Die 12. Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung, auf der dieses Sonderheft beruht, wurde von Judith Rauscher (Universität zu Köln), Mareike Spychala (Universität Bamberg), Sara Tewelde-Negassi (Universität zu Köln) und Lorena Bickert (Universität Bamberg) konzipiert, organisiert und vom 23. Bis 25. September 2021 aufgrund der anhaltenden COVID-19-Pandemie digital durchgeführt. Mit dem Titel »Spekulative Fiktion und Ethik« setzte die Tagung einen thematischen Fokus auf ethisch-moralische Fragestellungen, die insbesondere im Kontext fortschreitender Transformationsprozesse im Bereich smarter (Bio-)Technologien einen hohen Aktualitätsbezug und damit wichtige Denkanstöße für das menschliche (Zusammen-)Leben im Hier und Jetzt versprachen. Die Jahrestagung würdigte damit auch einen Themenkomplex, der in den letzten Jahrzehnten nicht nur, aber auch in den Geisteswissenschaften vermehrt in das Zentrum kritischer Betrachtungen gerückt ist, während sie gleichzeitig Beitragende dazu aufforderte, durch die Analysen spekulativer fiktionaler Genres der Fantastik neue Impulse für innovative Forschungsperspektiven im Kontext aktueller (Zukunfts-)Debatten zu entwickeln.

Die Aktualität des gewählten Tagungsthemas zeigte sich nicht nur an den hohen Teilnahmezahlen, sondern auch in der medialen und thematischen Heterogenität der Vorträge, die in zwei parallelen Streams in 18 deutsch- und englischsprachigen Panels präsentiert wurden. Das Konferenzprogramm fokussierte neben Themen wie der ethisch-sozialen Verantwortung gegenüber menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen unter anderem ethisch-politische Dimensionen von Gerechtigkeitsdiskursen und deren Implikationen für die (Un-)Sichtbarkeit bzw. das (Un-)Sichtbarmachen von Körpern. Darüber hinaus eröffneten die Beiträge auch ethisch-ökologische Perspektiven auf normative Konzepte wie »das Gute« und »das Böse« und stellten queere Texte vor, in denen Kategorien wie gender und race in Auseinandersetzungen mit Konzepten des »Anderen« sowie damit verbundene Dynamiken des Ein- und Ausschließens neu verhandelt werden.

Mehrere Sonderveranstaltungen rundeten die Konferenztage ab. Professor Ingo Cornils (University of Leeds) lieferte im Rahmen seiner Keynote »Dark Mirrors: German Science Fiction in the 21st Century« einen Überblick über aktuelle Entwicklungen in der (progressiven) deutschsprachigen Fantastischen Literatur. Die amerikanische SF- und Fantasy-Schriftstellerin Sofia Samatar gewährte außerdem mit ihrer Lesung »Fairy Tales for Robots« Einblicke in ihr literarisches Schaffen und zeigte dabei, wie Spekulative Fiktion alternative und alternierende Wirklichkeitskonzepte erschaffen kann, mit denen Fragen von Geschlecht, Ethnizität und Identität, aber auch von Macht, Wissen, Wissensvermittlung und Grenzen der Menschlichkeit ausgelotet werden können. Eine Paneldiskussion mit drei deutschen Autor*innen zum Themenschwerpunkt »Queere Fantastik: Gegenwart und Zukunft« bildete die Abschlussveranstaltung der Konferenz. Die ebenso angeregte wie für die Zuhörenden anregende Diskussion zwischen Sameena Jehanzeb, Juri Susanne Pavlovic und Judith C. Vogt zeigte nicht nur, wie vielfältig deutsche Spekulative Fiktion heute ist, sondern auch, vor welche Herausforderungen der aktuelle Buchmarkt Autor*innen stellt und welche Lücken sich im deutschsprachigen Raum immer noch auftun, beispielsweise wenn es um die Repräsentation älterer queerer Figuren oder queerer nicht-weißer Personen geht.

