dieses Jahr den zweiten Band, Laylayland, geschrieben haben, wieder mit großer Freude auf die Wasteland-typischen Neologismen gestürzt haben. In anderen Romanen, gerade, wenn sie in historischen Settings spielen, wie Anarchie Déco oder Schildmaid, müssen wir sehr genau darauf achten, »unauffällige« genderneutrale Formulierungen zu nutzen (schon der Begriff »Studierende« wurden uns bei Anarchie Déco als Anachronismus ausgelegt, obwohl das Wort bereits sehr lange in Benutzung ist). Bei Wasteland und Laylayland ist das nicht der Fall – da können wir diese geforderte »Unaufgeregtheit« beiseitelegen und einfach sehr aufgeregt gendergerecht sein.

ZFF: Im Roman geht es dann auch darum, andere Formen von Diversität zu zeigen, und Sie entwickeln eine Gemeinschaft, die sehr auf den Idealen von Gleichberechtigung und Toleranz basiert. Sie nennen die Verfechter dieses Denkens die »Hopers«, während da draußen aber noch jede Menge »Toxxers« sind. Im Roman sind das brutale Gangs, deren Hierarchie vor allem auf Macht und Gewalt basiert. Ist das eine Reflexion unserer Zeit? Welche Chancen haben wir, eine Welt der Hopers zu werden?

Judith Vogt: Auf jeden Fall ist es eine Reflexion. Ich habe im vergangenen Jahr auch Vorlesungen zum Thema Hoffnung in der SF gehalten und einen Text dazu für die ZFF geschrieben (Vogt »Hope is a Muscle«). Ich sehe viele Ansätze zu Mini-Utopien in unserer Gesellschaft, gleichzeitig hängen Kapitalismus, Klimawandel und Ignoranz so drohend über uns, dass es mir selbst schwerfällt, etwas anderes zu sehen. Wenn die Antwort auf »Wir müssen weniger fossile Brennstoffe nutzen« ist »Jetzt rase ich extra schnell und extra viel«, dann fällt es mir schwer, auf eine bessere Zukunft zu hoffen. Aber das spiegelt Wasteland ja im Prinzip wider: Es war für uns einfacher, uns das Weitermachen nach dem Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Es bot auch eine enorme Freiheit, im Prinzip eine Langzeithoffnung, in der all unsere Ängste eingetreten sind und wir danach trotzdem besser weitermachen. Gleichzeitig ist es nur Fiktion – ich sehe Wasteland in all seiner Absurdität natürlich nicht als realistischen Zukunftsentwurf, das will und soll es nicht sein. Wasteland ist ein Gedankenexperiment: Wie hoffen wir – auch, wenn es unmöglich scheint? Welche Kraft können wir daraus ziehen, trotzig gegenüber dem Unmöglichen zu sein?

ZFF: Mit Ace in Space (2020) haben Sie das Thema weiterentwickelt, wiederum eine Gemeinschaft, die vor Diversität in Sachen Gender, (dis)ability, race, oder auch nicht-heteronormativer Sexualität nur so strotzt. Dazu nutzt der Roman wieder die entwickelte queere Sprache. Wie hat sich das weiterentwickelt?

Christian Vogt: Einigen Lesenden ist aufgefallen, dass sich das nichtbinäre Neopronomen zwischen Wasteland und Ace in Space unterscheidet – »xier« statt »ser«. Das liegt zum einen daran, dass ein Wort mit »x« futuristischer klingt, und zum anderen daran, dass wir zeigen wollten, dass es mehr als eine grammatikalische Lösung gibt. Aber ich denke, der wesentliche Faktor bei Ace in Space ist der omnipräsente Einfluss der sozialen Medien. Das äußert sich in kurzen Einschüben in der Form von Social-Media-Posts und dem Einfließen eines Slangs, der sich an Internet-Begriffen, Motorradgang-Terminologie sowie an Sprache aus der Avionik orientiert. Gerade diese drei Subkulturen sind nicht frei von toxischen Gebräuchen, darum haben wir sie bewusst kombiniert im Roman. Trotzdem haben wir auf eine für Marginalisierte verletzende Sprache verzichtet, weil wir für unsere Erzählwelt davon ausgehen, dass zumindest gewisse Formen von slurs längst überwunden sind. Im darauffolgenden Projekt, Anarchie Déco, haben wir auf Neopronomen ganz verzichtet, aber dennoch versucht, den Roman so gendergerecht wie möglich zu verfassen. Wir versuchen also immer, eine passende Form der inklusiven Sprache für das vorliegende Setting zu finden, und das sieht jedes Mal etwas anders aus.

