Zur Fantastikforschung berufen

Simon Spiegel

Die Zeitschrift, die Sie in den Händen halten oder vielmehr in irgendeiner digitalen Form lesen, trägt den Namen Zeitschrift für Fantastikforschung; sie ist das offizielle Organ der Gesellschaft für Fantastikforschung. Fantastikforschung präsentiert sich, so scheint es zumindest im Kontext der ZFF respektive GFF, als eine relativ klar umrissene Angelegenheit. Dieser Schein ist allerdings trügerisch, denn wenn man versucht, diese Sache, für die Fantastikforschung ein Beispiel sein soll, genauer zu bestimmen, wird es rasch schwierig. Was ist Fantastikforschung eigentlich? Eine Wissenschaft, eine Disziplin, eine Methode, ein Ansatz? All das scheint nicht wirklich zutreffend. Fantastikforschung definiert sich ausschließlich über ihr Thema, über das Gebiet oder Feld, mit dem sie sich beschäftigt – eben der Phantastik.

Viel weiter bringt einen diese Einsicht freilich nicht, denn Phantastik ist notorisch schwierig zu fassen. Das beginnt bereits bei der Schreibweise. So steht für mich – obwohl ich seit mehreren Jahren Redakteur der Zeitschrift bin – eindeutig fest, dass Phantastik unbedingt mit ›Ph‹ geschrieben werden sollte und die Variante mit ›F‹, die für die Zeitschrift gewählt wurde, Ausdruck von Banausentum ist. Aber natürlich beschränken sich die Schwierigkeiten nicht auf so triviale Dinge wie Schreibweisen, sondern finden ihre Fortsetzung in den unzähligen Diskussionen, was Phantastik denn nun wirklich ist. Diskussionen, die ich an dieser Stelle für einmal nicht wieder aufrollen möchte.1 Ich belasse es lediglich beim Hinweis, dass in den elf Jahren, die es die ZFF schon gibt, darin unter anderem Artikel zu Star-Wars-Fans, dystopischen Fernsehserien, Rollenspielen, Verschwörungstheorien, Filmen mit phantastischen Autos sowie Fantasy-Serien erschienen sind, aber auch Interviews mit einer Spieldesignerin und einem Ökonomen. Zumindest eines scheint somit klar: Inhaltlich ist die Phantastikforschung denkbar breit aufgestellt.

Die inhaltliche Breite setzt sich in der Vielzahl methodischer Ansätze fort. Von relativ klassischen literaturwissenschaftlich-hermeneutischen Herangehensweisen über mehr historisch oder kulturwissenschaftlich ausgerichtete Analysen bis zu empirisch-sozialwissenschaftlichen Untersuchungen war in der ZFF schon alles vertreten.

Phantastikforschung, so ein erster Befund, lässt sich somit nicht viel genauer bestimmen denn als ›wissenschaftliche Beschäftigung mit nicht-realistischen künstlerischen Werken‹. Was bedeutet die Breite unseres Feldes aber für uns als Phantastikforscherinnen und -forscher? Was sagt es über unser eigenes Selbstverständnis aus, wenn wir jenseits einer Allgemeinstdefinition keinen gemeinsamen Nenner finden? Ist es da noch sinnvoll, von Phantastikforschung zu sprechen, ja verstehen wir uns selbst denn überhaupt als Phantastikforscher:innen und nicht eher als Literaturwissenschaftler, Filmwissenschaftlerinnen, Soziologen, Philosophinnen etc.? Und welche Konsequenzen hat ein Bekenntnis zur Phantastikforschung für die eigene wissenschaftliche Arbeit und eine mögliche akademische Karriere?

Innerhalb der ZFF-Redaktion diskutieren wir diese und ähnliche Fragen mit schöner Regelmäßigkeit, und wann immer wir uns eingehender mit ihnen beschäftigen, sehen wir uns bald mit Grundlegendem konfrontiert. Mit wissenschaftstheoretischen und methodologischen Überlegungen dazu, was eigentlich eine Disziplin ausmacht und wie man in einem bestimmten Fach sozialisiert wird. Daran schließen sich fast von selbst praktischer ausgerichtete Abwägungen zur Karriereplanung an. Wie positioniert man sich am geschicktesten im hart umkämpften akademischen Markt, mit welchen Themen kann man wohl am meisten punkten? Fast unweigerlich landen wir dann auch bei längst ad acta geglaubten Diskussion um Hoch- und Populärkultur, um den in deutschsprachigen Landen besonders gern geführten Kampf von E gegen U. Verbaue ich mir den Weg zu einer Professur für Deutsche Literaturwissenschaft, wenn ich zu Perry Rhodan promoviere? Oder geht es nur darum, die Sache geschickt zu drehen und im Titel auf einen kanonisierten – in aller Regel toten weißen, männlichen – Autor wie Johann Wolfgang Goethe, Thomas Mann oder Ernst Jünger zu verweisen, die alle auch in phantastischen Gefilden tätig waren? Sind junge Fächer wie die Game oder Fandom Studies offener, oder ist man in diesen nach wie vor exotischen Disziplinen erst recht gut beraten, wenn man zumindest teilweise an etablierte Diskurse andockt?

Nachdem die Foren vergangener ZFF-Ausgaben Themen aufgriffen, die in der einen oder anderen Weise von allgemeiner Relevanz waren, haben wir uns für diese Ausgabe ganz bewusst für eine Innenschau entschieden und verschiedene Vertreterinnen und Vertreter unseres – wenn wir es mal so nennen wollen – Fachs danach gefragt, wie sie sich innerhalb der Phantastikforschung positionieren. Wir waren bemüht, ein breites Spektrum abzudecken, vom Doyen des Fachs Dieter Petzold – der derartigen Ehrentiteln allerdings skeptisch gegenübersteht – über den »freiberuflichen Phantastikforscher« Frank Weinreich bis zu Sheryll Vint, die an der UC Riverside in Kalifornien eines der wenigen universitären Programme leitet, die sich ganz der Phantastik verschreiben.

Wobei die letzte Aussage im Grunde nicht korrekt ist, denn das Programm, dem Vint vorsteht, heißt mit vollem Namen ›Speculative Fictions and Cultures of Science Program‹, und in ihrem Text spricht sie wechselweise von ›Science‹ und ›Speculative Fiction‹ (ein Umstand, der uns bei der Übersetzung ihres Beitrags einiges Kopfzerbrechen bereitet hat). Dass der Begriff ›Phantastik‹ respektive ›fantastic‹ in ihrem Beitrag nicht auftaucht, dürfte zwar primär an unterschiedlichen sprachlichen Traditionen liegen, dennoch hat die Forschung von Vint und ihren Kolleg:innen – die Vokabel ›science‹ zeigt es deutlich an – einen klaren Schwerpunkt im Bereich der SF. High Fantasy in der Tradition Tolkiens, klassische Märchen und übernatürlicher Horror im Stile Stephen Kings – alles Themen, denen man an einer GFF-Tagung typischerweise begegnet –, stehen eindeutig nicht im Mittelpunkt. Das hat das Programm an der UCR bei allen Unterschieden mit dem Forschungsschwerpunkt Critical Future Studies an der TU Dresden gemeinsam, über den Julia Gatermann in ihrem Beitrag spricht.