Das vorliegende Sonderheft Spekulative Fiktion und Ethik/Speculative Fiction and Ethics wurde von drei der vier Organisatorinnen der Konferenz – Judith Rauscher, Sara Tewelde-Negassi und Lorena Bickert – editiert. Es vereint ausgewählte wissenschaftliche Artikel, die aus den Vorträgen der Jahrestagung der Gesellschaft für Fantastikforschung 2021 hervorgegangen sind. Unter Rückgriff auf verschiedene Medien und theoretische Ansätze diskutieren die fünf hier versammelten literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschungsbeiträge zentrale Themen der Konferenz, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der Analyse von Werken aus dem anglo-amerikanischen Raum liegt. Spekulative Fiktion, so postulierte bereits die Einladung zur Jahrestagung, erschafft durch Gedankenexperimente Möglichkeitswelten, die vielseitige ethische Problematiken aufwerfen, welche wiederum kritischer Betrachtung bedürfen, um ihr Bedeutungsspektrum zu entfalten. Die Beiträge des Sonderhefts beleuchten im Hinblick auf diese Grundvoraussetzungen gezielt gesellschaftsprägende ethische Perspektiven auf sozio-kulturelle Zuschreibungen von Geschlecht, Herkunft/Ethnizität und sozio-ökonomischer Schicht im Spannungsfeld von Körperlichkeit, Identität, Wissen und Macht, sowie Fragen von Umweltzerstörung, Gewalt, Unterdrückung, Armut, Segregation und Vertreibung.

Der englischsprachige Artikel von René Reinhold Schallegger (Universität Klagenfurt) nimmt die Graphic Novel Relay (2018) in den Blick, in der der kanadische Autor Zac Thompson eine dystopische Zukunftsvision in einem hoch technologisierten galaktischen Imperium entwirft. Der Erfolg des menschlichen Zusammenlebens hängt dabei in der von Thompson imaginierten, mithilfe schwarzer Monolithen kontrollierten Welt von absoluter Konformität und Akzeptanz eines normierenden Systems ab. Schallegger untersucht die normativen Praktiken dieses Systems aus literatur- und kulturwissenschaftlicher Perspektive und erschließt so Thompsons kritische Betrachtung von Fortschritt als ethisch fragwürdiges universalpolitisches Konzept. Unter Zuhilfenahme postkolonialer Theorien und kantianischer Ethik erörtert Schallegger Identitätskonstruktionen in der Graphic Novel, Darstellungen normativer Prozesse des Ein- und Ausschlusses sowie die Reproduktion von Homogenisierungsmechanismen durch das Setzen universal gültiger Werte.

Simon Lee-Price (Buckinghamshire New University) diskutiert in seinem englischsprachigen Beitrag die Science-Fiction Kurzgeschichte »The Space Traders« (1989) des amerikanischen Juristen, Wissenschaftlers, Aktivisten und critical-race-Theoretikers Derrick Bell. Bells Geschichte erzählt von einer nahen Zukunft (»The Space Traders« spielt im Jahr 2000), in der die weiße amerikanische Bevölkerung beschließt, die afro-amerikanische Bevölkerung im Tausch gegen finanzielle Mittel und fortgeschrittene Technologien an außerirdische Lebewesen mit völlig undurchsichtigen Motiven auszuliefern. Der Text, so Lee-Price, thematisiert Rassismus als eine mit dem etablierten wirtschaftlichen, politischen und juristischen System kompatible Weltsicht der weißen Mehrheitsgesellschaft und übt so nicht nur eine Form der Rassismuskritik mit hohem Aktualitätsbezug, sondern lädt insbesondere durch seine fiktionale Dimension zu ethisch-moralischen Überlegungen ein. Diese in der vielschichtigen Erzählung angelegten Überlegungen nutzt Lee-Price für eine kontextuell dichte Auseinandersetzung mit Ungleichheits- und Gerechtigkeitsdiskursen in »The Space Traders« und für eine kritische Reflektion über die Darstellung der im Text miteinander verschränkten normativen Kategorien von race und class.

