Sprachphilosophische Fragen in Embassytown
Embassytown ist der Außenposten der Kolonialmacht Bremen auf dem Planeten Arieka. Man gelangt innerhalb einer menschlichen Lebenszeit nur dorthin, indem man durch den sogenannten ›immer‹1 reist, eine gefährliche Raumregion, in der ganz eigene, für Menschen schwer fassbare physikalische Gesetze herrschen. Die ferne Kolonialmacht schickt Gouverneur*innen und Güter in die Provinz, in der Menschen und einige mehr oder weniger humanoide Außerirdische Seite an Seite mit der ursprünglichen Bevölkerung des Planeten, den Ariekei, leben. Im täglichen Leben besteht jedoch wenig Kontakt zwischen den beiden Gruppen, denn Embassytown klebt wie eine riesige Luftblase in der Mitte einer Alien-Stadt. Die Menschen mögen die aus lebendem Material herangezüchteten ›Maschinen‹ der Ariekei verwenden, aber letztlich sind sie umgeben von Stadtteilen, deren Luft sie nicht atmen und mit deren Bevölkerung sie sich nicht verständigen können. Die Ariekei sind »cool, incomprehensible presences« (E 14).2
Die Kommunikation mit den Ariekei, ist nur bestimmten Spezialist*innen aus Embassytown möglich, den Botschafter*innen, die der Stadt ihren Namen geben. Denn die Sprache der Ariekei unterscheidet sich grundsätzlich von menschlichen Sprachen: Die Ariekei haben zwei Münder, sodass ihre Sprache nur zweistimmig gesprochen werden kann. Und sie kann sich nur auf das beziehen, was der Fall ist; die Ariekei können also weder lügen noch Metaphern gebrauchen: »For Hosts [d. h. Ariekei], speech was thought. It was as nonsensical to them that a speaker could say, could claim, something it knew to be untrue as, to me, that I could believe something I knew to be untrue« (E 83). Diese beiden Eigenschaften der Aliensprache spielen eine zentrale Rolle in der Romanhandlung. Die Botschafter*innen aus Embassytown sind Klonpaare, die von den Ariekei als eine einzige zweistimmige Person wahrgenommen werden. Als die Kolonialmacht Bremen ein eigenes Botschafterpaar nach Arieka schickt, verursacht das eine katastrophale Kommunikationsstörung: Die neuen Botschafter, Ez und Ra, sind einander nicht vollständig ähnlich, und ihre Art, die Ariekei-Sprache zu sprechen, hat auf die Ariekei eine unvorhergesehene Wirkung. Ihr Sprechen wirkt wie eine Droge, die das Verhalten der Ariekei verändert und die Kolonie ins Chaos stürzt. Diese Krise führt letztlich zum Ende der friedlichen Koexistenz mit den Ariekei und zum Zusammenbruch der gesellschaftlichen Strukturen in Embassytown. Und es ist die Weiterentwicklung der Ariekei-Sprache (die Tatsache, dass die Ariekei lernen, die Unwahrheit zu sagen und Metaphern zu gebrauchen), die letztendlich eine Lösung des Konflikts und eine Neuordnung der politischen Verhältnisse auf Arieka ermöglicht.
China Miévilles Embassytown (2011) lässt sich so als politische SF lesen, oder genauer gesagt als Kolonialismuserzählung, in der die Eigenheiten der Ariekei-Sprache dem Worldbuilding dienen und den Ablauf der Handlung vorantreiben. Ebenso kann man den Text als Reflexion auf die Darstellung und Darstellbarkeit des radikal Anderen auffassen. Der Autor wird allgemein dem Sub-Genre des New Weird zugeordnet, und die Ariekei und ihre Sprache verkörpern zu Beginn des Romans das kaum darstellbare Andere bzw. ›Weirde‹.
Darüber hinaus ist aber offensichtlich, dass der Roman sich auch an der westlichen sprachphilosophischen und linguistischen Theorietradition abarbeitet. Darauf weist im Text schon die Art und Weise hin, wie die Sprache der Ariekei konstruiert ist und wie sie in Gesprächen zwischen den Figuren kommentiert wird (v. a. zwischen der Hauptfigur Avice und ihrem Mann, dem Sprachwissenschaftler Scile). Auch weist der Autor selbst ausdrücklich darauf hin, dass der Text sich mit I. A. Richards, Paul Ricœur und Trần Đức Thảo sowie Walter Benjamin auseinandersetzt. Miéville hat den Roman in einem Interview sogar als »fictionalized version« eines noch zu verfassenden Sachbuchs über Metaphern bezeichnet (Miller 598).
Im Folgenden werden Worldbuilding und Romanhandlung in Embassytown auf ihre Verbindung zum sprachphilosophischen Kontext des Romans untersucht. Mit der Zweistimmigkeit und der Unfähigkeit der Ariekei, zu lügen und Metaphern zu gebrauchen, sind zwei zentrale Themen der westlichen sprachphilosophischen Tradition angesprochen. Es geht um nichts Geringeres als das Verhältnis von Sprache und Gegenstand und um das Verhältnis von Stimme und sprechendem Subjekt, mit anderen Worten: um Fragen von Wahrheit und Identität. Im Zentrum des Romans steht dabei vor allem die erste Frage. Sie nimmt im Roman den meisten Raum ein und ist am engsten mit dem Ablauf der Handlung verknüpft. Miéville führt uns in Embassytown vor, dass Metapherngebrauch für menschliches Sprechen unabdingbar ist und dass umgekehrt die direkte Einheit von Wort, Gedanke und Gegenstand unmöglich ist.
Neben der Analyse der sprachphilosophischen Themen und Thesen im Roman wird es darum gehen, zu rekonstruieren, auf welche Weise hier ein Erzähltext theoretische Zusammenhänge darstellt und Thesen bestätigt, widerlegt und illustriert. Es wird gezeigt, dass Embassytown Sprachphilosophie und Erzählung zu einer komplexen Struktur verschränkt, zu einer Art ›narrativem Experiment‹, in dem beide Bereiche sich gegenseitig befördern. Die Romanhandlung lässt sich in zwei Teile gliedern, in die Zeit vor der Krise, die durch die Ankunft des neuen Botschafterpaares ausgelöst wird, und die Zeit danach, in der eine neue sprachliche und gesellschaftliche Ordnung entsteht. Entsprechend kann man auch das Experiment in zwei Teile teilen: In Hinsicht auf die Sprache der Ariekei geht es zunächst darum, die Verhältnisse vor der Krise zu beschreiben (vgl. Abschnitt »Sprache und Kultur der Ariekei«). Der zweite Teil des Experiments setzt mit der Krise auf Arieka ein und endet mit der Entstehung einer neuen Sprache (vgl. Abschnitt »Die Sprachkrise«).
Der folgende Abschnitt stellt einige vorgreifende Überlegungen zum Verhältnis von Erzähltexten und theoretischen Texten an und bestimmt den hier verwendeten Begriff des Experiments näher. Im Anschluss wird rekapituliert, wie der Roman die Ariekei und die Eigenschaften ihrer Sprache beschreibt. Die Sprache der Ariekei wird als ›unmögliche‹ Sprache dargestellt, ihr Aussehen und ihre Lebensform als kaum beschreibbar und ›weird‹. Die theoretischen Implikationen dieser Beschreibung werden im Anschluss ausbuchstabiert: Sie werden im Roman verwendet, um Benjamins Sprachtheorie zu widerlegen und diejenige von Ogden/Richards plausibel zu machen.
Um die Frage der Einheit von Person und Stimme geht es im Abschnitt » Stimme und Identität«. Der Roman stellt unterschiedliche Varianten des Themas nebeneinander (z. B. die zweistimmigen Ariekei als Einzelpersonen) und macht dadurch Alternativen zur traditionellen Auffassung (Einheit von Stimme und personaler Identität) denkbar.
Der Abschnitt »Die Sprachkrise« legt dar, wie Miéville im zweiten Teil der Romanhandlung zunächst die Sprachkrise der Ariekei darstellt, indem er die Metapher der Sprache als Droge und als Virus in Szene setzt. Den letzten Schritt der Romanhandlung bildet die Entstehung einer neuen Ariekei-Sprache, die menschlichen Sprachen ähnlich ist, insbesondere in Hinblick auf den Gebrauch von Metaphern. Hier geht es hauptsächlich darum, zu zeigen, wie zentral der Gebrauch von Metaphern für menschliche Sprachen ist.