Hier wird nicht nur einmal mehr deutlich, dass Phantastikforschung eben nicht gleich Phantastikforschung ist, sondern dass, zumindest wenn es darum geht, welche Vorhaben Chancen auf Unterstützung haben, was in welchem Umfang institutionalisiert wird, wohl doch so etwas wie eine inoffizielle Hierarchie innerhalb unseres vagen Feldes existiert. Dass sich eine deutschsprachige Universität in absehbarer Zukunft dazu entschließen sollte, analog zur Pionierleistung der TU Dresden einen Lehrstuhl für Critical Fantasy Studies oder dergleichen einzurichten, ist doch ziemlich unwahrscheinlich. Zwar setzt sich selbst in den Germanistik-Instituten, die diesbezüglich wohl zu den konservativsten akademischen Einrichtungen gehören, allmählich die Einsicht durch, dass SF-Texte nicht bloß dem Eskapismus frönen, sondern uns etwas Substanzielles zu sagen haben. Fantasy dagegen wird nach wie vor gerne primär im Kontext von Kinder- und Jugendliteratur diskutiert, erscheint nach wie vor als nur bedingt satisfaktionsfähig; daran scheinen weder der Erfolg von Harry Potter (1997–2007), Game of Thrones (US 2011–2019, Idee: David Benioff und D. B. Weiss) und Konsorten etwas zu ändern noch die Traditionslinie, die sich von diesen zu kanonisierten Werken wie den Kunstmärchen der Romantik oder den Opern Richard Wagners ziehen ließe.

Wobei hier auch die Frage erlaubt sei, ob es der Fantasy diesbezüglich denn groß anders ergeht als praktisch aller Genreliteratur. Wie viele literaturwissenschaftliche Seminare werden denn zum Krimi oder zum Arztroman angeboten? Gibt es irgendwo im deutschen Sprachraum einen Lehrstuhl für Thriller oder Westernliteratur? Die Schwierigkeiten, welche die Germanistik nach wie vor mit großen Bereichen der Phantastik bekundet, sind letztlich Ausdruck einer grundsätzlichen Skepsis gegenüber populären Formen, die andere Fächer zumindest in so ausgeprägter Form nicht kennen. Meine Heimdisziplin etwa, die Filmwissenschaft, beschäftigt sich seit jeher mit massenwirksamer Unterhaltung. Alles andere wäre auch schlicht undenkbar; eine Filmwissenschaft, die das populäre Kino und somit die gesamte Produktion Hollywoods ignorieren würde, wäre eine ziemlich absurde Angelegenheit. Dies mag ein Grund dafür sein, dass ich weder bei meinem Promotions- noch bei meinem Habilitationsprojekt – Ersteres beschäftigte sich mit dem Science-Fiction-Film (Konstitution), Letzteres mit Utopien im Dokumentar- und Propagandafilm (Bilder) – je auf nennenswerte Widerstände stieß.

Dass ich an dieser Stelle mit meinen eigenen, notgedrungen anekdotischen Erfahrungen argumentiere, entspricht übrigens ganz dem Stil der übrigen Forumsbeiträge, die alle eine mehr oder weniger stark ausgeprägte autobiografische Note besitzen. Im Zentrum steht fast immer die Schilderung des eigenen Werdegangs. Wie hat es der oder die Beitragende geschafft, sich in der persönlichen Nische mehr oder weniger behaglich einzurichten, welche Hindernisse galt es zu überwinden, welche Glücks- und Zufälle waren ausschlaggebend?

So unterschiedlich und durch die jeweils ganz individuelle Situation geprägt die verschiedenen Lebensläufe sein mögen, im Vergleich zeigen sich dennoch einige Gemeinsamkeiten. Selbst wenn die Karriere in der Phantastikforschung oft ursprünglich nicht geplant war und sich längst nicht alle Beitragenden primär als Phantastik-Forschende verstehen, steht doch immer die Begeisterung für den Gegenstand im Zentrum. Man schreibt nicht zufällig oder aus Verlegenheit, mangels besserer Alternativen, eine Dissertation über Harry-Potter- und The-Lord-of-The-Rings-Fans oder Pen&Paper-Rollenspiele, wie es Sophie G. Einwächter respektive René Schallegger taten, sondern weil dies Themen sind, die der jeweiligen Forscherin, dem jeweiligen Forscher unter den Nägeln brennen, die sie begeistern.

Auffällig ist auch, dass fast alle Beiträge erwähnen, wie gut sich phantastische Themen für die Lehre eignen, dass sich mit ihnen nicht nur ganz unterschiedliche Perspektiven und Methoden behandeln lassen, sondern dass die Studierenden in aller Regel auch darauf ansprechen. Dies dürfte nicht nur daran liegen, dass vielen Studentinnen und Studenten Avengers-Filme oder Horror-Serien näher liegen als Romane des bürgerlichen Realismus, auch die Begeisterung der Dozierenden dürfte hier ein wesentlicher Faktor sein. Im Grunde ist es nicht weiter erstaunlich: Wenn man etwas mit Leidenschaft vorträgt, springt der Funke viel eher über, als wenn man ein Pflichtprogramm runterspult.

Es ist zu hoffen, dass auch Wissenschaftler:innen außerhalb der Phantastikforschung mehrheitlich an Themen arbeiten, für die sie sich genuin interessieren. Dennoch zeichnet sich die Phantastikforschung – so zumindest mein Eindruck, der sich im Forum bestätigt – durch einen besonders ausgeprägten Enthusiasmus für den untersuchten Gegenstand aus. Längst nicht alle Phantastikforschenden sind Fans, aber ich kenne neben den jährlichen GFF-Tagungen (und angelsächsischen Gegenstücken) keine andere Konferenz, an der man beim Kaffeegespräch zwischen zwei Panels nicht nur ganz unkritisch vom neusten Marvel-Blockbuster schwärmen kann, sondern auch reibungslos von einer hoch differenzierten Diskussion postkolonialer Theorie zu einem Bericht über die unlängst gespielte Rollenspielsession übergehen kann. Vor allem habe ich kein anderes wissenschaftliches Setting erlebt, in dem man das offen tun kann, ohne dass jemand daran Anstoß nimmt oder sich zumindest sehr erstaunt zeigt.

Es ist sicher kein Zufall, dass der Urtext der Fan Studies, Henry Jenkinsʼ Textual Poachers, von einem bekennenden SF-Fan mit medienwissenschaftlichem Hintergrund stammt. Jenkins hat für seine eigene Position, in der sich sein Fan- und Wissenschaftler-Dasein überlagern, den Begriff des ›Aca-Fan‹ geprägt. Bei weitem nicht alle Forschenden auf dem Gebiet der Phantastik sind Aca-Fans – ich selbst habe mich trotz mittlerweile über zwanzigjähriger Beschäftigung mit SF nie als Fan verstanden –, aber eine gewisse Fan-Qualität durchzieht die ganze Phantastikforschung. Und vielleicht ist es gerade diese im besten Sinne jugendliche Begeisterung für den Forschungsgegenstand, die uns als Phantastikforscher:innen trotz aller Unterschiede verbindet. So wenig greifbar und unscharf diese differentia specifica auch sein mag – Enthusiasmus ist beileibe nicht die schlechteste Basis für gemeinsame wissenschaftliche Arbeit.