ZFF: Statt der Toxxer-Gangs gibt es in Ace in Space vor allem einen Konflikt mit einem Großkonzern. Der Roman setzt als Gegenentwurf auf Solidarität und Gemeinschaft, die aber nicht leicht zu erreichen sind. Die anti-kapitalistische Kritik ist spürbar. Sind Ihre identitätspolitischen Ziele also mit gesellschaftlichen Ideologien gekoppelt? Ist ein intersektionaler Ansatz an Identität immer auch mit größeren Strukturen verbunden?

Christian Vogt: Konzerne sind in Ace in Space die gesichtslosen Antagonist*innen, gegen die man sich wehren kann, die aber als Entitäten nie vollständig überwunden werden können. Wir haben in diesem Roman nicht die Welt zerstört wie in Wasteland, um den Kapitalismus abstreifen zu können – also ist er immer noch allgegenwärtig. Und er erscheint als Wolf im Schafspelz: auch Konzerne respektieren in Ace in Space alle Geschlechtsidentitäten, verhalten sich anti-rassistisch und bieten eine verkürzte Arbeitswoche, eine High-End-Kaffeemaschine und firmeninterne Sport-Events. Aber sie tun das nicht aus Menschenfreundlichkeit. Sie handeln hinter den Kulissen so skrupellos wie eh und je. Widerstand ist also angebracht. Ich würde sagen, dass bei Ace in Space die Gemeinschaften der Protagonist*innen teilweise selbst Toxxers sind, die gegen Konzernunrecht nur ankommen können, indem sie lernen, zu Hopers zu werden. Hier kommt auch die Intersektionalität ins Spiel: Pronomen auf der Visitenkarte und weibliche Führungskräfte sind heute ein wichtiger Schritt, um Veränderung zu erreichen – in der Zukunft von Ace in Space ist das alles eine Selbstverständlichkeit. Aber es reicht nicht, hier innezuhalten, wenn die Mechanismen von Unterdrückungen unter diesem Deckmantel weiter existieren.

ZFF: In Anarchie Déco greifen Sie diese Idee wieder auf, hier verbinden Sie Genderidentität und individuelle Freiheit mit den Idealen einer links-extremen Politik, weil eine der Hauptfiguren Anarchist ist. Im Roman geht es um Ideen des Gatekeeping und der machtvollen Erhaltung des politischen Status quo. Dabei spielt das alles im Berlin der Weimarer Republik. Wo liegt für Sie da die Verbindung? Welche Bedeutung hat die Zeit damals für unsere heutige?

Judith Vogt: In der Weimarer Republik gab es einen Möglichkeitsraum für linke Politik und für persönliche politische Verantwortung, oft verknüpft mit Sichtbarkeit und einem frühen Empowerment für Menschen, die sich zuvor höchstens in den Marginalien der Geschichtsschreibung fanden (und durch die Nazis auch wieder dorthin zurückgekehrt sind). Gleichzeitig hatten konservative Kräfte die Politik fest in der Hand und bereiteten, ohne es zu wissen, schon alles für den Faschismus vor. Alles fühlt sich möglich an – und gleichzeitig wissen wir schon, wie es ausgeht. Oft werden die 2020er- mit diesen 1920er-Jahren verglichen, was meiner Meinung nach nicht ganz passt. Die Bedingungen sind einfach sehr anders. Dieses Gefühl, dass es vielleicht noch möglich ist, alles zu drehen, ist definitiv heute nicht so stark, die Hilflosigkeit ist größer. Die Parallele, die natürlich vorhanden ist – und diesmal leider global –, ist die Verquickung von rechten Kräften, Frauenfeindlichkeit, Queerfeindlichkeit und Rassismus, deren Akteur*innen aktiv Ideen sozialer Gerechtigkeit verhindern und die Uhr zurückzudrehen versuchen. Und da wiederum ist die Weimarer Republik dann vielleicht doch ein nützlicher Vergleich: Wir müssen uns immer bewusst machen, dass sozialer Wandel harte Arbeit ist und Zerschlagen immer leichter geht als Aufbauen.