Gedankenexperimente und narrative Strategien in Embassytown
In Embassytown werden unterschiedliche narrative Strategien verwendet, um sprachtheoretische Fragestellungen zu beleuchten. Einige Momente der Handlung ähneln klassischen Gedankenexperimenten3, andere Teile spielen mit der Verkörperung unterschiedlicher theoretischer Möglichkeiten durch Figuren des Romans, mit der Literalisierung von Metaphern oder der Inszenierung der radikalen Veränderung einer Sprache. Diese Integration narrativer und argumentativ-erklärender Aspekte wird im Folgenden als ›narratives Experiment‹ bezeichnet, da der Roman eine ganze Welt entwirft, in der sprachphilosophische Thesen im Verlauf der Romanhandlung gleichsam ausgetestet werden.
In neuester Zeit hat Elgin die Debatte darüber wieder angestoßen, ob nicht alle Literatur als Gedankenexperiment anzusehen sei. Sie argumentiert, dass literarische Texte mit den Gedankenexperimenten der Naturwissenschaften wichtige Eigenschaften teilen: Sie sind narrativ und sie fungieren als Beispiele, die wir interpretieren und auf die reale Welt übertragen müssen, um diese besser zu verstehen (Elgin 3 f.). In der Philosophie werden Gedankenexperimente aber in der Regel enger definiert. So grenzt Bertram Gedankenexperimente in der Philosophie gegen philosophische Reflexion im allgemeinen auf der einen Seite und fiktionale Texte im allgemeinen auf der anderen Seite ab: Gedankenexperimente umfassen typischerweise erstens ein »kontrafaktisches Szenario« und zweitens eine Rahmung dieses Szenarios durch eine vorangehende »Fragestellung« und eine nachfolgende »Auswertung« (Bertram 18). Das Szenario selbst kann dabei auf die für das Experiment wesentlichen Elemente reduziert werden und ist nicht auf eine bestimmte sprachliche Realisierung festgelegt (Bertram 19, 67 f.).
Embassytown entspricht dem von Bertram definierten Begriff von Gedankenexperiment nicht, weist aber Überschneidungen damit auf. Eine systematische Einbettung in einen Fragekontext liefert der Roman nicht, und es werden auch keine expliziten Schlüsse gezogen. Beides ist laut Bertram (20 f.) typisch für literarische Texte im Gegensatz zu philosophischen Gedankenexperimenten. Allerdings sorgen in Embassytown die Kommentare der Figuren sowie paratextuelle Hinweise dafür, dass die Aufmerksamkeit der Leser*innen auf diejenigen Aspekte und Theorien gelenkt wird, die für den Text relevant sind.
Im ersten Teil der Romanhandlung entwirft Miéville mit der Sprache der Ariekei nicht nur eine Aliensprache, deren Fremdheit den Umkehrschluss auf die Eigenschaften menschlicher Sprachen zulässt. Vielmehr geht es mit der Sprache der Ariekei um die Konstruktion einer Sprache, die bestimmten Theorien darüber entspricht, wie menschliche Sprachen funktionieren oder funktionieren sollten, und zwar all jenen Theorien, die einen direkten Bezug von Wort und Gegenstand oder Wort und Gedanke annehmen. Diese Theorien werden ad absurdum geführt, indem der Roman demonstriert, dass die Sprache der Ariekei nicht nur anders ist als menschliche Sprachen, sondern so fremd, dass man sich eine entsprechende Lebensform nicht einmal vorstellen kann. Folglich können die in der Ariekei-Sprache verkörperten Eigenschaften auf menschliche Sprachen nicht zutreffen. Dieses Vorgehen entspricht strukturell der Beweisführung in einem klassischen Gedankenexperiment, wie man es aus der Philosophie kennt, und erfüllt zwei Funktionen, die Bertram (42) Gedankenexperimenten zuschreibt: »Argumentieren mit erzählerischen Elementen« (Bertram 42) und Thesen »erklären«, »illustrieren« und »veranschaulichen« (Bertram 36). Allerdings bietet die lange Form des Romans die Möglichkeit, bestimmte Aspekte detailreich zu beschreiben, anderes durch die Wahl der Erzählperspektive als nicht beschreibbar erscheinen zu lassen. Dadurch wird der logische Schachzug der reductio ad absurdum in einen Diskurs über Alterität und Verstehen eingebunden (vgl. die folgenden Abschnitte).
Eine weitere Möglichkeit, theoretische Fragen im Roman zu verhandeln, bietet das Genre der Science-Fiction mit der Gestaltung der humanoiden und nicht humanoiden Figuren. In Embassytown verkörpern unterschiedliche Figuren unterschiedliche Konstellationen von Person und Stimme. Das Science-Fiction-Szenario erlaubt es z. B., neben die einstimmigen Menschen die zweistimmigen Ariekei zu setzen, und bringt so Alternativen zur traditionellen Einheit von Person und Stimme ins Spiel (vgl. Abschnitt »Stimme und Identität«).
Des Weiteren bedient sich Embassytown des Kunstgriffs der Literalisierung von Metaphern. Die krisenhafte Verbreitung von Sprache als Virus und Droge, die die Ariekei ganz wörtlich krank und abhängig macht, zeigt den materiellen Aspekt der Zirkulation von sprachlichen Äußerungen in einer Gemeinschaft. Hier wird die sprachtheoretische Pointe – die Inszenierung der Materialität des Zeichens als Element der Romanhandlung – indirekt dadurch gewonnen, dass die entsprechenden Metaphern wörtlich genommen und in einer entsprechend konstruierten Welt eingesetzt werden (vgl. Abschnitt »Die Sprachkrise«).
Schließlich stellt der zweite Teil der Romanhandlung die Inszenierung einer Sprachentstehung dar: Die Einarbeitung der Sprachentstehung in die Handlung demonstriert, dass die neuerworbene Fähigkeit der Ariekei, Metaphern zu gebrauchen, ihre gesamte Sprache grundlegend verändert. Sie wird dadurch menschlichen Sprachen sehr viel ähnlicher und die Ariekei können sich nach dieser Transformation mit den Menschen direkt (also ohne die Intervention von Botschafter*innen) verständigen. Hier geht es rein darum, zu illustrieren, wie zentral Metaphern für den menschlichen Sprachgebrauch sind. Im Roman wird kein realistisches Modell für die Entstehung oder die Veränderung einer Sprache vorgestellt, sondern es wird ein Faktor – der Metapherngebrauch – variiert und die Konsequenzen werden auserzählt. Man könnte hier am ehesten von einer Art ›Sprachursprungsmythos‹ sprechen, der die These von der zentralen Rolle der Metaphern für menschliche Sprachen durchspielt und plausibel macht. Diese Vorgehensweise entspricht ebenfalls einer von Bertram (36 ff.) beschriebenen Art von Gedankenexperiment, dem ›erklärenden Gedankenexperiment‹ (vgl. Abschnitt »Die Entstehung neuer Sprachen«).
Diese vier Strategien, der an ein Gedankenexperiment angelehnte Beweis, die Verkörperung von theoretischen Variationen in Romanfiguren, die Literalisierung von Metaphern und das Auserzählen von theoretischen Vorgaben in einer entsprechend konstruierten Welt, werden im Folgenden rekonstruiert, um das Verhältnis von Sprachtheorie und Erzähltext zu erhellen.
Sprache und Kultur der Ariekei
Im Universum von Embassytown gibt es unterschiedlichste Aliensprachen sowie das ›Anglo-Ubiq‹ (in Anspielung auf Englisch ›ubiquitous‹ / ›allgegenwärtig‹), das als lingua franca fungiert. Neben der Sprache der Ariekei werden im Roman Sprachen erwähnt, die auf Farben (E 36), Berührung (E 36), dem Herauswürgen und Konsumieren von enzymhaltigen Pellets (E 36) oder Empathie (E 55) beruhen, sowie andere mehrstimmige Sprachen (E 53). Sie alle funktionieren anders als menschliche Sprachen und könnten als Kontrastfolie dienen, um deren Eigenschaften durch den Gegensatz zu verdeutlichen. Und das ist auch der erste Eindruck, den Leser*innen von der Sprache der Ariekei haben: Es geht darum, eine Sprache zu konstruieren, die sich von menschlichen Sprachen in Hinsicht auf Referenz und Wahrheit möglichst deutlich unterscheidet.