Autor

PD Dr. Simon Spiegel ist Research Fellow am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und Privatdozent an der Universität Bayreuth. Er ist Chefredakteur der Zeitschrift für Fantastikforschung und schreibt regelmäßig für diverse Publikationen über Film und verwandte Themen. 2019 ist seine Habilitationsschrift Bilder einer besseren Welt. Die Utopie im nichtfiktionalen Film bei Schüren erschienen; auf Englisch als Utopias in Nonfiction Film (Palgrave Macmillan 2021). Weitere ausgewählte Publikationen: Utopia and Reality. Documentary, Activism and Imagined Worlds (Mitherausgeber, University of Wales Press 2020); Theoretisch phantastisch. Eine Einführung in Tzvetan Todorovs Theorie der phantastischen Literatur (p.machinery 2010); Die Konstitution des Wunderbaren. Zu einer Poetik des Science-Fiction-Films (Schüren 2007).

Zu den Möglichkeiten der außerakademischen Phantastikforschung

Frank Weinreich

Mein Name ist Frank Weinreich, und ich bin unabhängiger Phantastikforscher. Der deklarative Effekt dieser Aussage bezeichnet hier jemanden, der außerhalb universitärer Kreise diesem Interesse nachgeht, was doch eher ungewöhnlich ist, denn üblicherweise findet Phantastikforschung im akademischen Umfeld statt. Das ist ein Umfeld, dem ich durchaus entstamme, aber vier Fünftel meiner Arbeiten und Publikationen stammen aus der Zeit, als ich die Universität bereits verlassen und mich selbständig gemacht hatte. Was aufgrund der Freiheiten als unabhängiger Forscher zwar sehr befriedigend, aber nicht immer einfach war. Forschungsarbeiten können bekanntlich alles Mögliche sein, sind eines aber stets mit Sicherheit – und zwar zeitintensiv und aufwendig. Ist es also möglich und sinnvoll, außerhalb der Universität oder einer anerkannten Forschungseinrichtung Forschung zu betreiben? Wobei die Möglichkeit ganz offensichtlich gegeben ist, denn es gibt ja außerakademische Forscherinnen und -forscher. Im angelsächsischen Sprachraum hat sich dafür der »independent scholar« sogar als eigener Begriff etabliert. Da wir in den Geisteswissenschaften keine Teilchenbeschleuniger, Gaschromatographen oder Expeditionsgelder benötigen, sondern nur den eigenen Kopf und ein solides Fundament theoretischer Vorkenntnisse über unser Fach und dessen Herangehensweisen, wird das auch nicht weiter verwundern. Doch kann man angesichts des Umstands, dass man seinen Lebensunterhalt bestreiten muss, auch sinnvollerweise extra-universitär und damit ohne eine lohnbewehrte Stelle oder (Dritt-)Mittel forschen?

Diese Frage möchte ich mit der Darstellung meiner eigenen Forscher- und Arbeitsvita exemplarisch beantworten, um daran anschließend allgemeinere Schlüsse daraus zu ziehen und einige Ideen zu einer möglichen Ausweitung der Phantastikforschung und den Perspektiven von Forscherinnen und Forschern grob zu skizzieren.

Ich bin promovierter Philosoph und führe ein Arbeitsleben als freier Lektor, Publizist und Übersetzer. Nach dem Abitur habe ich eine Ausbildung zum Krankenpfleger durchlaufen, die in diesem Zusammenhang nur dahingehend von Bedeutung ist, dass mich diese Arbeit unter anderem große Disziplin lehrte; eine Eigenschaft, die spätestens wichtig wird, wenn man verschiedene Dinge auf lange Dauer gleichzeitig tun muss. Und das halte ich für unvermeidlich, wenn man außerakademisch forschend arbeitet und den Lebensunterhalt zumindest anfangs zusätzlich bestreiten muss. Der Pflege folgte in den 1990er-Jahren ein Magister-Studium der Philosophie, der Kommunikations- und der Politikwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum, an das sich eine Promotion in Philosophie über Medizinethik und Technologiefolgenabschätzung an der Uni Vechta anschloss, während ich gleichzeitig fachfremd eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei den Pädagogen an der TU Dortmund besetzte. Mein Ziel war ursprünglich eine akademische Laufbahn, womit ich infolge der Bologna-Reformen jedoch zunehmend fremdelte, denn diese Verschulung von Universität entfernte sich zusehends von dem Lern- und Lehrideal, das ich bei Gadamer, Flasch, Rehn und anderen kennen- und schätzen gelernt hatte. Angeregt durch die lebenslange Lektüre phantastischer Literatur und die utopischen und dystopischen Horizonte, die sich im Zusammenhang mit der Entschlüsselung von Genomen und dem Fortschreiten der Medizintechnik ergaben, fand sich ein Anschluss meiner Lektüren an meine wissenschaftliche Arbeit, die ihren Ausdruck in einer Reihe von Publikationen und Vorträgen fand, zu denen sich bald weitere Arbeiten zu anderen Phantastikgenres und -topoi gesellten. Einige davon weckten wiederum das Interesse von Verlagen an meiner Arbeit dahingehend, dass man mir solide Phantastik-Kenntnisse und eine gute ›Schreibe‹ attestierte und mich fragte, ob ich mir nicht zutraue, entsprechende Literatur auch zu lektorieren. Das eröffnete mir den Weg zu einer Tätigkeit als freier Lektor, die mir nach einigen Jahren auskömmliche Erträge und die Möglichkeit zur weiteren wissenschaftlichen und populären Beschäftigung mit der Phantastik ermöglichte. (Wobei ich auch Werbeprospekte und Kataloge korrigiert und überhaupt alle möglichen Textarten außer Lyrik überarbeitet habe – so ein Geschäft baut sich langsam auf.)

Dieser Lebenslauf ist in vieler Hinsicht ungewöhnlich und von manchen Glücksfällen gekennzeichnet, aber doch nichts derart Besonderes, dass es nicht ähnlich verzweigte Biografien gäbe, die dazu führen, dass Menschen sich außerhalb des wissenschaftlichen Elfenbeinturmes der Phantastik – oder auch ganz anderen, aber ernsthaft betriebenen Forschungsaufgaben – widmen (könnten). Es stellen sich dabei zwei Fragen.