ZFF: Der Roman ist eine alternate history, in der in den 1920er-Jahren Magie entdeckt, aber im Gegensatz zur typischen Fantasy eben als eine Form der Wissenschaft verstanden wird. Sie sind ja versiert in der Fantasy – was hat Sie dazu bewogen, hier das Klischee der Magie zu hinterfragen? Wo liegt der Vorteil, die Magie als Disziplin der Physik zu verstehen?

Christian Vogt: Klassische Fantasy sieht Magie oft als ungreifbar und wundersam an, wie in The Lord oft he Rings, oder als Disziplin mit festen Regeln, aber ohne eine echte Wissenschaftlichkeit wie in vielen Rollenspielen. Magie in der Urban Fantasy findet zudem für gewöhnlich abseits der Öffentlichkeit statt und daher außerhalb des Fokus der Wissenschaft. Wir wollten in Anarchie Déco erkunden, was passiert, wenn wir einen anderen Weg gehen. Was passiert, wenn eine unfassbare, von Kunst beeinflusste Magie mit Hilfe der wissenschaftlichen Methode erforscht wird – und das vor aller Augen. Wir wollten dabei auch betrachten, welchen Einfluss eine Zauberkraft auf die Gesellschaft hat, gerade in einer brisanten Phase des Umbruchs. Die 1920er-Jahre eignen sich dafür besonders gut, nicht nur wegen der politischen Landschaft, sondern auch, weil es kurz zuvor mit der Formulierung der Quantentheorie und der Relativitätstheorie Entwicklungen gab, die im Alltag nicht mehr zu fassen sind und wundersam erscheinen. Magie wird im Roman durch eine Kombination von Kunst und Physik gewirkt. Beide Disziplinen sind dafür unerlässlich, und ich denke, eine solche Kombination würde auch heute sehr am Selbstverständnis sowohl vieler Künstler*innen als auch vieler Physiker*innen nagen.

ZFF: Und noch eine Frage zum aktuellen Roman – mit Schildmaid haben Sie sich ganz weit in die Vergangenheit bewegt und eine komplett auf Frauen ausgerichtete Abenteuergeschichte geschrieben. Alle Hauptfiguren sind weiblich. Was war die Inspiration und was konnten Sie bei den Wikingern finden, das in der heutigen Zeit fehlt?

Christian Vogt: Die erste Idee entstand aus Grabfunden aus der Wikingerzeit, die neu analysiert worden sind. In männlich ausgestatteten Gräbern (also mit Waffen und männlicher Kleidung als Grabbeigaben) wurden Menschen mit Doppel-X-Chromosomen bestattet. Es handelte sich also wahrscheinlich um Frauen oder auch um genderqueere Menschen oder trans Männer. Die Forschungen beschäftigt sich heute eingehend mit Fragen zu Geschlecht und Geschlechterrollen in diesem Kontext, aber allgemein fällt es einige Menschen schwer, sich vom festgefahrenen Bild der weißen, männlichen Wikinger zu lösen, einem Bild, das mit vielen völkischen Klischees aufgeladen ist und von rechts immer wieder vereinnahmt wurde. Ich wollte diesem Trend sozusagen als narrativem Stinkefinger eine Geschichte von zwanzig Frauen auf einem Langboot entgegenstellen und Judith war sofort begeistert von der Idee.

Allerdings machte uns die Recherche klar, dass der zum Empowerment genutzte Gegenentwurf von Schildmaiden im Wikingzeitalter ebenfalls nicht der Realität entspricht. Wir sind dabei auf vieles gestoßen, das damals präsent war und auch heute nicht überwunden ist: Patriarchat, Sexismus, Queerfeindlichkeit. Unsere Geschichte über einen Roadtrip von zwanzig Frauen auf einem Langboot ist also eine Geschichte von gesellschaftlichen Abweichlerinnen. Und die hat es zu jeder Zeit gegeben, da ist sich auch die Archäologie einig.

ZFF: Vielen Dank für das Gespräch.