In der Sprache der Ariekei funktioniert der Gegenstandsbezug anders als in menschlichen Sprachen. Die Ariekei können nur über das sprechen, was der Fall ist oder war. Das bedeutet nicht, dass die Ariekei eine den menschlichen Sprachen ähnliche Sprache hätten, sich nur eben besonders ehrlich ausdrückten. Vielmehr besteht in ihrer Sprache eine direkte Verbindung vom Gegenstand zum sprachlichen Ausdruck und zum Bewusstsein der sprechenden Person: »for them each word is a funnel. […] A door, through which the thought of that referent, the thought itself that reached for that word, can be seen« (E 55). Die genaueste Beschreibung dieses Verhältnisses ist nicht umsonst eine Metapher, denn eine Sprache dieser Art ist kaum vorstellbar. Das wird sofort klar, wenn man sich überlegt, welche Konsequenzen diese Festlegung hat: Zum einen bedeutet das, dass es nur eine einzige Sprache geben kann; die Sprache der Ariekei heißt daher im Roman in emphatischer Großschreibung auch einfach ›Language‹. Zum anderen ist nicht nur das Lügen unmöglich, sondern auch metaphorisches Sprechen. Die Ariekei haben daher in ihrer Sprache z. B. keine Polysemie (E 80, 295), keine Ambiguität (E 295), keine Demonstrativpronomen (E 285) und keine Schrift (E 56, 77; Weakland 85). Und es steht zu vermuten, dass es in ihrer Gesellschaft dann auch keine Religion (E 124), keine fiktionalen Erzählungen, keine Kunst (Weakland 85) und keine Höflichkeitsformen gibt.
Im Roman wird diese Eigenschaft der Ariekei-Sprache mit Hilfe von zwei sozialen Praktiken der Ariekei dargestellt, dem Verwenden von Vergleichen (englisch ›simile‹; ›Vergleich‹, ›Simile‹)4 und dem ›Festival of Lies‹ (›Fest der Lügen‹). Wenn die Ariekei einen neuen Aspekt in ihrer Sprache ausdrücken möchten, steht ihnen zu Beginn des Romans lediglich die Möglichkeit offen, Vergleiche anzustellen bzw. herzustellen. Sie können Vergleiche nur verwenden, wenn die Vergleichsgegenstände auch tatsächlich existieren (oder existiert haben).5 Sie müssen daher eine tatsächliche Situation inszenieren, mit der sie das, worüber sie sprechen möchten, dann vergleichen (wie und ob diese Vergleiche in der Sprachgemeinschaft verbreitet werden, bleibt unklar). Diese Inszenierungen werden in der Gegenwart oft mit Hilfe menschlicher Protagonist*innen aufgeführt (E 106). Avice, die Hauptfigur des Romans, ist einer dieser lebenden Vergleiche. Sie wurde als junges Mädchen an einen ihr unbekannten Ort gebracht und hat dort etwas gegessen, ohne wirklich zu verstehen, was vor sich geht:
They warned me that the literal translation of the simile would be inadequate and misleading. There was a human girl who in pain ate what was given her in an old room built for eating in which eating had not happened for a time. »It’ll be shortened with use«, Bren told me. »Soon they’ll be saying you’re a girl ate what was given her.« (E 26)
Avices Vergleich wird dann später erklärt als »more or less an expression intended to invoke surprise and irony, a kind of resentful fatalism« (E 26).
Da diese Inszenierungen geplant werden müssen, müssten die Ariekei dazu aber eigentlich einen Vorbegriff des entsprechenden Ausdrucks haben. Die Praxis des Vergleichens setzt also voraus, dass die Ariekei die Grenzen der direkten Verbindung von sprachlichem Ausdruck, Gegenstand bzw. Situation und Gedanke immer schon an einer Stelle überschreiten können. Die Ich-Erzählerin Avice kommentiert diese Schwierigkeit folgendermaßen: »Without Language for things that didn’t exist, they could hardly think them; they were vaguer by far than dreams« (E 83). Hier werden die späteren Veränderungen der Sprache bereits angelegt.
Ähnliches gilt auch für die zweite kulturelle Praxis, durch die im Roman die Besonderheit der Ariekei-Sprache ausbuchstabiert wird. Durch den Kontakt mit anderen Kulturen wissen die Ariekei, dass andere Spezies dazu imstande sind, die Unwahrheit zu sagen. Sie sind fasziniert von dieser Fähigkeit und organisieren ›Festivals of Lies‹. Bei diesen Veranstaltungen treten auf einer Bühne zunächst menschliche Botschafter*innen auf, die z. B. blaue Gegenstände ›rot‹ nennen. Diese Vorführungen einer für sie fast unmöglichen sprachlichen Praxis erfüllt die Ariekei im Publikum mit einer Art trunkener Begeisterung; sie werden »literally lie-drunk« (E 84). Anschließend versuchen Ariekei unter großen Anstrengungen diese schlichten Lügen nachzuahmen. Klar ist, dass es sich dabei um eine kognitive (und vermutlich auch soziale) Transgression handelt, die eine tiefe Faszination auf sie ausübt.
Die beiden beschriebenen Praktiken, die realweltliche Inszenierung von Vergleichen und die Feste, sind in dieser Form Kontaktphänomene, insofern sie erst im Kontakt mit anderen Spezies entstehen oder zumindest ausgebaut werden konnten. Für uns als Leser*innen wird die fremde Kultur also nur dort fassbar, wo sie sich bereits auf unsere eigene(n) zubewegt. Dennoch zeigen diese beiden Praktiken, wie drastisch sich die Sprache der Ariekei von menschlichen Sprachen unterscheidet und wie fremd uns eine Gesellschaft sein wird, in der sie üblich ist.
Über die Lebensweise der Ariekei erfährt man im Roman nur wenig Konkretes. Ihre Technik beruht auf der Manipulation von Lebewesen, aus denen Geräte und Gebäude hergestellt werden. Aber weder die Bewohner*innen von Embassytown, noch die Leser*innen (die auf die Perspektive der Ich-Erzählerin Avice festgelegt sind) wissen Genaueres über die politischen und sozialen Verhältnisse außerhalb der menschlichen Siedlung oder auch nur über die Geografie des Planeten. Die Wahl der Erzählperspektive ermöglicht hier das Ausblenden von allem, was die Ich-Erzählerin, offensichtlich entsprechend einer in Embassytown verbreiteten Gewohnheit, ignoriert.
Sogar das Aussehen der Ariekei wird den Leser*innen erst nach und nach enthüllt, sodass man die Detailaufnahmen im Laufe der Lektüre zu einem Bild zusammensetzen muss. Die Ariekei haben Schnurrhaare (E 79), vier spinnenartige, behaarte Beine (E 80), zwei Münder, von denen einer auf einer Art Stiel, der andere auf Brusthöhe sitzt (E 79). Sie haben runde Bäuche, und ihre zahlreichen Augen (E 275) sitzen ebenfalls auf einer Art Stielen (E 79). Darüber hinaus haben sie zwei Flügel, einen, mit dem sie hören, und einen, den sie wie eine Hand einsetzen können (E 80). Die Ariekei werden so als groteske Montage ganz spezifischer physischer Elemente präsentiert, die an Spinnen und Cartoon-Aliens mit Stielaugen erinnern.
Die Ariekei selbst und ihre Lebensweise sind so nie als Ganze beschreibbar, sie sind für die Bewohner*innen von Embassytown, und noch mehr für die Leser*innen des Romans, mit einer Art kognitiver Unschärfe belegt, und diese Erzählstrategie verankert den Roman auch im Kontext eines bestimmten Genres (Zähringer 531 ff.). China Miéville gilt als einer der Hauptvertreter des New Weird, »a blend of science fiction, surrealism, fantasy, magical realism, and Lovecraftian horror« (Vint 197). Mit dem von Lovecrafts kosmischem Horror geprägten »High Weird« (Miéville, »Quantum Vampire« 105) der 1920er- und 1930er-Jahre hat das New Weird insbesondere gemeinsam, dass das ›Weirde‹ die Vorstellung eines geordneten, für Menschen verständlichen Universums in Frage stellt (wobei der Schrecken bei Miéville historisch-politisch interpretiert wird (128)). Dargestellt wird das Andere klassischerweise gleichzeitig als »indescribable and formless« und in einer »impossible somatic precision« (105). Prototypisch ›weird‹ in diesem Sinne ist das Tentakel wie es als Kurzformel für das absolut Fremde im Cthulhu-Mythos vorkommt (105). Die Ariekei werden in diesem Sinne durch die Verbindung von Unsagbarkeitstopos und erschreckender Körperlichkeit klar als ›weird‹ gekennzeichnet. Für das Experiment bedeutet das, dass sie – und damit ihre Sprache – geradezu der Inbegriff von Alterität sind: Was die ›weirde‹ Sprache der Ariekei ausmacht, kann von menschlichen Sprachen nicht sinnvoll ausgesagt werden.