Die im deutschsprachigen Beitrag von Sophia Mehrbrey (Universität des Saarlandes) analysierte amerikanische Science-Fiction-TV-Serie Snowpiercer (US 2020–, Idee: Josh Friedman, Graeme Manson) thematisiert ein Zukunftsszenario, in dem ein fehlgeschlagenes naturwissenschaftliches Experiment eine neue Eiszeit einleitet. Diese Eiszeit können die letzten menschlichen Überlebenden nur durch die Mitfahrt in einem sich kontinuierlich bewegenden Zug – dem Snowpiercer – überstehen. Da der Zug ursprünglich nur für eine kleine Gruppe Superreiche und eine gewisse Anzahl Service-Kräfte gebaut wurde, bleiben für die in letzter Minute zugestiegenen blinden Passagiere in den letzten Wagons kaum genug Ressourcen zum Überleben, eine Situation, die immer wieder zu gewaltsamen Konflikten führt, obwohl die obersten Klassen mit extremsten Mitteln versuchen, die unterste Klasse unter Kontrolle zu halten. Mehrbreys Artikel analysiert Erzählstränge und Szenen, in denen Fragen von sozialer Gerechtigkeit im Spannungsverhältnis mit ökologischen Diskursen stehen, untersucht kulturelle Zuschreibungen von Geschlecht und sozialer Klasse und zeigt, wie die Handlungsmacht und Verantwortungsdenken von Serien-Figuren unterschiedlicher Herkunft von diesen Zuschreibungen abhängen. Mehrbrey vergleicht dabei gezielt die ethisch-moralisch komplexen Führungsstile der beiden Hauptfiguren – Melanie Cavill und Andre Layton – und beleuchtet in ihrer Analyse der dystopischen Gesellschaftsordnung aus Genderperspektive vor allem die kontinuierliche Neuverhandlung, aber gleichzeitig scheinbare Überflüssigkeit, (zwischen-)menschlicher ethischer Dimensionen angesichts des postapokalyptischen Szenarios der Serie.

Der englischsprachige Artikel von Cora Övermann (Universität Bremen) erörtert anhand von Marion Zimmer Bradleys Science-Fiction-Roman The Ruins of Isis (1978) kulturelle Zuschreibungen von Geschlecht im Wissenschaftssystem allgemein, aber besonders in den Geistes- und Humanwissenschaften, also in Disziplinen, die kulturelles Wissen schaffen und es zugleich kritisch untersuchen. Zimmer Bradleys Roman entwirft mit ihrer Beschreibung einer streng matriarchalen Gesellschaft auf dem Planeten Isis eine alternative Form menschlichen Zusammenlebens, die – anders als in vielen anderen feministischen Texten ihrer Zeit – offensichtlich von oppressiven Strukturen geprägt ist. Das dargestellte weiblich dominierte Gesellschaftssystem (wie das im Roman implizit kritisierte männlich dominierte Gesellschaftssystem der USA der 1970er-Jahre) beruht auf geschlechtsspezifischen Binaritäten und diskriminierenden kulturellen Zuschreibungen. The Ruins of Isis, so zeigt Övermann, nimmt neben Fragen von Geschlechter- und Bildungsgerechtigkeit auch die in den USA während der späten 1950er-Jahre aufgeflammte Debatte um die »zwei Kulturen« der Geistes- und Naturwissenschaften (literature vs. science) auf. Die im Roman entworfenen Gesellschaftssysteme, argumentiert Övermann hierauf aufbauend, erlauben nicht nur kritische Überlegungen zu den epistemologischen Hierarchien und Machtungleichheiten innerhalb der erzählten Welt, sondern auch zu entsprechenden Hierarchien und Machtungleichheiten innerhalb der traditionell patriarchalen amerikanischen Gesellschaft sowie innerhalb des Wissenschaftssystems, das diese Gesellschaft hervorgebracht hat.