Die Zukunft ist queer: Experimente mit Sprache und Gender

Die SF, so Wendy Pearson, sei ideal dazu geeignet, alternative Subjektpositionen einzunehmen, insbesondere solche, die sich in der realistischen Literatur aufgrund sozialer Stigmata nur schwer umsetzen ließen. Entgegen den empirisch-rückgekoppelten Darstellungen des Realismus biete die SF die Möglichkeit, festgefahrene Gedankenkonzepte (wie Wissenschaft, Religion, oder Geschichte) zu hinterfragen und neue Formen der Repräsentation zu erkunden. Damit sei die SF für Auseinandersetzungen mit Queerness das perfekte literarische Format: »Queer, with its denaturalization of master narratives and its movement towards subcultural and subaltern understandings of texts, operates, by analogy, on some of the same levels as sf« (Pearson 4). Die SF erlaubt es, zukünftige Visionen von Subjektivität zu entwickeln, in denen identitätspolitische Marginalisierungen nicht mehr vorkommen. Das bestätigen auch Judith und Christian Vogt, die in der SF die Chance sehen sich nicht mehr »unauffällig« zum Thema zu verhalten, sondern in den Gedankenexperimenten ihrer Romane »einfach sehr aufgeregt gendergerecht« (s. Interview) mit Sprache umgehen zu dürfen. Denn, so schreibt die Sprachforscherin Marlis Hellinger, »Sprache ist kein neutrales Kommunikationsmittel, sondern diskursives Instrument gesellschaftlichen Handelns. Sprache ist Spiegel gesellschaftlicher Realität, zugleich aber auch ein Ort, an dem sich sozialer Protest und konservativer Widerstand artikulieren« (276). Die SF ist demnach ein Ort sozialen Handelns, der mögliche Wege zu einer besseren Gesellschaft aufzuzeigen vermag.

Um der Forderung nach einer »progressiven Phantastik« nachzukommen, die sich unter anderem in progressiven, politischen Positionen, auch zu »Feminismus und Diversität« (Sullivan und Vogt) widerspiegelt, experimentieren Judith und Christian Vogt in ihren Romanen mit Sprache, um so inhärenten Machtasymmetrien oder konzeptuellen Binär-Stellungen entgegenzuwirken. Entsprechend weisen der post-apokalyptische Roman Wasteland und das Space-Opera-Abenteuer Ace in Space eine Vielzahl unterschiedlicher Strategien auf, um eine nicht-heteronormative Sprache zu finden, die laut Heiko Motschenbacher darauf abzielt »countering heteronormative structures, especially gender and sexual binarisms, by offering alternative ways of expression that do not further entrench such traditional discourses« (244). Im Folgenden möchte ich diese Strategien darlegen und aufzeigen, wie die progressive Fantastik in der Lage ist, einen wichtigen Beitrag zu aktuellen und in der Öffentlichkeit intensiv geführten Debatten wie der um eine gendergerechte Sprache zu leisten.

Wasteland spielt in einer post-apokalyptischen Welt, die durch Kriege und biochemische Waffen nahezu unbewohnbar geworden ist. Das Leben in den nicht-verseuchten Gebieten wird von Motorradgangs wie den Brokes bestimmt, die ihre »Turfs« mit Waffengewalt verteidigen und im Jargon des Romans als »Toxxers« bezeichnet werden, weil toxische Machtstrukturen ihren Lebensalltag bestimmen. Im Kontrast dazu gibt es die »Hopers« des Handgebunden-Markts, die versuchen, eine pazifistische und gleichberechtigte Gemeinschaft durch Handel und Kooperation aufrechtzuerhalten, und die Hoffnung an ein besseres Miteinander nicht aufgeben wollen. Wichtiges Element des Romans ist jedoch, dass nicht nur die Hopers eine nicht-heteronormative Sprache und queere Positionen einnehmen, sondern diese Haltung auch von den Toxxers vertreten wird. So umgehen die Vögte das literarische Klischee, dass die Antagonisten durch Queer-Feindlichkeit oder Misogynie literarisch gekennzeichnet sind.

Die gleiche Haltung gilt auch für den Roman Ace in Space, der in einer durch Social Media und private Raumfahrt geprägten Zukunft spielt. Auch hier stehen sich zwei grundverschiedene Kulturen gegenüber und geraten in Konflikt miteinander. Die Welt wird dominiert von kapitalistischen Konglomeraten, die auf die Extraktion von Rohstoffen spezialisiert sind und jenseits staatlicher Gesetzgebung agieren und nur durch andere Konglomerate und den »court of public opinion« zur Verantwortung gezogen werden können. Im Kontrast zu dieser quasi neo-feudalen Herrschaftsform gibt es die anarchischen Gemeinschaften der Gangs, die mit ihren Raumschiffen zwischen medialer Aufmerksamkeit und freiberuflichen Aufträgen eine Nische im kapitalistischen Markt bevölkern. Aber auch in diesem Roman haben beide Gruppen unterdrückendes Verhalten gegenüber marginalisierten Gruppen abgelegt — was aber im Falle der Konzerne nur oberflächlich »die Mechanismen von Unterdrückungen« (s. Interview) überlagert, wie Christian Vogt kommentiert. Doch eine heteronormative Sprache ist grundsätzlich überwunden.