In Embassytown ist ›weird‹ allerdings keine ontologische Festlegung – denn am Schluss des Romans funktionieren ja Zusammenarbeit und Kommunikation mit den menschlichen Nachbar*innen. Das hängt zum einen damit zusammen, dass die Sprache der Ariekei sich verändert, aber auch daran, dass die ›weirdness‹ zu Beginn des Romans auch im Auge der menschlichen Betrachter*innen liegt: »we looked at our Hosts [d.h. die Ariekei] and saw insect-horse-coral-fan things. Those were chimeras of our own baggage.« (E 121, vgl. auch Zähringer 532) Die nachgerade alberne Ansammlung von allem, was als monströs gelten könnte (mit ostentativer Auslassung des lovecraftschen Tentakels), weist ironisch auf das zwangsläufige Scheitern der Beschreibung des radikal Anderen hin.
Dass wir als Leser*innen die Leerstellen hinsichtlich der Kultur und Lebensweise der Ariekei nicht füllen können, liegt so zum einen an einer erzählerischen Strategie des blinden Flecks, die uns in die Perspektive der Bewohner*innen von Embassytown versetzt, die die Ariekei und deren Lebenswelt nicht verstehen können und nicht wirklich wahrnehmen. Zum anderen liegt es aber auch in der logischen Konsequenz der Festlegungen hinsichtlich der Sprache der Ariekei: Wir können uns nicht vorstellen, wie eine Gesellschaft organisiert ist, in der nur über Tatsachen gesprochen werden kann. Die Erzählstrategie und die Logik der sprachphilosophischen Festlegungen greifen ineinander, sodass klar wird, dass wir hier die Unmöglichkeit der Ariekei-Gesellschaft und die Unmöglichkeit ihrer Darstellung nicht einmal unterscheiden können.
Referenz und Wahrheit
Miéville verweist explizit auf spezifische Autoren, auf die er sich mit den sprachphilosophischen Themen des Romans bezieht: I. A. Richards, Paul Ricœur und Trần Đức Thảo sowie Walter Benjamin.6 Paul Ricœurs Arbeiten bilden den Hintergrund für das Thema Metaphern im Roman; Trần Đức Thảo wird für das Thema Deixis im zweiten Teil des Romans wichtig; I. A. Richards und Walter Benjamin sind für die ursprüngliche Konzeption der Sprache der Ariekei relevant. Der erste Teil des Romans macht die semiotische Theorie von Ogden/Richards plausibel, indem er die Gegenposition (in Gestalt von Benjamins Gedanken einer idealen Sprache) ad absurdum führt.
Laut C. K. Ogdens und I. A. Richards klassischer Studie The Meaning of Meaning (11) sind am Zeichenprozess drei Elemente zu unterscheiden: ›symbol‹ (das als Zeichen für etwas steht), ›reference‹ (der Gedanke, auf den sich das Zeichen bezieht) und ›referent‹ (der Gegenstand, auf den sich der Gedanke bezieht). In diesem Ansatz, der als ›semiotisches Dreieck‹ bekannt geworden ist, ist das Verhältnis zwischen Zeichen und Gegenstand indirekt, vermittelt über den Gedanken und damit über den Zeichengebrauch einer Person, die etwas als Zeichen für etwas anderes verwendet. Laut Ogden und Richards (12) ist die Vorstellung einer direkten Verbindung von Zeichen und Gegenstand eine Art philosophisches Grundübel, das insbesondere dafür verantwortlich ist, dass man fälschlicherweise von der Existenz von Wörtern auf die Existenz der entsprechenden Gegenstände schließt.
Man kann die Sprache der Ariekei als Inszenierung dieser (nach Ogden und Richards falschen) semiotischen Theorie lesen, da die Ariekei Wort, Gedanke und Gegenstand quasi in eins setzen. Wenn die Sprache der Ariekei und die dazugehörige Lebensform unvorstellbar sind, können diese Eigenschaften auch nicht auf menschliche Sprachen zutreffen. Umgekehrt werden dadurch Theorien wie die Ogdens und Richards’, die eine direkte Verbindung von Zeichen und Gegenstand ablehnen, plausibel gemacht.
Mit Benjamin verhält es sich umgekehrt, obwohl das Zitat aus seiner frühen Schrift »Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen«, das dem Roman als Motto vorangestellt ist, zunächst anderes vermuten ließe. Im deutschen Original lautet das Motto: »Das Wort soll etwas mitteilen (außer sich selbst)« (Benjamin 44). Das scheint auf eine Trennung von Wort und Referenzgegenstand hinzuweisen. Allerdings fährt Benjamin fort: »Das ist wirklich der Sündenfall des Sprachgeistes« (44). Die Vorstellung, dass Menschen sich mit Hilfe sprachlicher Ausdrücke Mitteilungen über Gegenstände machen, ist für Benjamin eine »bürgerliche« Auffassung von Sprache (34), die er grundsätzlich ablehnt. Er deutet Sprache (und Zeichensysteme im Allgemeinen) in einer religiösen Perspektive: Die Sprache ist »aus dem paradiesischen Zustand, der nur eine Sprache kannte, gefallen« (43), daher können menschliche Sprachen nur teilweise und mittelbar das erreichen, was Benjamin an einer Stelle das »geistige Wesen« (31 f.), an einer anderen »die Mitteilung des Konkreten« (45) nennt. Durch den »Sündenfall des Sprachgeistes«, der hier also ganz wörtlich zu nehmen ist, wird der unmittelbare Zugang der Sprache zu dem, worauf sie sich bezieht, zerstört. Eine paradiesische Sprache wäre umgekehrt eine, die sich unmittelbar auf ihren Gegenstand bezöge, und es könnte nur eine solche Sprache geben.
Es liegt insofern nahe, die Sprache der Ariekei mit Weakland (84), Głaz (347) und Michalowicz (34) als eine solche paradiesische Sprache zu deuten und die Handlung des Romans als eine Art Sündenfall, der die Ariekei menschlich macht (Głaz 347) oder ihnen den Raum der Phantasie eröffnet (Michalowicz 43). Der Gedanke einer paradiesischen Sprache ist in der westlichen Tradition Teil einer langen Geschichte der Suche nach der vollkommenen Sprache (Eco), die spätestens mit der Bibel beginnt und über die philosophischen Kunstsprachen der Neuzeit zu Sprachtheorien wie der Benjamins führt. Hier bezieht sich die Widerlegung des Romans also eher auf einen Typus von Theorie als auf einen bestimmten Ansatz.
Der erste Teil der Handlung konstruiert die Sprache der Ariekei als »anti-language« (Głaz 337), und wie wenig die Ariekei-Sprache mit menschlichen Sprachen gemein hat, zeigt sich in den Praktiken der ›Festivals of Lies‹ und der lebenden Vergleiche, die bereits ihre wesentlichen Merkmale ins Bild setzen. Die Figur Scile kommentiert: »›Does it ever occur to you that this language is impossible, Avice?‹ he says. ›Im, poss, ih, bul. It makes no sense. […] How can they be sentient and not have symbolic language? How do their numbers work?‹« (E 80).
Diese unmögliche Sprache ist klarerweise als das Andere zu menschlichen Sprachen konstruiert (Głaz 337), aber wie oben dargelegt, geht es um mehr als den bloßen Kontrast: Die Unfassbarkeit ihrer Lebensweise und ihres Aussehens fügt diesen Unterschieden eine neue Dimension hinzu, die der ›weirdness‹. Nicht nur haben menschliche Sprachen solche Eigenschaften nicht, man kann sich Aliens, die eine solche Sprache sprechen, nicht einmal vorstellen. Das ist nicht nur eine originelle Verwendung des lovecraftschen Unsagbarkeitstopos, sondern Teil eines Experiments, das bestimmte Theorien über die menschliche Sprache ad absurdum führt.
Stimme und Identität
Die Ariekei haben zwei Münder, mit denen sie nur gleichzeitig sprechen können (E 53). Ihre Sprache ist zweistimmig, und Ariekei-Ausdrücke setzen sich aus zwei unterschiedlichen Lautketten zusammen, die gleichzeitig ausgesprochen werden. Im Roman werden sie daher als ›Bruch‹ übereinandergeschrieben, wie z. B. der Gruß » « (E 54). Die menschliche Praxis, der das am nächsten kommt, ist ein dadaistisches Simultangedicht.