In ihrem englischsprachigen Beitrag verdeutlicht Milena Krischer (Universität Augsburg), wie der Fantasy-Roman Locust Girl: A Lovesong (2015) der philippinisch-australischen Autorin Merlinda C. Bobis mit seiner fiktionalen Darstellung einer durch Mangel und Ungleichzeit geprägten, realitätsnahen, wenn auch in vieler Hinsicht fantastischen, Zukunft kritische sowie ethisch-soziale Perspektiven auf hochaktuelle Themenfelder wie Flucht- und Migration eröffnen kann. Krischers Artikel konzentriert sich auf die Flucht- und Migrationsgeschichte der jungen Protagonistin Amedea, die Bobis‘ Roman mithilfe innovativer narrativer Methoden nachzeichnet. Der Beitrag zeigt mit Rückgriffen auf Konzeptionen von Gewalt, Prekarität und Körperlichkeit auf, wie in Locust Girl allgegenwärtige und daher häufig unsichtbare Praktiken des Ein- und Ausschließens in den Vordergrund gestellt und problematisiert werden. In Bobisʼ Roman geschieht dies, so Krischer, durch eine komplexe Darstellung von politisch erzeugtem Elend anstatt einer Darstellung von Armut, die scheinbar »natürlich« durch unglückliche Umstände entstanden ist. Indem sie das im Roman beschriebene Leben der Protagonistin als prekär liest, aber auch Amedeas Widerstand gegen das politische System hervorhebt, das ihr Leben nicht als erhaltenswert betrachtet, stellt Milena Krischer Überlegungen über die komplexen, mit Herkunft, Ethnie und Geschlecht verwobenen hierarchischen Machtkonstellationen in Bobisʼ Roman an und liefert dabei gleichzeitig einen kritischen Kommentar zum politisch erzeugten und damit vermeidbaren Leid flüchtender Menschen in der nicht-fiktionalen Welt.

Danksagung

Unser Dank gilt zunächst allen studentischen Hilfskräften sowie allen Vortragenden und Teilnehmenden, die die GfF-Jahrestagung 2021 für uns zu einem unvergesslichen Event gemacht haben. Besonders bedanken möchten wir uns bei unseren Vortragenden in den Sonderveranstaltungen, Professor Ingo Cornils, Sofia Samatar, Sameena Jehanzeb, Juri Susanne Pavlovic und Judith C. Vogt, die die Konferenz durch ihre fachliche Expertise und kreative Perspektiven auf so wunderbare Weise bereichert haben. Dank gebührt neben der Gesellschaft für Fantastikforschung, dem Amerikahaus NRW e.V. und den Frauenbeauftragten der Fakultät GuK der Universität Bamberg für die finanzielle Unterstützung der Lesung und der Paneldiskussion auch der Universität zu Köln und der Universität Bamberg für die Bereitstellung der technischen Infrastruktur sowie der personellen Ressourcen, die es uns erlaubt haben, die Organisation der Konferenz zu bewerkstelligen.

Wir danken außerdem den Autor*innen der hier publizierten Beiträge für die produktive Zusammenarbeit im Überarbeitungsprozess sowie den Gutachter*innen im Double-blind-peer-review-Verfahren für ihr konstruktives Feedback, das maßgeblich zum Erfolg dieses Sonderheftes beigetragen hat. Schließlich möchten wir uns auch bei dem gesamten Team der Zeitschrift für Fantastikforschung (ZFF) für ihre unermüdliche Unterstützung bei der Herausgabe dieses Themenheftes bedanken. Wir hoffen, den treuen Leser*innen der ZFF mit den hier versammelten fünf Artikeln zu spekulativer Fiktion und Ethik interessanten Lesestoff bieten zu können und gleichzeitig bei möglichen neuen Leser*innen Interesse an den weiteren Ausgaben der Zeitschrift für Fantastikforschung zu wecken.

Die Gastherausgeberinnen

Jun-Prof. Dr. Judith Rauscher, Sara Tewelde-Negassi und Lorena Bickert

Köln und Bamberg, im Dezember 2022

Konkurrierende Interessen

Die Autorinnen haben keine konkurrierenden Interessen zu erklären.