Um diesen Wandel zu verdeutlichen experimentieren Judith und Christian Vogt in ihren Romanen mit verschiedenen Strategien der queeren Linguistik und weisen damit darauf hin, dass es gerade in der deutschen Sprache unmöglich scheint, »to come up with a monolithic, universally valid non-heteronormative language policy« (Motschenbacher 252). Während im englischen Sprachgebrauch aufgrund der grammatischen Struktur zumeist auf Neutralisierung von Gender gesetzt wird, ist diese Strategie für das Deutsche nur bedingt anwendbar. Dennoch finden sich in den Romanen einige Beispiele, in denen »androzentrische Wörter durch geschlechtsneutrale ersetzt« (Hellinger 277) werden und Gender so sprachlich gleichgestellt wird. In Wasteland werden neutrale Begriffe wie »Person« oder »Mensch« genutzt, um generalisierende Genderzuschreibungen zu vermeiden: Laylay sieht dabei zu, wie »die letzte behelmte Person einfach schnurgerade den Feldweg hinab entkam« (Wasteland 105) und Root ereifert sich, »jede Person im Turf sollte wissen, wie das hier zu laufen hatte« (Wasteland 221). Und die nicht-binäre Person Figo wird entsprechend nicht als Lehrer oder Lehrerin, sondern als »Lehrperson« (Wasteland 264) bezeichnet. Auch Ace in Space nutzt diese Neutralisierungen, die jedoch im Ton deutlich variabler eingesetzt werden. So finden sich verschiedene nicht-binäre Charaktere im Roman, die ein ganzes Spektrum an sozialem Status repräsentieren: von der angesehenen »Richtperson« im Verfahren gegen den Konzern bis zur Social-Media-Persönlichkeit »CowPerson Yeeha« (Ace in Space, k. S.) wird die Neutralisierung hier als akzeptiertes Mittel für genderneutrale Positionen aufgezeigt.

Neben der Neutralisierung gibt es aber weitere Strategien, die dabei helfen können, Sprache gendergerechter zu gestalten. So etwa die »Sichtbarmachung« von Frauen durch das »nominale Splitting« (also die explizite Nutzung männlicher und weiblicher Nominalformen, z. B. Leser und Leserinnen), was zwar auf die Dominanz des generischen Maskulinums im Deutschen reagiert, nicht aber den grundlegende Binarität des Genders in Frage stellt, »which constructs gender differences as natural and is the basis for what [Judith] Butler calls the heterosexual matrix« (Motschenbacher und Stegu 522). Um auch in der Sprache die Binarität von Gender zu hinterfragen, eignen sich also eher Strategien, die die »universal relevance« der Kategorien Mann und Frau beleuchten und deren »contextual, cultural and historical variability« (ebd. 532) in Betracht ziehen. Motschenbacher etwa sieht »subversive practices of linguistic gender crossing« (252) als eine Möglichkeit, eine Spannung zwischen den »pragmatic communicative goals« und den »symbolic and social goals« (Spolsky und Lambert, zit. nach Motschenbacher 252) von Sprache nutzbar zu machen.