In dieser Zweistimmigkeit bringt sich aber ein einziges Bewusstsein zum Ausdruck und die Ariekei verstehen Sprache auch nur, wenn sie zwei Bedingungen erfüllt: Einheitlichkeit und Aktualität der Sprecherintention bei gleichzeitiger Zweistimmigkeit. Das ist einer der Gründe, der die Kommunikation mit ihnen für Menschen und andere Spezies schwierig machen. Sie können theoretisch lernen, die Ariekei zu verstehen, aber nicht umgekehrt (E 49) – denn für die Ariekei ist das Sprechen eines einzelnen Menschen »noise« (E 13). Sie verstehen weder zwei unterschiedliche Personen, die die richtigen Lautketten gleichzeitig äußern, da es sich nicht um ein einziges Bewusstsein handelt (auch wenn sie in diesem Fall verstehen, dass jemand versucht zu sprechen) (E 54, 57), noch verstehen sie zweistimmige Tonaufnahmen (E 54 f., 77), da es sich nicht um aktuelle absichtsvolle Äußerungen einer einzigen lebendigen Person handelt (E 55). Sie können andere Sprachen wie Anglo-Ubiq nicht nur nicht lernen, sie konnten sich vor dem Kontakt mit anderen Kulturen nicht einmal vorstellen, dass es andere Sprachen gibt (E 55). Sie verstehen auch nicht, wie man Sprachen schreiben kann (E 56, 77).
In Embassytown hat man dieses Problem gelöst, indem man Paare von Klonen, die Botschafter*innen, heranzieht und ausbildet, die genau aufeinander eingespielt sind. Sie gehören in Embassytown zur Elite, da sie der Stadt – sehr zum Leidwesen der Zentralregierung in Bremen – das Monopol auf die Kommunikation mit den Ariekei sichern.
Die Botschafterpaare führen einen gemeinsamen zusammengesetzten Namen, der im Roman durch Binnengroßschreibung ausgezeichnet ist, z. B. CalVin, EdGar, MagDa, JoaQuin etc. (E 45 f.); die einzelnen Botschafter*innen werden von den Menschen jeweils als Cal bzw. Vin etc. bezeichnet, eigentlich sind ihre Namen aber für die parallele Aussprache der Ariekei-Sprache gedacht (E 15, 17). Sie treten in der Regel zu zweit auf und achten darauf, einander ihr Leben lang körperlich so ähnlich wie möglich zu bleiben, damit die Ariekei sie als eine Person identifizieren.
In Interviews erzählt China Miéville, dass ihm die Idee von zweistimmigen Aliens im Alter von 11 Jahren gekommen sei (Miller 600). Im Roman ist aber schnell klar, dass auch hier wieder Bezug auf Theoriegeschichte genommen wird:
»There is no other language that works like this«, Scile said. »›The human voice can apprehend itself as the sounding of the soul itself.‹« […] I could tell he was quoting. […] »I can’t remember. Some philosopher. […] It’s not true, not for the human voice. But the Ariekei… when they speak they do hear the soul in each voice.« (E 55 f.)
Der fragliche Philosoph, dessen Diktum auf die Ariekei, nicht aber auf menschliche Sprachen zutrifft, ist Hegel, der in seinen Vorlesungen über die Ästhetik die Singstimme auf diese Weise beschreibt. Er kann hier stellvertretend für die enge Verbindung von Stimme und Bewusstsein in der westlichen philosophischen Tradition stehen. In der Sprache der Ariekei verbindet sich dieses Motiv der Transparenz der ›Seele‹ mit der Unfähigkeit, zu lügen, und dem direkten Gegenstandsbezug; so fällt sie im Roman derselben Widerlegungsstrategie zum Opfer. Auch hier ist etwas, das über menschliche Sprachen behauptet wurde, eigentlich nicht einmal vorstellbar.
In Embassytown wird die Verbindung von Stimme und Identität noch auf andere Weise unterlaufen, nämlich dadurch, dass unterschiedliche Konstellationen von Stimme und Person durchgespielt werden: Zu Beginn des Romans hat man die zweistimmigen Ariekei mit einem unklaren Personenstatus; am Ende des Romans werden die Ariekei dagegen trotz ihrer Zweistimmigkeit problemlos als Individuen anerkannt. Der Status der Botschafter*innen bleibt unklar (Avice z. B. kann sie nur als zwei unterschiedliche Individuen ansprechen, sie selbst scheinen das anders zu sehen; ganz klar wird das aber nicht). Eine Nebenfigur des Romans, Ehrsul, ist eine KI, deren sprachliches Verhalten mit menschlichem Verhalten identisch ist, und die von Avice, aber nicht von anderen Romanfiguren, als Person akzeptiert wird. Diese Konstellationen entkoppeln Stimme und Person: Zu Beginn des Romans irren sich Menschen und Ariekei jeweils bei der Bestimmung des Personenstatus der anderen Gruppe, weil sie Person und Stimme in einer bestimmten Art verbinden. Aber letztlich akzeptieren sowohl die Figuren als auch die Leser*innen am Ende des Romans die zweistimmigen Ariekei als Personen, sobald sich die semiotischen Eigenschaften ihrer Sprache denen menschlicher Sprachen angeglichen haben (vgl. Abschnitt »Die Entstehung neuer Sprachen«); und die Ariekei akzeptieren dann umgekehrt die einstimmigen Menschen ebenfalls als vollgültige Sprecher*innen. Der genaue Personenstatus der Botschafter*innen und der KI bleibt in der Schwebe, denn weder die Menschen noch die Ariekei haben am Ende des Romans vollständig klare Kriterien, nach denen sie Intention und Personenstatus zuschreiben.
Miéville knüpft also auch hier an einen Diskurs an, der ein Grundmotiv westlicher philosophischer Tradition in Frage stellt.7 Und auch hier wird eine Auffassung ad absurdum geführt, indem sie mit den Ariekei assoziiert wird: Wenn Hegels Aussage auf die Sprache der Ariekei zutrifft, kann sie nicht auf menschliche Sprachen zutreffen. Darüber hinaus führt der Roman unterschiedlichste Varianten vor, wie Stimmen mit personaler Identität zusammenhängen könnten, und zeigt, dass die traditionelle Vorstellung davon nicht alternativlos ist.
Die Sprachkrise
Der chronologisch zweite Teil der Romanhandlung und damit der zweite Teil des Experiments beginnt mit einer politischen Krise. Die Kolonialmacht Bremen hat ein eigenes Botschafterpaar nach Embassytown geschickt, um das Monopol der Kolonie zu brechen und direkt mit den Ariekei kommunizieren zu können. EzRa unterscheidet sich in einem wesentlichen Punkt von den heimischen Botschafterpaaren: Sie sind keine Klone, sondern zwei Personen, die einander (zumindest in menschlichen Augen) nicht einmal ähnlich sind (E 47). Sie verhalten sich auch anders als die anderen Botschafter*innen: Sie frisieren sich unterschiedlich (E60, 62), bleiben nicht ständig zusammen (E 59, 119 ff.) und haben deutlich unterscheidbare Persönlichkeiten (E 64).8
Sind schon die Bewohner*innen von Embassytown schockiert von dem »impossible new Ambassador« (E 5), so hat die Veränderung eine drastische und völlig unvorhergesehene Wirkung auf die Ariekei: Als sie die Stimmen des neuen Botschafterpaares hören, verfallen sie in eine Art kollektive Verzückung (»trance«, E 94), gefolgt von Entzugserscheinungen und rasender Wut, sobald sie die Stimmen zu lange nicht zu hören bekommen. Dadurch bricht die Kommunikation mit den Ariekei zusammen, die Versorgung der Stadt aus dem Umland kommt zum Erliegen und die Stadt geht von einer vagen Krisenstimmung in eine Art Belagerungszustand über, als mehr und mehr umherirrende Ariekei ihre regelmäßige ›Dosis‹ der Stimmen einfordern. In der Folge ändern sich die politischen Verhältnisse: In Embassytown wird der Gouverneur Bremens entmachtet und eine Art Komitee, dem auch Avice angehört, versucht, das Überleben der Stadt zu sichern. Bei den Ariekei bilden sich drei Gruppen heraus: erstens die hoffnungslos Süchtigen; zweitens die sogenannten ›Languageless‹, die der Sucht entkommen, indem sie sich das Organ, mit dem sie hören (den ›Fächerflügel‹), selbst amputieren;9 und drittens eine Gruppe, die ihre Sucht einigermaßen im Griff hat und an der Veränderung ihrer Sprache arbeitet. Diese letzteren, v. a. ein Ariekes, den Avice ›Spanish Dancer‹ nennt, tun sich mit Avice zusammen. Gemeinsam retten sie die Stadt, indem sie eine neue Sprache entwickeln, die die Ariekei von ihrer Sucht heilt. Als eine Armee der ›Languageless‹ auf Embassytown zukommt, um den Planeten mit Gewalt von der Sucht und den Menschen, die sie verursacht haben, zu befreien, kommt es zu einer Art Showdown. Dabei machen Avice und ihre Gruppe den ›Languageless‹ einerseits klar, dass die Sucht mit Hilfe der veränderten Ariekei-Sprache heilbar ist, und andererseits, dass auch sie selbst eine Sprache entwickeln können, nämlich eine Gebärdensprache sowie deren Verschriftlichung. Der Roman endet damit, dass weitere Kämpfe vermieden werden und sich ein neues politisches Gleichgewicht herausbildet.