Einmal geht es darum, inwieweit man es sich überhaupt erlauben kann, intensive Forschungsarbeit zu leisten, die nicht oder kaum vergütet wird. Ideal ist es, wenn sich Forschungsinteresse und Brotberuf irgendwie ergänzen und so Synergien entstehen können. Nur dürfte das in der Regel nicht einfach sein. Und wird möglicherweise auch von Zufällen abhängen und sich somit nicht planen lassen. Dass ich neben Promotionsstudium und Wiss.-Mit.-Stelle Ende der 1990er-Jahre eine der damals ganz wenigen Internetseiten aufgebaut habe, die sich theoretisch mit Tolkiens The Lord of the Rings (1954–1955) beschäftigte (www.polyoinos.de) und kurz danach der Hype um Peter Jacksons Verfilmung einsetzte, der meiner Site für ein, zwei Jahre täglich Tausende von Besuchern einbrachte, war so nicht geplant. Ich wollte einfach nur eine begründete Interpretation von Aspekten eines mir sehr wichtigen literarischen Werks loswerden und wurde letztlich dadurch als Lektor ›entdeckt‹.

Eine sich unerwartet öffnende Tür wie diese ist auch in anderen Zusammenhängen denkbar. Ein Erzieher mag vielleicht die pädagogischen Möglichkeiten kindgerechter Phantastik entdecken und später entscheidende theoretische Einblicke in dieses Gebiet darlegen und so die Forschung erweitern. Eine Ingenieurin könnte in kritischer Reflexion der an sie gestellten Anforderungen Entscheidungshilfe in phantastischen Werken suchen, sich in diesen Aspekt der Science Fiction vertiefen und aus dieser Praxissicht neue Aspekte im gesamten Genre beleuchten. Und das sind jetzt nur Beispiele, die sich auf die Inhalte phantastischer Werke beziehen; formale, historische, ästhetische, sprachliche und weitere Aspekte der Phantastikforschung bilden noch ganz andere Ansatzmöglichkeiten und eröffnen Untersuchungsmethoden, die eben auch außeruniversitären Forscherinnen und Forschern offenstehen.

Nur müssen die außerakademischen Stimmen auch Gehör finden können, und das ist die zweite Frage, die sich stellt, wenn wir über »freiberufliche Phantastikforschung« reden, wie sie Simon Spiegel so schön bezeichnete, als er mich wegen dieses Artikels ansprach. Die Frage lautet: »Wird der Laie denn in der Akademie auch gehört?« Und diese Frage wird nicht den Forschenden gestellt, sondern den Institutionen und ihren Vertreterinnen und Vertretern. Wobei ich den Begriff »Laie« natürlich bewusst provokativ gewählt habe. Denn dem Laien wird (vielfach zurecht) unterstellt, dass er vor allem subjektive Befindlichkeiten in die Diskussion einbringt (»Star Wars ist das Allergrößte, was es je im Kino gegeben hat!«), die den angestrebten Erkenntnisgewinn unseres Faches nicht allzu stark befeuern. Aber als Herausgeber, Peer, Mitveranstalter von Symposien und Juror in wissenschaftlichen Auszeichnungsverfahren habe ich mehrfach erlebt, dass formale Qualifikationen und die institutionelle Eingebundenheit in die Scientific Community als Auswahl- wie auch als Qualitätskriterium vor die inhaltliche Beurteilung einer Arbeit, eines Vorhabens oder eines sonstigen Debattenbeitrags gestellt wurden. Nicht-institutionell arbeitende Forscherinnen und Forscher als Laien abzuqualifizieren beschneidet die Möglichkeiten und den Fortschritt der Phantastikforschung im Speziellen ebenso wie sie es im Allgemeinen überhaupt für alle Forschungsfelder tut. Wissenschaftliche Forschung setzt natürlich auf Standards, die potenzielle Beitragende erfüllen müssen, und das erfordert auf deren Seite ein nicht geringes Maß an Kenntnissen fachspezifischer und allgemeinerer Art. Aber es ist egal, wo diese Kenntnisse herkommen. Und wenn die Standards nicht erfüllt werden, so hält das die Forschung nicht auf, denn um diesbezügliche Mängel zu erkennen, genügt ein schneller Blick auf das eingereichte Paper. Deshalb schreibe ich auch nicht, dass die ›Laienstimmen‹ Gehör finden müssen, denn es gibt Beiträge, die die Forschung nicht weiterbringen. Aber sie müssen eben Gehör finden können; dürfen also nicht im Vorhinein aufgrund außerhalb ihres Beitrags liegender Kriterien verworfen werden.

Dieser von vielen Zu- und Glücksfällen gekennzeichnete Lebenslauf, der es mir heute ermöglicht, autonom auf dem Gebiet der Phantastikforschung tätig zu sein und trotzdem meinen Lebensunterhalt nicht allzu fachfremd verdienen zu müssen, ist ein sehr spezieller. Außerdem ist die Tätigkeit als Lektor, die mehr umfasst als Bücher stilistisch zu veredeln, sondern durchaus auch die Förderung von Genres in der Öffentlichkeit eben auch in Form von Erkenntnisgewinn und -vermittlung umfasst, so weit gar nicht von der akademischen Tätigkeit entfernt. Phantastikforschung kann aber auch auf gänzlich anderen Gebieten erfolgen.

Zunehmend wird beispielsweise der visionäre Wert des Genres erkannt und die Phantastik als Ideengeber entdeckt, etwa in Form von Unternehmungen wie dem Future-Life-Projekt (www.phantastik.eu). Autorinnen und Regisseure der Phantastik wiesen immer schon und weisen immer noch darauf hin, dass man neue Blickwinkel und innovative Herangehensweisen auch auf verrückt anmutende und weit hergeholt scheinende Weisen entwickeln und zur Diskussion stellen kann. Wobei das Entwickeln und Debattenführen als eher verkopfte Angelegenheit wahrscheinlich gar nicht unbedingt das wichtigste Anliegen der kreativen Praktikerinnen und Praktiker ist. Aber genau das kann und – wie ich denke – sollte es für die Phantastikforscherinnen und -forscher sein. Wir können Impulse nicht nur aus der Universität heraus geben, sondern sind in der Lage, als Mitwirkende bei allen möglichen Formen der Projektarbeit aufzutreten. Mit unserem Überblick über die Phantastik und der Forschung zum Genre können wir genau den systematisch fundierten Input geben, der in sozialen, technischen, ökologischen und vielen anderen aktuellen Fragen nötig ist, und der vielleicht sogar hier und dort entscheidende Hinweise für bahnbrechende Durchbrüche zeitigen mag.

Eine zunehmende Offenheit dafür scheint es aufseiten der Wirtschaft als potenziellem außerakademischem Arbeitgeber ganz langsam auch zu geben. Unsererseits bedarf es dann das eine oder andere Mal vielleicht nur etwas mehr Mutes und einer gewissen Out-of-the-box-Initiative, um auf uns und das, was wir wissen, aufmerksam zu machen. Das würde, anders als eine zunehmende Verschulung der Akademien, zum gewünschten Austausch des an den Universitäten entwickelten kritischen Denkens mit Wirtschaft und Gesellschaft beitragen. Und damit verwirklichten die Phantastikforscherinnen und -forscher am Ende das, was ihr Forschungsobjekt immer schon anstrebt: die Dinge neu und anders zu betrachten.