Die Romane nutzen gender crossing vor allem bei Begriffen aus subkulturellen Sprachbereichen, die stark von maskulinen Normen eingenommen (s. Interview) und somit besonders stark vom subversiven Effekt betroffen sind. Hierzu werden Begriffe mit ausgeprägtem männlichem »social gender«3 genommen, die im Deutschen lexikalisch geschlechtslos sind und nicht durch einen -in Suffix gegendert werden können (Motschenbacher 247), also insbesondere auch englische Lehnswörter. In Wasteland zeigt sich dies deutlich an der Toxxer-Kultur und dem Begriff »Boss«, der als englisches Lehnswort im deutschen Sprachraum sowohl sozial als auch grammatisch männlich ist, hier aber weiblich genutzt wird: »Klar, auch die Brokes brauchen Gesetze, damit die Hierarchie innerhalb des Trupps bis hinauf zum Gang-Oberhaupt gesichert ist. Die hier war nicht die Broke-Queen, sondern nur die Boss ihrer aufgemotzten Patrouillentruppe« (Wasteland 18). In Ace in Space ist auch diese Strategie noch deutlicher ausgeprägt: Hier bezieht sich das gender crossing auf die Sprache des Fliegens und der stark hierarchischen Gang-Kultur, also etwa auf die President oder die Jockey: »Schluss jetzt, Kinder. Ich bin die President« oder »Zu allem Überfluss hatte Mama sie bei ihrer Vorstellung zu einer vollwertigen Jockey befördert« (Ace in Space, k. S.). »The use of female and feminine forms to refer to men is indeed […] a subversive practice« (Motschenbacher 253) und erzeugt einen Moment der Spannung, der Lesende dazu zwingt, sich der sozialen Konstruktion von Sprache bewusst zu werden.

Doch auch gender crossing agiert noch immer stark in binären Kategorien und schafft es nicht vollständig, eine queere Position einzunehmen. In der deutschen Sprache, die viel stärker auf Gender-Binarität basiert als etwa Englisch, kommt es daher immer wieder zu kreativen Ansätzen, mit Hilfe von Neologismen die »Vielfalt der Geschlechter« darzustellen, also »Frauen, Männer und trans-, intergeschlechtliche und nicht-binäre Menschen« (Olderdissen 99). Zu diesen das »Sprachsystem verändernden Strategien« (Baumgartinger 34) gehören unter anderem der Gap oder Unterstrich (Leser_innen), der Genderstern (Leser*innen), oder der Doppelpunkt (Leser:innen) – wobei bis heute kein Konsens besteht, welche Verwendung die beste Lösung darstellt.4 Während Wasteland ohne diese nominalen Neologismen auskommt, haben sich Judith und Christian Vogt in Ace in Space für den Doppelpunkt entschieden und diesen gezielt an wenigen Orten im Roman verwendet. Der Roman ist mit Zitaten aus Blogs, E-Mails oder Forum-Posts verschiedenster Akteur*innen durchzogen, in denen die Begriffe »Vorfahr:innen«, »Geolog:in«, »Dein:e Partner:in«, »Bürger:innen«oder »Agent:innen« (Ace in Space, k. S.) vorkommen. Die Verwendung findet in privaten Chats statt, ist aber auch Teil einer offiziellen Job-Anzeige und verweist so darauf, dass in der intradiegetischen Schriftsprache der Doppelpunkt in den verschiedenen Kontexten zur Norm geworden ist.5

Wie bereits erwähnt stellt die starke Verankerung der deutschen Sprache in Binarität eine besondere Herausforderung für die queere Linguistik dar, gerade wenn wie in der SF eine Sprache geschaffen werden soll, die sich weiterentwickelt hat. Denn eine solche nicht-heteronormative Sprache muss viel leisten: »the deconstruction or blurring of two powerful binarisms stabilising each other: female versus male and heterosexual versus homosexual« (Motschenbacher und Stegu 520). Zu dieser Dekonstruktion gehört auch wesentlich, einen Raum zu schaffen für Identität jenseits der zwei sprachmächtigen Binaritäten und damit ihrer sprachlichen Auslöschung entgegenzuwirken. Während im Englischen das Pronomen »they« im Singulargebrauch allgemein akzeptiert wird, fehlt dem Deutschen ein einheitliches »Neopronomen«, was zur Entwicklung vieler Optionen »von wortwörtlich a bis zet« (Olderdissen 177) geführt hat.6

In beiden Romanen kommen Neopronomen vor, jedoch haben sich Judith und Christian Vogt jeweils für ein anderes entschieden, auch um die Vielfalt der sprachlichen Optionen aufzuzeigen (s. Interview). Wasteland verwendet für nicht-binäre Figuren das Neopronomen ser, eine Verkürzung der beiden Pronomen sie/er: »Nackte Angst stand in Shans Blick. Ser wandte sich um, suchte in der Menge die Bestätigung einer Instanz, die offenbar mehr zu sagen hatte als ser, fand, was ser suchte, und nickte dann, die Arme in einer hilflosen Geste erhoben« (Wasteland 356). Hinzu kommen sir/sire als Possessiv-Pronomen: »Ich konnte mich sirem Blick nicht entziehen« (Wasteland 212).7