Die Sprachkrise der Ariekei wird mit Hilfe eines Kunstgriffs in Szene gesetzt, der im Genre Science-Fiction nicht selten ist, der Literalisierung von Metaphern. In Embassytown werden drei Metaphern literalisiert und verbunden: Sprache als Religion, als Droge und als Virus. Die Sprache der Ariekei wird bereits zu Beginn der Krise von einer politischen Gruppierung religiös überhöht und zwar im Sinne der oben mit Bezug auf Benjamin erläuterten paradiesischen Ursprünglichkeit. Sie halten sie für »God’s Language« (E 148), jede Veränderung wird von ihnen als Sakrileg angesehen und sie gehen bis zum politischen Attentat, um die ursprüngliche Form der Ariekei-Sprache zu erhalten. Dieses Motiv der »language as theology« (Miéville in Miller 598) wird dann noch einmal variiert, wenn umgekehrt die süchtig machenden Reden des neuen Botschafters EzRa als »god-drug« (E 194) bezeichnet werden, da sie auch dazu verwendet werden können, die Ariekei zu lenken. Die Sprache als Religion wird hier zum Opium fürs Volk und die betroffenen Ariekei werden zu »junkies« (E 167). Gleichzeitig wird die ›god-drug‹ als eine Art Virus beschrieben, der neben den Ariekei auch ihre biologisch konstruierten Häuser und ›Maschinen‹ befällt.10 Weakland (89) notiert, die Metapher der Sprache als Virus »provides a science-fictional understanding of the signifier’s materiality«. Diese Interpretation lässt sich auf den gesamten Metaphernkomplex ›Sprache als Religion-Droge-Virus‹ erweitern: Die Betonung der materiellen Zirkulation der Sprache in einer Gesellschaft wäre dann der Gegenentwurf zur benjaminschen paradiesischen Sprache, der diese in der Romanhandlung buchstäblich verdrängt und so die Krise herbeiführt.
Die Literalisierung von Metaphern, wie sie hier eingesetzt wird, ist nicht nur ein wichtiges Stilelement von SF im Allgemeinen, sie eignet sich auch, um Theorien durch narrative Verkörperung quasi auf die Füße zu stellen. Hier wird mit erzählerischen Mitteln der Blick auf die Voraussetzungen der kritisierten Theorien gelenkt, nämlich auf die Verdrängung der Materialität des Zeichens.
Die Entstehung neuer Sprachen
Die Wendung der Handlung beruht zum einen darauf, dass es einer kleinen Gruppe von Ariekei mit Hilfe von Avice gelingt, ihre Sprache vom bloßen ›referring‹ zum ›signifying‹ zu entwickeln (E 296). Dabei spielt der Gebrauch von Vergleichen eine wichtige Rolle als Zwischenschritt. Avice spricht den Ariekei mit Hilfe einer Dolmetscherin Texte der folgenden Art vor:
»You’re trying to change things […] You want to change like the girl who ate what was given to her. So you’re like me [d. h. Avice]. Those who aren’t trying to change anything are like the girl who didn’t eat what she wanted but what was given to her: they’re like me. You are like that girl who ate. You are the girl who ate. […] And so are the others who aren’t like you.« (E 301)
Die Ariekei, die es schaffen, das in ihrer eigenen Sprache zu wiederholen, haben zwei wesentliche Schritte vollzogen: Sie haben den Vergleich auf zwei unterschiedliche (scheinbar widersprüchliche) Arten verwendet (was in der ursprünglichen Ariekei-Sprache unmöglich ist), und sie sind mit einer Formulierung wie »You are the girl« (anstatt »You are like that girl«) vom Vergleich zur Metapher übergegangen. Dadurch machen sie ihren Sprachgebrauch unabhängig von den Tatsachen und erfahren, dass etwas, das nicht buchstäblich wahr ist, dennoch etwas Wahres enthalten kann. Die Unterscheidung von Wort, Gedanke und Referenzgegenstand eröffnet ihnen »room to think« (E 310), und sie sind damit von ihrer Sucht geheilt. Im Prinzip ist ihnen damit auch klar, dass es mehrere Sprachen gibt und sie können Anglo-Ubiq lernen (E 310) bzw. entwickeln ihre eigene, zweistimmige Varietät, »Anglo-Ariekei« (E 343): » « (E 343). Sie können ihre Zweistimmigkeit darüber hinaus für neue Sinneffekte (» « (E 343)) und einen spielerischen Umgang mit Sprache(n) (» « (E 343)) nutzen.
Die zweite sprachliche Entwicklung, die zur Wendung führt, besteht darin, dass die ›Languageless‹ verstehen, dass sie eigentlich kommunizieren können. Avice hatte bemerkt, dass sie sich koordinieren und durch Zeigegesten verständigen können (E 295). Die Abstraktion, die in dieser Verwendung von Deixis liegt, geht über die Möglichkeiten der (alten) Ariekei-Sprache hinaus, da sie allgemeine Vorstellungen (›that‹) impliziert, losgelöst von einem bestimmten Referenten (Zähringer 527). Die Ariekei um Spanish Dancer entwickeln mit einem gefangenen ›Languageless‹ gemeinsam die ersten Elemente einer Gebärdensprache (E 315) und einer ›ideographischen‹ Schrift (E 324)11; diese werden von den anderen ›Languageless‹ aufgenommen und weiterentwickelt.
Embassytown inszeniert so eine Art doppelten Sprachursprungsmythos, in dem der Gebrauch von Metaphern einerseits und von Deixis andererseits jeweils Angelpunkt der Sprachentwicklung ist. Die zweite dieser Sprachursprungserzählungen bezieht sich auf das Werk Trần Đức Thảos, genauer seine Rekonstruktion der Bewusstseinsentwicklung auf Basis des dialektischen Materialismus. Für ihn ist die Zeigegeste ein Schlüsselelement in der Entwicklungsgeschichte des Menschen, da sie das Verbindungselement zwischen Sensomotorik, Symbolgebrauch und Bewusstseinsentwicklung darstellt und damit eine materialistische Rekonstruktion der Emergenz des individuellen Bewusstseins aus kollektivem Kommunikationsverhalten ermöglicht (Trần 313, 319).
Was den Gesamtprozess der Entstehung der neuen Ariekei-Sprache(n) angeht, so ist er nicht als Rekonstruktion historischer Entwicklungen zu verstehen, nicht einmal im idealtypischen Sinne; denn der Ausgangspunkt, die Ariekei-Sprache, ist ja ausdrücklich als unmöglich gekennzeichnet. Es geht also in diesem Teil des Experiments nicht darum, eine Sprachursprungstheorie zu beweisen. Vielmehr geht es darum, durchzuspielen, was alles mit jeweils einem Element des Sprachgebrauchs – Metapher bzw. Deixis – in Verbindung steht, und dadurch deutlich zu machen, wie zentral beide Erscheinungen für menschliche Sprachen sind. Allerdings werden die Themen Deixis und Gebärdensprache nur wenig ausgeführt, und die Bedeutung von Deixis für gesprochene Sprachen wird ausgeklammert. Im Mittelpunkt stehen die Metaphern, da sie die ›Auflösung‹ darstellen, auf die hin die Haupthandlung angelegt ist. 12
Man kann in dem Gedanken, dass der Gebrauch von Metaphern dem alltäglichen Sprachgebrauch zugrunde liegt, eine Anspielung auf I. A. Richards’ The Philosophy of Rhetoric sehen (Richards 120). Seine These »metaphor is the omnipresent principle of language« (92) muss man allerdings nicht unterschreiben, um Avices Versuchen, die Ariekei-Sprache zu verändern, zu folgen. Der Beschreibung von Metaphern im Roman liegen zwei allgemeine Gedanken zu Metaphern zugrunde, die man bei Ricœur aber auch anderen Autor*innen nachlesen kann: Erstens sind Metaphern nicht einfach Lügen – sie sind zwar wörtlich falsch, können aber, wie Aristoteles schon wusste, zu einer neuen Erkenntnis führen (38). Daher nennen die Ariekei die Metaphern dann » « (E 337). Das ist möglich, weil in der Metapher nicht lediglich ein Wort durch eine schmückende Umschreibung ersetzt wird, sondern die Metapher auch vom Satzkontext aus als neuer Sinneffekt gelesen werden kann (Ricœur 87). In Embassytown geht es nicht um eine bestimmte Theorie der Metapher, nicht um die Abgrenzung von metaphorischem und nicht-metaphorischem Sprechen und auch nicht um die genaue Logik des Metapherngebrauchs – vielmehr wird ganz allgemein die zentrale Bedeutung des Phänomens für menschliche Sprachen hervorgehoben. Man muss als Leser*in keines dieser Probleme lösen, sondern lediglich verstehen, dass die Ariekei Metaphern dann genauso verwenden wie wir.
