Hamish Williams‘ Sammelband Tolkien & the Classical World setzt seinen Schwerpunkt auf die Altertumswissenschaften. Indem die Rezeption der Antike im literarischen Schaffen J. R. R. Tolkiens genauer betrachtet wird, nimmt der Band einen neuen Ansatz innerhalb der Tolkien-Rezeption ein, der eine vielseitige Betrachtung zulässt. Dies geschieht sowohl aus literaturwissenschaftlicher als auch aus Historikerperspektive. Das umfassende Werk Tolkiens gilt als Beginn der modernen Fantastik: Zwischen Elben, Zwergen und Hobbits erschuf der britische Schriftsteller und Sprachwissenschaftler mit The Hobbit, or There and Back Again (1937), The Lord of the Rings (1954–1955), The Silmarillion (1977) und weiteren Erzählungen und Fragmenten eine vielschichtige Welt voller Magie, die als abgeschlossener Kosmos eine Fülle an unterschiedlichsten literarischen und historischen Bezügen bietet. Nicht selten beschränken sich wissenschaftliche Betrachtungen auf linguistische Verweise auf die Kunstsprachen, die Tolkien für Mittelerde entwickelt hat, oder sie nehmen Bezug auf verschiedene Formen der (mittel)englischen Literatur oder des Geschichtenerzählens als narrativem Konzept. Zwar existieren inzwischen Studien, die sich unter anderem mit Tolkien auf religionswissenschaftlicher Ebene auseinandersetzen oder sich mit dem Mythos um Mittelerde beschäftigen, aber eine Betrachtung über die Altertumswissenschaften war bislang nicht darunter. In 16 Aufsätzen werden in dieser Anthologie nun differenzierte Analysen vorgenommen.

Aufgeteilt ist der gewichtige Band in fünf Abschnitte, die sich jeweils mit verschiedenen Themenkomplexen als Schwerpunkte beschäftigen. Der erste inhaltliche Abschnitt trägt den Titel »Classical Lives and Histories«. Zur besseren Einordnung Tolkiens beschreibt Williams dessen Hintergrund als Altertumswissenschaftler, den er in drei Phasen aufteilt zwischen schulischer Bildung, Studium und jener Zeit, in der sich Tolkien auch im Kontext seines literarischen Schaffens wieder verstärkt mit der Antike beschäftigt hat und die somit das Fundament des Sammelbandes bildet. Ross Clare setzt sich im Anschluss mit den narrativen Traditionen der griechischen und römischen Geschichtsschreibung auseinander und vergleicht diese mit der Darstellung Númenors, indem er auf Werke von Herodot und Thukydides sowie auf Ähnlichkeiten zwischen römischen Kaiserbiografien und den Königen von Númenor verweist.

In Abschnitt 2, »Ancient Epic and Myth«, wird verstärkt auf die mythologischen Konzepte eingegangen, die sich in Tolkiens Werk finden. Giuseppe Pezzini vergleicht hierfür, inwiefern sich das Götterpantheon Tolkiens mit der griechisch-römischen Mythologie überschneidet. Ausgearbeitet wird dies anhand von Beispielen, inwieweit die Götter und Göttinnen miteinander interagieren und wie sich die jeweiligen Mythologien – auch durch ihre verschiedenen Narrative als Mythe und als fantastische Erzählung Tolkiens – voneinander unterscheiden. Benjamin Eldon Stevens erweitert diesen Komplex mit der Beschreibung von Reisen in die Unterwelt und den Umgang mit Toten in Mittelerde: »A deathly world whose elegy is not tragic […] that is Tolkien’s core idea« (120). Während also innerhalb der graeco-romanischen Mythologien oftmals Verlust, Tod und Vergessen zentral stehen und der Tod als Ereignis negativ konnotiert wird, bleibt bei Tolkien die Hoffnung.