Ace in Space verwendet die bereits 2009 von Illi Anna Heger vorgeschlagene Version xier, die im deutschen Sprachgebrauch am ehesten einem Konsensvorschlag nahekommen dürfte (vgl. Olderdissen 177). Der Roman hat eine Vielzahl nicht-binärer Figuren, die mit xier bezeichnet werden. Zusätzlich verwenden Judith und Christian Vogt die von Lann Hornscheidt vorgeschlagenen »ex-Formen« (Hornscheidt und Sammla 61) für die Benennung von Berufen ohne Genderzuordnung: »Aber die Sache mit der Asteroidensauna war groß in den Medien gewesen, am Schluss war da eine Menge explodiert, und Vloggerix Gingko hatte ein Vid gepostet, in dem xier dargelegt hatte, dass es wahrscheinlich war, dass die ganze Provokation auf Mittelsmänner der Gater zurückging« (Ace in Space, k. S.). Als Possessivpronomen finden sich entsprechend xies/xiese: »›Ist sie stumm?‹, fragte Eyegle und deutete auf xiese Ohren und xiesen Mund« (Ace in Space, k. S.). Damit zeigt der Roman, wie glatt sich Neopronomen in den Sprachgebrauch einfügen lassen, entgegen der Formulierung Motschenbachers, der den Neologismen keine Akzeptanz zuspricht und behauptet sie seien keine »adequate solution as far as applicability is concerned« (254).

Wie diese Ausführungen gezeigt haben, ist nicht-heteronormative Sprache für das Deutsche bis heute nicht einheitlich geregelt und hat momentan noch den Status eines sprachlichen Experiments. Gerade in dieser Hinsicht hat sich die »progressive Phantastik« ein wichtiges Ziel gesetzt und dieses, zumindest in den besprochenen Beispielen Wasteland und Ace in Space, hervorragend gemeistert. Dabei ging es nicht um eine Normsetzung, wie sie Handbücher und Ratgeber vorzugeben versuchen, sondern um ein Ausloten progressiven Sprachgebrauchs. Damit zeigen Judith und Christian Vogt, dass insbesondere die SF in der Lage ist nicht-heteronormative Räume zu imaginieren und diese auch sprachlich darzustellen.

Notes

  1. Verfügbar auf queerwelten.de respektive genderswapped-podcast.podigee.io. [^]
  2. Siehe Sullivan und Vogt. [^]
  3. Neben dem grammatischen Geschlecht (im deutschen m/w/n) eines Wortes sind vor allem zwei semantische Aspekte interessant (vgl. Motschenbacher 246):

    (1) Das lexikalische Geschlecht bezieht sich auf Wörter, die semantisch direkt auf das Geschlecht verweisen, wie Mann oder Frau, Bruder oder Schwester.

    (2) Das soziale Geschlecht von Worten bezieht sich auf das kulturell und durch Konventionen zugeordnete Geschlecht. Beispiele wären etwa Model (weiblich) oder Führungskraft (männlich), die einen Zusatz benötigen, um das andere Geschlecht anzuzeigen (also männliches Model oder weibliche Führungskraft).