Autor

Frank Weinreich, Jahrgang 1962, Magister-Studium der Philosophie, Kommunikations- und Politikwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum, Promotion zum Dr. phil. in Philosophie an der Universität Vechta, lebt als freier Lektor und Publizist in Bochum. Zu seinen jüngsten Publikationen zählt der Abschluss einer Trilogie von Grundlagentexten über die Antikenrezeption in der Fantasy, der Science Fiction und dem Horrorgenre in den jeweiligen von Michael Kleu herausgegebenen Aufsatzsammlungen aus dem Oldib-Verlag, Essen, sowie ein mit dem Fotografen Andreas Gerth entwickelter Bildband über Landschaften in Mittelerde, Auenland und Düsterwald, der im Oktober 2022 bei Frederking & Thaler, München, erschien. Eine vollständige Publikationsliste findet sich unter textarbeiten.com/publikationen.

Fantastik als Beruf Erfahrungen mit dem Fantastischen in der Medienkulturwissenschaft

Sophie G. Einwächter

Obwohl ich mich nicht als Fantastikforscherin begreife, haben Elemente der Fantastik meinen Werdegang stets begleitet. Zunächst im anglistischen Studium mit Vertiefung in der Schauerromantik (zwischen gothic novels, monsters & damsels in distress), dann als Medienkulturwissenschaftlerin mit Schwerpunkt in der Erforschung von Fankulturen erwies sich das Fantastische als etwas, das Leser_innen, Zuschauer_innen und Gamer_innen oft über Generationen hinweg an unterschiedlichste Medien fesselt und somit auch für mich, die Rezeptionsphänomene schon immer besonders interessant fand, dauerhaft Relevanz besitzt.

Vampirmedien – Lehr- und Lernthema mit großer Resonanz

Zu Beginn meines Promotionsstudiums der Medienwissenschaft organisierte ich mit meiner Kollegin Maria Verena Peters eine transdisziplinäre Tagung zu Vampirerzählungen (Letting the Vampire In, Dezember 2010 Ruhr-Universität Bochum), ein Thema, das damals gerade einen regelrechten Hype erlebte. Letzterer war ausgelöst von in relativ kurzen Abständen erschienenen Filmen und Serien mit Vampirthematik (u. a. The Twilight Saga [2008–2012], True Blood [US 2008–2014, Idee: Alan Ball] und The Vampire Diaries [US 2009–2017, Idee: Kevin Williamson und Julie Plec]), war aber natürlich keinesfalls isoliert zu betrachten, sondern ist in einer langen kulturhistorischen, literarischen sowie generell medialen Tradition zu verorten. Geschichten von Vampiren, das wurde uns klar, waren (und sind) so vieles: Parabeln über die Gefahr von Anziehung und Nähe, den Reiz des Anderen und die mögliche Vernichtung, die von ihm ausgeht; Warnungen vor den Versuchungen der Macht, des ewigen Lebens, bleibender Schönheit und Überlegenheit; kritische Betrachtungen der Abhängigkeit solcher Macht von Situationen der Ausbeutung und der Monstrosität, die damit einhergeht. Faszinierend, wie ein Stoff sich über Jahrtausende (wenn wir etwa mit Lilith, Adams erster und ungehorsamer Frau, beginnen, vgl. Trattner) immer wieder neu erzählen lässt und dabei Facetten dessen enthüllt, was eine Gesellschaft im Augenblick beschäftigt, was sie ersehnt und was sie fürchtet. Vampire, so Nina Auerbach in Our Vampires, Ourselves spiegeln immer einen Teil von uns selbst und unserer Zeitgeschichte wider. Seit unserer Tagung sind zwölf Jahre vergangen und das Thema ist wie seine Hauptfigur nicht totzukriegen, sondern erweist sich ein ums andere Mal als relevant, wie etwa Theresia Heimerl sehr treffend im letzten Forum der ZfF festhielt, als sie vom Potenzial der vampirischen Existenz sprach, Sehnsuchts- und »Hoffnungsort von Frauen, Kindern und Menschen alternativer Sexualität« zu sein (Wiedergrün et al. 14).

Wir Jungwissenschaftlerinnen machten 2011 die spannende Erfahrung, ein Thema aufzugreifen, das disziplinär in viele Richtungen Anschluss fand und überdies ein gewisses Medienecho hervorrief (eine dpa-Meldung zog zahlreiche Interviewanfragen nach sich) – wir sammelten erste Erfahrungen mit Wissenschaftskommunikation, in kollegialer Vernetzung, Eventmanagement und Fundraising. Getragen wurden wir von einer Welle des professoralen Wohlwollens und auch ganz konkret der Mittel und Ausstattung, die für die Doktorand_innenförderung bereitstanden, sowie der Freude aller Beteiligten am Thema und seiner Vielseitigkeit.

Seither habe ich auch andere Beobachtungen gemacht, etwa dass Forschungsthemen der Fantastik eine Karriere in Medien- Literatur- oder Kulturwissenschaft auch verkomplizieren können und dass entsprechende inhaltliche Schwerpunkte von vielen eher mit der Frühphase eines wissenschaftlichen Werdegangs in Zusammenhang gebracht werden. In den Denominationen von Professuren finden sich explizit fantastische Themen nur selten, allenfalls versteckt hinter dem Etikett des ›Populären‹, weshalb sich viele hochqualifizierter Kolleg_innen und auch ich selbst mit der Frage konfrontiert sehen, ob und in welche Richtungen man sich inhaltlich noch einmal neu erfinden könnte, um nicht von anderen als weniger anschlussfähig eingestuft zu werden (ohne dies notwendigerweise zu sein). Je höher die Karrierestufe, desto wichtiger wurden strategische Überlegungen, etwa die dem jeweiligen Fach eigenen Distinktionen zu beachten, dessen inhaltliche Breite vertreten zu können oder auch (finanziell motiviert) Bezüge zu aktuellen Förderlinien herstellen zu können.

Fankultur als Forschungsthema

In meinem Promotionsstudium waren es dann vor allem Fans und Fandom, die meine Bindeglieder zum Fantastischen darstellten. Ich wandte mich der Partizipations- und Fanforschung zu, in der es mir darum ging zu untersuchen, welche organisatorischen und ökonomischen Konsequenzen aus fankultureller Begeisterung resultieren. Oft fing es für meine Interviewpartner_innen (aus den genannten Vampirmedien-Fandoms, aber auch dem Harry-Potter- und The Lord-of-The-Rings-Fandom) mit einer Geschichte an, aus einer TV-Serie oder einem Kinoblockbuster, die noch nicht auserzählt war, auf deren Fortsetzung man zu lange warten musste oder von der sie einfach nicht genug bekommen konnten. – Was folgte, waren eigene Websites, das Organisieren von Events, oder Filmprojekte, die der Leidenschaft weitere kreative und soziale Auseinandersetzungen boten. Der Kompetenzerwerb (von Sprachkenntnissen über Kunsthandwerk oder Schmiedekünste bis hin zu Filmschnitt, Webdesign und Eventmanagement), der so für viele spielerisch und in der Freizeit erfolgte, war teils erheblich und mündete oftmals in Formen der Professionalisierung im Rahmen von Fantasy-Conventions, eigenen Onlinedatenbank- und Eventorganisationen, Lets Plays auf YouTube (heute fortgesetzt auf Twitch.tv) etc.