Die doppelte Sprachursprungserzählung der ›Languageless‹, die eine Gebärdensprache entwickeln, und der »New Ariekei« (E 339), die ›Anglo-Ariekei‹ sprechen, wird im Roman insgesamt positiv, als ein Prozess des ›zur Sprache Kommens‹ dargestellt (vgl. z. B. die Rede des Ariekes Spanish Dancer, E 335 f.), und die Haupthandlung endet damit, dass größeres Blutvergießen vermieden werden kann. Das garantiert kein Happy End, denn die weitere Entwicklung der politischen Lage insgesamt bleibt offen, aber die Menschen aus Embassytown und die beiden Gruppen der Ariekei können sich verständigen und haben gegenüber der Kolonialmacht Bremen einen besseren Stand als zuvor.
Die Implikationen für die Interpretation des Romans als Kolonialismuserzählung im Einzelnen auszuführen, würde zu weit führen. In Bezug auf den sprachtheoretischen Kontext sei aber hier auf zwei Aspekte hingewiesen:
– Der Logik des Romans zufolge werden die Ariekei die grundlegende Veränderung ihrer Sprache mit einer ebenso grundlegenden Veränderung ihres Denkens und ihrer Kultur erkaufen (Zähringer 528). Dabei handelt es sich zumindest zum Teil um eine Anpassung an die Kultur der Menschen. Dieser Problemkreis wird im Roman nicht wirklich thematisiert und kann auch nicht thematisiert werden, da der ursprüngliche Zustand ja als nicht beschreibbar gesetzt ist.
– Die Gebärdensprache im Roman entsteht, indem der (hörende) Ariekes Spanish Dancer und der gefangene ›languageless‹ Ariekes beginnen, über Gebärden zu kommunizieren, nachdem Avice aufgefallen ist, dass die ›Languageless‹ bereits Zeigegesten verwenden. Avice kommentiert zwar: »We weren’t teaching the deafened to communicate: we were showing them they already could, and did. « (E 324) Dennoch geht die Initialzündung für die Entwicklung der Gebärdensprache im Roman von Hörenden aus, was aus sprachwissenschaftlicher Sicht nicht sinnvoll ist.13
Embassytown als narratives Experiment
Embassytown kann als narratives Experiment gelesen werden, d. h. als Konstellation von mehreren narrativen Strategien, die sprachtheoretische Konzepte inszenieren und durchspielen, um sie zu illustrieren, zu widerlegen oder plausibel zu machen. Im Gegensatz zum klassischen Gedankenexperiment wird im Roman allerdings gerade kein reduziertes Szenario vorgelegt. Vielmehr werden mehrere miteinander verbundene Szenarien mit jeweils eigenen Fragestellungen verwoben, detailreich beschrieben und eng in die Romanhandlung eingebunden. Und die Rekonstruktion des sprachtheoretischen Kontexts wird durch den Text zwar angeleitet, insgesamt jedoch der Leser*in überlassen.
Als lange Erzählform gibt der Roman Raum für ein ausgearbeitetes Worldbuilding, die Kombination mehrerer experimenteller Strategien innerhalb einer Handlung und die Beschreibung der Reaktionen und Handlungsweise der Figuren. Diese »Vergegenwärtigungsleistung« (Gabriel 19) ermöglicht es, die dargestellten theoretischen Zusammenhänge »in an intuitive and non-technical manner« (Wiltsche 16) zu begreifen. Gerade für Sprachtheorien bietet eine solche Einbettung in einen narrativen Zusammenhang die Möglichkeit, vielfältige Varianten durchzuspielen, zu vergleichen und zu testen.
Das bedeutet aber nicht, dass Embassytown eine Art theoretischer ›Schlüsselroman‹ wäre, in dem es lediglich darum ginge, die entsprechende Theorie zu finden, um den wahren Gehalt zu verstehen. Vielmehr liegt der Witz darin, dass die fraglichen Theorien durch die narrative Verkörperung in soziale, politische und kulturelle Kontexte gesetzt werden: Jemand muss in und mit der fraglichen Sprache handeln, und dadurch zeigt sich ihre Funktionsweise bzw. ihre Unmöglichkeit. In diesem Sinne kann Embassytown zwar insgesamt als eine Art ›narratives Experiment‹ gelesen werden, das aber als solches eben nur funktionieren kann, weil der Roman auch als Erzähltext für sich stehen kann.
Der Roman braucht im Gegensatz zur Abhandlung kein kohärentes theoretisches Ganzes oder Übersichtlichkeit zu bieten – man kann der Handlung problemlos folgen, ohne mehr zu wissen, als durch die Figurenkommentare im Roman angedeutet ist; und ob die verwendeten Theorien in jeder Hinsicht vereinbar sind, spielt keine Rolle für das Verständnis der Handlung. Auch stehen an manchen Stellen des Romans die Erfordernisse der Erzählhandlung, an anderen diejenigen der Theorie im Vordergrund. Aber es kommt eben auf den Gewinn an Komplexität an, den die Verkörperung im Roman bietet. Dazu gehört auch, dass Aspekte, die in einem reinen Gedankenexperiment irrelevant wären, im Roman neue Verbindungen herstellen. So geht es eben nicht nur um die Konstruktion einer unmöglichen Sprache, sondern auch um die Frage nach der Darstellbarkeit einer radikal fremden Kultur und nach den Bedingungen von Kommunikation. Das sieht man z. B. an der Rolle, die die Erzählperspektive spielt: Die Form der Ich-Erzählung ermöglicht das Ausblenden von Informationen über die Ariekei-Kultur; so ist diese zwar in der Handlung als Faktor gesetzt, bleibt aber für die Leser*innen unerreichbar. In einem reinen Gedankenexperiment hätte ein solches Vorgehen keinen Sinn, im Roman dagegen wird so durch erzählerische Mittel die Frage nach der Darstellbarkeit der Ariekei-Kultur aufgeworfen.
Auch die Literalisierung von Metaphern trägt zu dieser Komplexität bei und hält eine ähnliche Balance zwischen der Ebene der Romanhandlung und der Ebene des Experiments. Miéville beschreibt diesen Kunstgriff folgendermaßen:
What unites the genre of fantasy/Gothic and the genre of the science fiction is that they literalize their metaphors. […] To literalize your metaphor does not mean that it stops being a metaphor, but it invigorates the metaphor because it embeds its referent within the totality of the text, with its own integrity and realism. (Shapiro 65)
In Embassytown ist Sprache in diesem Sinne auf der Ebene der Handlung ein Virus, das die Ariekei und ihre Maschinen befällt; als Plot-Element ist das Sprachvirus integraler Teil einer komplexen Welt. Auf der Ebene des Experiments evoziert die Metapher der Sprache als Virus die Materialität des sprachlichen Zeichens und seine wirkungsmächtige Zirkulation in einer Gesellschaft.
Wenn man Embassytown auf diese Weise analysiert, kann man dem Roman eine dreifache Pointe abgewinnen: Es geht um sprachphilosophische Fragen und damit verbunden um die Darstellbarkeit der ›anderen‹ Kultur; es geht um den persönlichen und politischen Umgang mit dem Fremden im Kontext kolonialer Herrschaftsverhältnisse; und schließlich geht es um die Darstellbarkeit von theoretischen Zusammenhängen in einem narrativen Text.