    [^]
  4. Olderdissen verweist darauf, dass gerade in der digitalen Verwendung durch Neologismen die Lesbarkeit für Menschen mit Schreibschwächen oder Blinde mit Screenreader stark beeinträchtigt ist. Der Genderstern wird als »Stern« gelesen, während der Doppelpunkt eine sehr lange Pause verursacht und optisch mit dem Text verschwimmen kann. Ihr Fazit: »Gendersternchen ja! Aber bitte nur sehr wenige« (104), um den Lesefluss nicht allzu stark zu behindern. [^]
  5. Unklar sind zwei Verwendungen, die nicht diesem Muster entsprechen und evtl. im Lektorat übersehen wurden: (1) Am Ende des Romans nutzt eine Konzernperson den Doppelpunkt in direkter Rede: »Lassen Sie uns die Details im Voraus ausarbeiten, bevor ich mit den Kolleg:innen intern darüber entscheide« (2). Sogar die heterodiegetische Erzählinstanz verwendet einmalig diese Formulierung: »›So weit sind wir noch nicht, Ms Sokowski‹, sagte Dawson, eine knöcherne Person in dem langen violetten Talar, der für die Richter:innen des Šest-Quadranten üblich war.« Beide Nutzungen sind untypisch. Der Doppelpunkt in (1) hat keine phonetische Entsprechung, muss hier also als extradiegetische Interpretation eines intradiegetischen Sprachaktes (etwa einer Pause beim Sprechen) gesehen werden. Und (2) entspricht einem einmaligen Eingriff in das extradiegetische Sprachsystem des Romans und ist eben nicht von der progressiven (schriftlichen) Sprachpraxis der Diegese abgedeckt. [^]
  6. Wichtig ist, wie Olderdissen bemerkt, dass alle Neopronomen »künstliche Konstruktion« und »bisher nur wenig bekannt« (178) sind, was es schwer machen wird, hier einen allgemein akzeptierten Konsens zu generieren. [^]
  7. Wie schwierig es ist, Neopronomen in der korrekten Form in einen Roman zu setzen zeigt sich an Wasteland deutlich. Während es im Originalmanuskript zu Wasteland (von den Autor*innen zur Verfügung gestellt) noch heißt: »Sire Haare waren eine gepflegte schwarze glatte Mähne [ ] Sire Augen hatten etwas Hypnotisches« (207), ist im gedruckten Buch durch das Lektorat ein Fehler entstanden: hier heißt es »Sir Haare« und »Sir Augen« (212). Korrekter Gebrauch von Neopronomen ist bislang nur bei wenigen Personen eingeübt, so dass leicht Fehler übersehen oder sogar in bester Intention ins Manuskript eingefügt werden. [^]

Autor

Dr. Lars Schmeink ist zurzeit Leverhulme Visiting Professor an der University of Leeds. Er leitete das Teilprojekt »Science Fiction« im BMBF-geförderten Forschungsverbund »FutureWork« und ist der Autor von Biopunk Dystopias (2016) und Mitherausgeber von Cyberpunk and Visual Culture (2018), The Routledge Companion to Cyberpunk Culture (2020), New Perspectives on German Science Fiction (2022) und Fifty Key Figures in Cyberpunk Culture (2022).

Konkurrierende Interessen

Der Autor hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Zitierte Werke

Baumgartinger, Persson Perry. »Lieb[schtean] Les[schtean], [schtean] du das gerade liest … Von Emanzipation und Pathologisierung, Ermächtigung und Sprachveränderungen«. Liminalis 2(2008): 24–39.

Heger, Illi Anna. »Pronomen wie Xier und Sier«. Annaheger.de, 2. Mai 2022, www.annaheger.de/pronomen/.

Hellinger, Marlis. »Empfehlungen für einen geschlechtergerechten Sprachgebrauch im Deutschen«. Adam, Eva und die Sprache: Beiträge zur Geschlechterforschung, Hg. Karin M. Eichhoff-Cyrus. Bibliographisches Institut, 2014. 275–91.

Hornscheidt, Lann und Ja’n Sammla. Wie schreibe ich divers? Wie spreche ich gendergerecht? Ein Praxis-Handbuch zu Gender und Sprache. w_orten & meer, 2021.

Motschenbacher, Heiko. »Grammatical Gender as a Challenge for Language Policy: The (Im)Possibility of Non-Heteronormative Language Use in German versus English«. Language Policy 13.3 (2014): 243–61. DOI:  http://doi.org/10.1007/s10993-013-9300-0

Motschenbacher, Heiko, und Martin Stegu. »Queer Linguistic Approaches to discourse«. Discourse & Society 24.5 (2013): 519–35. DOI:  http://doi.org/10.1177/0957926513486069

Olderdissen, Christine. Genderleicht: Wie Sprache für alle elegant gelingt. Duden, 2021.

Pearson, Wendy G. »Alien Cryptographies: The View from Queer«. Science Fiction Studies 26.1 (1999): 1–22.

Sullivan, James A. und Judith Vogt. »Lasst uns Progressive Phantastik schreiben!«. Tor-Online, 16. Aug. 2020, www.tor-online.de/feature/buch/2020/08/lasst-uns-progressive-phantastik-schreiben/.

Vogt, Judith und Christian Vogt. Wasteland. Knaur, 2019.

Vogt, Judith und Christian Vogt. Ace in Space. Ach Je, 2020. EBook.

Vogt, Judith und Christian Vogt. »Hope Is a Muscle – Hopepunk und Utopie in der Science Fiction«. Zeitschrift für Fantasikforschung 9.1 (2021): 20–25. DOI:  http://doi.org/10.16995/zff.7941.