Die Bandbreite dieser Erfahrungen war faszinierend: Ich sprach mit Müttern, die während ihrer Elternzeit online Vampirserien-Fanseiten organisierten, weil Ihnen zuhause die Decke auf den Kopf fiel, mit Fanfilmemacher_innen (Einwächter, Transformationen); mit Herausgebenden von Fanmagazinen und Veranstalter_innen von Conventions, die sich mit rechtlichen Rahmenbedingungen vertraut machten und Veröffentlichungsstrategien entwickelten, um nicht den Zorn von Rechteinhaber_innen auf sich zu ziehen (vgl. Einwächter, »Please« und Einwächter, » Negotiating«).

Ich lernte durch diese Forschung, dass Fans nicht nur offizielle Texte transformieren und mit Fanfiction, Fanart etc. semiotisch produktiv sind (Jenkins), sondern dass sie zentrale Akteur_innen in kulturwirtschaftlichen Märkten darstellen, dass sie je nach Situation Vermittelnde zwischen offiziellem Angebot und möglicher Nachfrage sind, aber auch Archivar_innen von Populärkultur, die selten Eingang in offizielle Gedächtnisinstitutionen findet. Dass Fans zudem selbst unternehmerische Praktiken entwickeln und keineswegs immer nur harmonisch interagieren, sondern auch miteinander in Wettbewerb treten – das alles waren Beobachtungen meiner Forschung zu dieser Zeit, die nicht nur den Kern meiner Dissertation, sondern auch weiterführende Erkenntnisse über die Kulturwirtschaft an sich darstellten. Fans und die Beobachtung und Begleitung ihrer Aktivitäten halfen mir dabei, einen umfassenderen Blick auf den Teil der Wirtschaft zu gewinnen, in den auch viele Medien- und Kulturwissenschaftler_innen eintreten, wenn sie nicht an der Universität bleiben: als Redakteur_innen, Autor_innen, Veranstaltungsmanager_innen, kurzum: Kreative.

Fankultur als fruchtbares Thema und Inspiration in der Lehre

Ich selbst fand neben einer gewissen Prekarität in vielen dieser fankulturellen Biografien weitere Aspekte wieder, die auch mein Leben als Medienwissenschaftlerin prägen: Oftmals gibt es auch heute noch Erzählungen oder Medien, die mich derart begeistern, dass die Auseinandersetzung mit ihnen sich nicht mehr wie Arbeit anfühlt – ein Luxus, der für hohe intrinsische Motivation sorgt und so wohl auch zu einem gewissen Selbstausbeutungsrisiko bei Geisteswissenschaftler_innen wie auch Kreativen der Kulturwirtschaft führt.

Die großen Mythen aktueller oder vergangener Tage bieten wunderbare Gelegenheiten, um Studierende dort abzuholen, wo ihre Leidenschaft sitzt, und darüber hinaus fachliche Potenziale zu aktivieren. Seminare zu Filmen und Serien ebenso wie Kurse, die sich mit Fankulturen und ihrer Theoretisierung auseinandersetzen, haben immer großen Anklang gefunden, weil viele ihre eigenen Faszinations- und Begeisterungsthemen einbringen konnten. Auch im Studium ist intrinsische Motivation, die Beschäftigung mit einer Sache um ihrer selbst willen, eine wertvolle Ressource. Eine gemeinsame Vorstellungsrunde etwa, in der alle Studierenden eine Serie, einen Film, ein Game oder eine Musikgruppe etc. nennen sollen, mit der sie sich gut auskennen, ist nicht nur ein Eisbrecher, der die Teilnehmer_innen einander interessierter und offener begegnen lässt, sondern auch für die Lehrperson ein spannender Einblick in das jeweilige popkulturelle Zeitgeschehen.

Allerdings: Serien und Filme sind zwar legitime Forschungsgegenstände in der Medienkulturwissenschaft, aber die popkulturelle Landschaft ist derart schnelllebig und manche Texte so ausufernd, dass ihre Beforschung zuweilen an ihre Grenzen stößt. Viele populäre Erzählungen finden ein abruptes Ende, andere erstrecken sich über zahlreiche Bände oder Staffeln, wie ließe sich ihre Komplexität angemessen in einem Kurs wiedergeben, der nur eine überschaubare Anzahl von Stunden umfasst? Die Beschäftigung mit diesen Stoffen muss so vor allem aus pragmatischen Gründen oft fragmentarisch bleiben, als Auswahl exemplarischer Sequenzen oder Handlungsbögen (vgl. Fröhlich et al.).

Viele Studierende haben bei mir Haus- oder Abschlussarbeiten zu ihren Lieblingsfilmen oder Gaming-Welten geschrieben (und darüber auch mir Einblick in kulturelle Nischen oder auch Mainstreamphänomene ermöglicht, die sich generationenbedingt meiner Wahrnehmung entzogen) – das Lernen war so immer ein gegenseitiges. Nur in sehr seltenen Fällen zeigte sich die Gefahr, über das persönliche Engagement die Fähigkeit zur kritischen Distanz zu verlieren, und auch solche Situationen stellen teachable moments dar. In meiner langjährigen Erfahrung mit Kursen zu diesen Themen hat Fandom sich vor allem als eines erwiesen: als Quelle guter Textkenntnis – und von dieser profitiert jedes Seminar.

Das in fankulturellen Kreisen (im Bereich der fanfiction) übliche gegenseitige Betreuungsverhältnis bei Schreibprozessen auf Augenhöhe, das sogenannte beta reading, binde ich noch heute – wo immer möglich – in meine Kurse mit ein, indem ich meine Studierenden bitte, gegenseitig in Tandems ihre Hausarbeiten nach gewissen Kriterien zu feedbacken und zu überarbeiten, bevor sie diese offiziell bei mir abgeben. Daraus resultieren wertvolle Lernprozesse auf der Peer-Ebene und konkrete Kooperationen zwischen Studierenden.

Fanforschung und Medienwissenschaft

Fanforschung ist allerdings nicht nur ein Garant für große Freude an der Arbeit, sondern kann sehr wohl auch als Nischenthema und Karrierehindernis verstanden werden, etwa wenn der Eindruck entsteht, man spreche im Seminar eigentlich nur über die eigenen Lieblingsserien oder die jüngst organisierte Tagung sei mehr eine Fanconvention als ein wissenschaftlich fundierter Anlass. Allein schon wegen der professionellen Distinktion, denn der Grat zwischen »fan scholar« (einem Fan, der Forschung betreibt, Hills 2) und einem »scholar-fan« (einer Wissenschaftlerin, die auch Fan ist, ebd.) ist schmal –aus Gründen der Reputationswahrung gilt es also zu markieren: Hier geht es nicht um Nerdtum, sondern um methodisch geleitete und theoriegestützte Auseinandersetzung. Genauso wie wenige Kolleg_innen ihre Expertise allein über Forschung im Bereich der Fantastik bestreiten können, geben auch nur wenige Fanforschung als alleinigen Schwerpunkt ihrer Arbeit an. Dabei wäre die Thematik in viele mediale Bereiche anschlussfähig, wenn man sie nur konsequent genug weiterdächte.