Mit »In Dialogue with Greek Philosophers« beschäftigt sich Abschnitt 3 als Schwerpunkt wenig überraschend mit Platon und Aristoteles. Die Atlantis-Dialoge Platons zieht dabei Michael Kleu zu Rate, wenn er den Untergang Númenors mit dem mythischen Inselreich vergleicht. Er verweist dabei auf Timaeus und Critias, die er als mögliche Inspiration Tolkiens in diesem Kontext identifiziert, »although it is impossible to deduce in which language he might have read them« (211). Lukasz Neubauer beschreibt Ähnlichkeiten zwischen Tolkiens Ring und Platons Ring des Gyges, denen er »narrative simularities« (240) zuschreibt. Julian Eilmann ergründet anhand Aristoteles’ Poetik Tolkiens The Children of Húrin, die er als Túrins Erzählung, »which is designed as a dramatic catastrophe in which tragic entanglement are resolved and the protagonist finds a gruesome death« (267) beschreibt, in der Tolkien auf die strukturellen Elemente der Tragödientheorie zurückgreife.

Eine inhaltliche Erweiterung bietet Abschnitt 4 mit »Around the Borders of the Classical World«. Diese Aufsätze bewegen sich folglich weg von direkten Analysen hin zu einer verstärkt historischen Einordnung. Da Tolkien die Theorie, dass die Antike der Ursprung der westlichen Zivilisation sei, nicht vertreten hat, zeigt Philip Burton, dass die Rezeption Tolkiens unter anderem von Victor Hehn und Otto Schrader geprägt sein dürfte: »If Tolkien does not cite Hehn or Schrader directly, he was sure aware of their views, and he seems to have been in sympathiy with them« (297). Richard Z. Gallant beschreibt im Anschluss die »Noldorization of the Edain« (305) und führt diese mit der Romanisierung der germanischen Stämme im 4. und 5. Jahrhundert eng. Die Edain (Menschen) werden bei Tolkien als nomadisches Volk beschrieben, die Eldar (Elben) sind mit einer »superior hegemonic presence« (305) vergleichbar. Mit »Escape and Consolation« (329) versteht Juliette Harrisson Gondor als mediterrane Welt, wohingegen sie Rohan mit germanischen Stämmen vergleicht, auch wenn » [t]he fictional cultures in Tolkien’s world do not represent any single real-world culture« (329). Diese Kulturbeschreibungen lassen sich folglich zwar von der Wirklichkeit inspirieren, schlagen dann aber einen eigenen Weg ein: In Mittelerde schließen sich Rohan und Gondor zusammen, um geschlossen gegen ihren gemeinsamen Feind antreten zu können.

Der Sammelband endet mit dem Abschnitt »Shorter Remarks and Observations«. Alley Marie Jordan vergleicht in ihrem Aufsatz die Hobbits mit den Schäfermotiven in Vergils Eclogae, beschreibt dabei Idyllenkonzepte und Pastoralismus und lässt so das Auenland zu einer Inkarnation Arkadiens werden: »Both tales tell us that happiness is to be found in the garden« (362). Mit der Rolle der Musik in Tolkiens Legendarium setzen sich Oleksanda Filonenek und Vitali Shchepanskyi auseinander und zeigen Einflüsse antiker musikalischer Traditionen, unter anderem von Pythagoras, auf.

Hamish Williams’ Sammelband Tolkien & the Classical World bietet einen umfassenden Einblick in das Werk Tolkiens aus der Perspektive der Altertumswissenschaften, den man in der bisherigen Tolkien-Rezeption kaum findet, aber es geht, wie Graham Shipley in seinem Nachwort betont, weniger darum, herauszustellen, dass die Antike elementar für Tolkiens Vorstellung von Mittelerde war, sondern darum, dass sie eine detailliertere Betrachtung verdienen. Dieser Band zeigt als interdisziplinäre Betrachtung auf, dass Tolkien aus der realweltlichen Historie inspirieren lassen hat und dabei offensichtlich auf ein umfassendes Geschichtswissen zurückgreifen konnte, das seinem Werk eine weitere Interpretationsebene hinzufügt, die über die sprach- und religionswissenschaftliche Betrachtungsweise weit hinausgeht. Und das ist durchaus auch einen zweiten Blick wert.

Autorin

Dr. Rebecca Haar promovierte in Tübingen im Fachbereich Medienwissenschaften/ Literaturwissenschaften über Simulationen, virtuelle Welten und Cyberpunk in der Postmoderne. Sie studierte Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Medien- und Musikwissenschaften. Sie ist unter anderem als Lehrbeauftragte am Deutschen Seminar der Universität Tübingen tätig mit Schwerpunkt Phantastik und Science Fiction.

Konkurrierende Interessen

Die Autorin hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.