Miéville selbst benennt »the specifics of metaphor and the specifics of language as theology« (Miller 598) als die sprachphilosophischen Hauptthemen von Embassytown. Vor allem geht es darum, gegen eine direkte Verbindung von Wort, Gedanke und Gegenstand zu argumentieren und damit gegen die Vorstellung einer ›paradiesischen‹ Sprache. Umgekehrt wird die zentrale Rolle des Metapherngebrauchs für menschliche Sprachen betont. Es werden noch eine Reihe weitere Themen angesprochen, wie Deixis, der Zusammenhang von Stimme und Subjekt oder die Materialität des Zeichens, sie spielen aber eine weniger zentrale Rolle im Text. Gebärdensprachen werden als Thema weder ganz korrekt dargestellt, noch erhalten sie hinreichend Raum. Der allgemeine Punkt »metaphor is everything« (Miéville in Miller 600), in dem Sinne, dass menschliche Sprachen ohne Metaphern kaum funktionieren könnten, ist in dieser Allgemeinheit in der Sprachwissenschaft dagegen anschlussfähig – wenn der Roman auch die daraus folgenden Probleme der Abgrenzung von metaphorischem und nicht-metaphorischem Sprechen oder der genauen Funktionsweise metaphorischen Sprechens nicht angeht.
In der Romanhandlung verbinden sich die sprachphilosophischen Themen mit der Unmöglichkeit, die Kultur der Ariekei direkt zu beschreiben, so dass diese nur an der Peripherie der Handlung aufscheint. Für Embassytown als Kolonialismuserzählung hat das allerdings zur Folge, dass das (zumindest vorläufig) gute Ende des Romans durch eine radikale Veränderung und Anpassung der Ariekei-Kultur erkauft ist (Zähringer 528). Der Unsagbarkeitstopos, der zentral für das Gedankenexperiment ist, markiert eine Grenze des Erzählens, die uns als Leser*innen auf unsere eigene Perspektive zurückwirft.
Embassytown hat darüber hinaus eine metafiktionale Pointe: Der Roman demonstriert, wie theoretische Fragen in einen narrativen Kontext verwoben werden können: z. T. durch den Rückgriff auf eine Art Gedankenexperiment, z. T. durch andere narrative Strategien wie die Literalisierung von Metaphern. Man kann das als Kommentar zu Suvins klassischer Definition der SF als »Literatur der erkenntnisbezogenen Verfremdung« (24) sehen: Miéville zeigt mit Embassytown, dass die Vorstellung, SF müsse eine wissenschaftlich legitimierte (Suvin 35 f.), »realistische Irrealität« (Suvin 12) schaffen, um einen Erkenntnisfortschritt zu erzeugen, zu kurz greift.14 Als ›weirde‹ Science-Fiction überschreitet Embassytown die Grenzen zwischen Erzählung und Theorie und macht den Roman selbst zum Experimentierfeld.
Notes
- Im Original deutsch. [^]
- Embassytown wird als ›E‹ zitiert, gefolgt von der Seitenzahl. [^]
- Embassytown wird gelegentlich aufgrund seiner Bezugnahme auf sprachphilosophische Probleme allgemein als ›Gedankenexperiment‹ bezeichnet (z. B. Głaz 336), der Experimentcharakter des Textes wird aber nicht i. E. erläutert. [^]
- Wo Übersetzungen in Klammern gegeben werden, entsprechen sie der im Literaturverzeichnis angegebenen Übersetzung von Embassytown (Die Stadt der Fremden). [^]
- Mit Głaz (336) kann man bei dieser Suche nach ontologischer Verankerung auch an die Akademie in Lagado aus Gulliver’s Travels (1726) denken, wo man versucht, Wörter durch die entsprechenden Gegenstände zu ersetzen, oder an die Houyhnhnms, die kein Konzept von Lüge haben. [^]
- In den »Acknowledgments« zu Beginn des Romans heißt es »Among the writers I am particularly grateful to are I. A. Richards, Paul Ricoeur [sic], and Tran Duc Thao [sic]« (E, ohne Seitenzahl) Diese Danksagung findet sich nicht in allen Ausgaben des Romans. Von Walter Benjamin stammt das Motto, das dem Roman vorangestellt ist. [^]
- Weakland (86) zieht in diesem Zusammenhang zu Recht die Verbindung vom Hegelzitat in Embassytown zu Derrida. In Derridas Grammatologie (23) wird gerade Hegels Ästhetik als Beispiel für den Phonozentrismus der westlichen philosophischen Tradition angeführt, der die Stimme als transparentes Medium für das Selbst- und Weltverhältnis des Subjekts ansieht. [^]
- Man mag bei ihnen vielleicht an Holbeins »The Ambassadors« denken (siehe www.nationalgallery.org.uk/paintings/hans-holbein-the-younger-the-ambassadors). Holbeins Doppelporträt stellt zwei unterschiedliche (und auch unterschiedlich gekleidete) Personen dar, deren Ähnlichkeit und symmetrische Körperhaltung aber ihre Zusammengehörigkeit betonen. [^]
- Die Gruppe der ›Languageless‹ wird im Roman auch als ›Absurd‹ bezeichnet (aus der von Miéville favorisierten Vorsilbe ›ab-‹ für alles ›Weirde‹ und dem lateinischen Wort für ›gehörlos‹ (E 278)). Zwar überwinden die ›Languageless‹ ihre Sprachlosigkeit im Lauf der Romanhandlung, aber es bleibt schwierig, diese Bezeichnungen anders als bestenfalls irreführend (siehe Abschnitt »Die Entstehung neuer Sprachen«), schlimmstenfalls diskriminierend zu lesen. [^]
- Die Ariekei werden von den Bewohner*innen von Embassytown ›Hosts‹ genannt, was ›Gastgeber‹ bedeutet, aber ebenso auf einen von einem Virus befallenen Organismus verweisen kann. [^]
- Als ›ideographisch‹ wurden traditionell Schriften bezeichnet, von denen man annahm, dass sie sich direkt auf Gedanken oder Begriffe beziehen, unter Umgehung der gesprochenen Sprache. Man nahm z. B. an, dass das Chinesische eine solche Schrift sei. Die moderne Schrifttheorie vertritt diese Auffassung nicht mehr und verwendet auch die Bezeichnung nicht mehr. Was im Roman genau damit gemeint ist, wird nicht erklärt. Dass eine Schrift gemeint ist, die Gedanken schreibt, ist eher unwahrscheinlich, da das der ursprünglichen Ariekei-Sprache zu ähnlich wäre. Es steht eher zu vermuten, dass es sich um eine Schrift handeln soll, die sich nicht an den Untergliederungen der gesprochenen Sprache orientiert. [^]
- Die Wendung der Handlung beruht darauf, dass sich mit der Sprache der Ariekei auch ihr Denken ändert. Das entspricht der Logik der Ariekei-Sprache, in der Denken und Sprechen eins sind. Man hat daher Embassytown auch mit der Sapir-Whorf-Hypothese in Verbindung gebracht (Nediger 30; Głaz 344). Tatsächlich liegt es in der Logik der Handlung, dass sich mit den sprachlichen Möglichkeiten der Ariekei auch ihre Gedankenwelt ändert, allerdings kann das natürlich nur retrospektiv festgestellt werden, da das Denken der Ariekei vor der Verwandlung unzugänglich bleibt. Insofern geht es nicht thematisch um diese Hypothese, vielmehr wird sie verwendet, um die anderen Theorien in die Handlung einzubinden: »I know the Sapir-Whorf hypothesis is wrong. What I thought was that it was an interesting peg for a story« (Miéville in Miller 598). [^]
- Es ist eine Gebärdensprache, die Nicaraguan Sign Language, die in der Sprachwissenschaft als ein Paradebeispiel für die Emergenz einer Sprache im Gebrauch einer Gemeinschaft gilt (Senghas und Coppola). [^]
- Zu Miévilles Auseinandersetzung mit Suvin siehe Miller. [^]
Autorin
Elisabeth Birk ist Senior Lecturer am Department of German der Universität Malta (L-Università ta’ Malta). Nach einer Promotion im Fach Germanistische Linguistik an der RWTH Aachen war sie Postdoc an der Freien Universität Berlin im Graduiertenkolleg »Schriftbildlichkeit« und hat an den Universitäten Aachen, Chemnitz und Hamburg unterrichtet.
Sie hat u. a. Aufsätze zu Schrifttheorie, Semiotik und Metaphern verfasst. Sie ist Mitherausgeberin eines Sammelbandes zu Schrift und eines Bandes zu Roland Barthes sowie eine der Übersetzerinnen von Saussures Wissenschaft der Sprache.
Konkurrierende Interessen
Die Autorin hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.
Zitierte Werke
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