Die Fan Studies führen in Deutschland eine institutionelle Zwischenexistenz zwischen Soziologie, Kommunikationswissenschaft, Medien(kultur)wissenschaft und Filmwissenschaft (hier insbesondere Audience Studies), die je nach Standort mehr oder eben weniger stark miteinander kooperieren. Oft gibt es jeweils unterschiedliche Schwerpunktsetzungen – hier mehr auf Sport- oder Musikfandom, dort mehr auf Filme und Games. Methoden sowie Begrifflichkeiten können variieren, ebenso die Bereitschaft, Fankultur auch als Bestandteil der Tradition wissenschaftlicher Institutionen anzuerkennen.

Wie ich bereits mehrfach erörtert habe, spricht vieles dafür, insbesondere Medien- und Literaturwissenschaftler_innen selbst als Fans zu begreifen, die besondere Leidenschaft in die Beschäftigung mit ihren Gegenständen einfließen lassen (vgl. u. a. Cuntz-Leng et al). In der Filmwissenschaft etwa wird ohne Schamgefühl von Liebhaberei, Kenner_innentum, von Cinéphilie gesprochen und viele bekennen sich auch offen dazu. – Allein das Etikett des/der Fan/s möchten nur wenige tragen, auch wenn Sammelboxen, Bildbände und andere Memorabilia von Hitchcock, Godard, Tarantino und Co. die heimische Vitrine zieren mögen. In dieser Weigerung, Fandom von Wissenschaftler_innen auch als solches zu benennen, schwingt zum einen eine altbekannte Trennlinie zwischen vermeintlicher Hoch- und Subkultur mit (und ihren jeweils unterschiedlichen Formen legitimer Begeisterung), zum anderen gibt es auch eine genderspezifische Dimension zu beachten, denn traditionell hatten es immer jene Texte und Medien schwerer, als legitime Forschungsgegenstände anerkannt zu werden, die einem eher weiblichen (oder queeren) Publikum zugeordnet wurden oder mit weiblichen oder queeren Gefühlsexzessen in Verbindung gebracht wurden (z. B. romance novels, Seifenopern etc.). Und auch die Frage, ob Begeisterung als legitime Ressource für Forschungsaktivitäten gelten kann, wird innerhalb der Disziplinen, die Fanforschung betreiben, sehr unterschiedlich beantwortet. Nie werde ich vergessen, wie ich im Evaluationsprozess meines Promotionsvorhabens für ein Stipendium von zwei Professoren die gleiche Frage gestellt bekam: »Sind Sie denn selbst Fan?«. Interessant war, dass beide sich eine andere Antwort wünschten. Während der eine hoffte, ich sei Fan, weil ich dann den Gegenstand und die Kultur, die ich beforschen wollte, besonders gut verstehen – überhaupt erst richtig verstehen – könnte, hatte der andere Sorge, ich sei im Fall eines eigenen Fandoms nicht distanziert genug vom Gegenstand, um analytisch valide Schlüsse ziehen zu können.

Wenngleich ich dieses Erlebnis vor allem als Symptom einer erwünschten oder performten Distinktion innerhalb eines Systems verstehe, das alte Hierarchien und althergebrachten Habitus perpetuiert, so war es für meinen eigenen Werdegang dennoch wichtig, die Konturen der eigenen Beschäftigung immer wieder zu hinterfragen. Aus diesem Spannungsverhältnis (und zuweilen Rechtfertigungszwang) habe ich gelernt, den Forschungsbereich als einen zu begreifen, der zuweilen polarisieren mag und dann mitsamt seiner fachspezifischen sowie interdisziplinären Fruchtbarkeit immer wieder neu erläutert werden muss.

Ich sehe jedoch zugleich eine in den letzten Jahren gestiegene Bereitschaft, Fanforschung auch in der Medienkulturwissenschaft den Raum zu geben, den ihre Relevanz ihr zuschreibt, denn Fankultur ist längst integraler Bestandteil gegenwärtiger Alltagskultur geworden (Gray, Sandvoss und Harrington) und somit für viele bereits offensichtlich, dass in den großen Forschungszusammenhängen zu medienkulturellen und pädagogischen Themen eine fankulturelle Perspektive mit dazu gehört. Es gibt deshalb ein großes Potenzial zu medienkulturwissenschaftlichen Kooperationen mit anderen Disziplinen wie beispielsweise der Germanistik (z. B. Leseförderung) oder Wirtschaftswissenschaft (z. B. Branding, Media Franchises, generell: Cultural Industries betreffend).

Fantastisches und Fankulturelles – die Erzählungen, Mythen, das Populäre und Unterhaltsame ebenso wie die Reaktionen eines Publikums auf diese Inhalte – sind genau das, was unsere Gegenwart und unser mediales Miteinander in vieler Hinsicht ausmacht und was wir verstehen müssen, um nicht nur mediale, sondern zunehmend auch gesellschaftliche und politische Zusammenhänge zu begreifen. Denn, wie könnte man gängige Verschwörungstheorien und Propaganda (Spiegel et al.), die medialen Erfolge eines Donald Trump (Einwächter, »Marken« 332) (der sich selbst kokettierend als Marvel-Bösewicht Thanos inszenierte) oder auch Protestphänomene (wie das Verhalten des Pseudo-Schamanen Jake Angeli beim Capitolsturm in seiner Fantasie-Gewandung, vgl. Gözen) verstehen, ohne dabei ihre Verweise auf Mythisches und Fantastisches sowie auf etablierte performative Aneignungspraktiken wie beispielsweise Cosplay anzuerkennen, von denen politische Bewegungen mittlerweile längst Gebrauch machen (vgl. Einwächter, »Marken« und Gözen)? Es sind Erzählungen, die uralt sind und zugleich immer wieder neu aufbereitet werden, die heute unseren medialen Alltag durchziehen, und oft unbemerkt mitprägen, wie wir Sinn aus dem machen, was uns umgibt. – Für mich ein wichtiger Grund, die Zusammenhänge von Medien und Kultur(en), Gemeinschaften und Narrativen wissenschaftlich zu befragen und dabei den kritischen Blick immer wieder auch auf die Hochschule selbst (mit den ihr eigenen Erzählungen und Gefolgschaftsphänomenen) zu richten.

Autorin

Sophie G. Einwächter, Dr. phil., Studium der Film- und Fernsehwissenschaft, Germanistik und Anglistik (Ruhr-Uni Bochum), Dissertation mit dem Titel Transformationen von Fankultur: Organisatorische und ökonomische Konsequenzen globaler Vernetzung (Open Access, Uni Frankfurt 2014), aktuell Leiterin des DFG-Projekts Medienwissenschaftliche Formate und Praktiken im Kontext sozialer und digitaler Vernetzung an der Philipps-Universität Marburg (2021–2024). Gemeinsam mit Vera Cuntz-Leng Initiatorin und Sprecherin der AG Partizipations- und Fanforschung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM). Sprecherin des AK Gewaltprävention online innerhalb des Forum Antirassismus in der Medienwissenschaft (FAM) und seit 2022 Mitherausgeberin der Zeitschrift Demokratie gegen Menschenfeindlichkeit. Forschungsschwerpunkte: Ethnografische Wissenschaftsforschung, Fan Studies, Cultural Studies, Digital Cultures, Gewaltprävention.

Fantastikforschung Then and Now – eine sehr subjektive Standortbestimmung

Julia Gatermann

The here and now is a prison house. We must strive, in the face of the here and now’s totalising rendering of reality, to think and feel a then and there. Some will say that all we have are the pleasures of this moment, but we must never settle for that minimal transport; we must dream and enact new and better pleasures, other ways of being in the world, and ultimately new worlds. (José Esteban Muñoz, Cruising Utopia: The Then and There of Queer Futurity 1)

Um dem Gefängnis des Hier und Jetzt zu entkommen, bedarf es der Vorstellungskraft, die allerdings weit mehr als ›bloßer‹ Eskapismus ist. Muñoz’ eindringliches Plädoyer für die Wirkmacht der Fantasie, die überhaupt erst die Voraussetzung jeglicher Gestaltungskraft in der ›Realität‹ ist, steht in einem Kontext, der seine Worte – gerade durch den scharfen Kontrast – umso utopischer klingen lassen. Für marginalisierte Gruppen ist Fantasie, vor allem utopisches Denken, überlebenswichtige Notwendigkeit, sowohl Akt des Widerstandes gegen Unterdrückung als auch zukunftsgerichtete Reklamation der eigenen Identität gegen eine dominante Kultur, die sie mit ihrer schieren Ignoranz auszulöschen droht.

Für eine weiße cisgender Frau wie mich, die in einem mehrheitsgesellschaflich weißen, strukturell rassistischen System aufgewachsen ist, ist es relativ leicht, das eigene Privileg, wo es denn besteht, auszublenden und die Diskriminierung anderer im täglichen Geschehen zu übersehen, liegt es doch schließlich in der Natur dieser Strukturen, sich selbst zu erhalten. Die ideologischen Färbungen und überlieferten Werturteile, die unserem Alltagsdenken und unseren Grundannahmen über uns selbst, die Welt und den eigenen Platz darin unterliegen, sind etwas, das wir in der Regel gar nicht bewusst wahrnehmen, sie sind uns so vertraut, dass wir sie gewissermaßen als kulturellen »White Noise« ausblenden. Wenn wir Teil dieser Mehrheitsgesellschaft sind, erlauben uns solche vorgefassten Denkweisen, abhängig von unserer jeweiligen Position im System, relativ unangefochten und reibungslos von den bestehenden Hierarchien zu profitieren. Wir können uns, ebenfalls abhängig von unserem eigenen Status, in den kulturellen Repräsentation abgebildet und validiert fühlen. Es gibt nur wenig, was unser Realitätsbild herausfordert und hinterfragt, und somit werden wir – wenn wir nicht gerade aktiv gegen den kulturellen Mainstream anarbeiten – standardmäßig Teil der destruktiven Ignoranz, der systemischen Gewalt gegen gesellschaftliche Minderheiten.

Etablierte Seh- und Denkmuster hinterfragen zu können setzt voraus, dass man sie als solche erkennt, dass man lernt, die eigene Perspektive zu verlassen, um neue Blickwinkel einzunehmen. Der Fantastik, die ich hier als groben Oberbegriff für nicht-mimetische Genres wie SF, Fantasy und Horror (im Folgenden gesammelt unter SFFH) verwende, wohnt aus meiner Sicht ein unglaubliches Potenzial inne, eine genau solche Verschiebung in unserer Wahrnehmung zu erreichen. Ähnlich dem konzeptionellen Spannungsfeld, das an den Rändern zweier verschiedener Kulturen die Entstehung neuer imaginärer Räume ermöglicht, strebt die Fantastik als Modus bewusst eine solche, diesen Prozessen zugrundeliegende kognitive Verfremdung an, die die vertraute Perspektive destabilisiert. Die wohl wirkmächtigste Kapazität von Fantastik ist aus meiner Sicht, wie sie uns den Blick auf unsere eigene Kultur öffnet, manchmal nur durch eine kleine Neigung des Winkels, und uns so Aspekte vor Augen führt, die wir ansonsten vielleicht übersehen hätten. Der Fantastik gelingt es mit verblüffender Leichtigkeit, unsere langgehegten Überzeugungen und Vorurteile, die häufig historisch verwurzelt und komplex in unsere Kultur eingewoben sind, durch eine solche Verschiebung des Rahmens deutlich zu machen; dass das, was wir vielleicht sogar als ›neutrale Fakten‹ empfunden haben, arbiträre Konstrukte sind, die ebenso gut auch neu und anders gedacht werden können. Und ebendiese verblüffende Leichtigkeit entlarvt, wie rigide und wenig tragfähig die Grundlagen unseres Denkens sein können, wenn sie unhinterfragt bleiben und sich somit nicht an die Herausforderungen einer hochkomplexen Welt anpassen können. Die Fantastik gibt uns also mächtige Werkzeuge an die Hand, mit denen wir uns neue Facetten unserer Realität, von der wir geglaubt hatten, dass sie uns vertraut sei, sichtbar machen können. Mit der Macht, neue Fragen stellen zu können – »was wäre wenn …?« –, werden wir also gleichzeitig befähigt, unsere Realität neu zu sehen und neu zu gestalten.

Als ich gegen Ende meines Studiums, also etwa 2008/09, beschloss, das Potenzial dieses »was wäre wenn« zum Gegenstand meiner Magisterarbeit zu machen, musste ich feststellen, dass es in Deutschland kaum Möglichkeiten des wissenschaftlichen Austausches dazu gab, war Fantastik doch immer noch ein Bereich, dem größtenteils die wissenschaftliche Anerkennung fehlte. Um Feedback für mein Projekt zu bekommen, musste ich in die USA reisen, wo ich auf meiner ersten wissenschaftlichen Tagung, der ICFA (International Conference for the Fantastic in the Arts), meine Forschung vorstellen durfte, dicht gefolgt von einer Teilnahme an der Jahrestagung der SFRA (Science Fiction Research Association). Ich verbrachte ein Jahr damit, für meine Magisterarbeit an der einschlägigen Merril Collection of Science Fiction, Speculation and Fantasy in Toronto, Kanada, zu recherchieren. Was ich in diesen Kontexten erlebte, war einfach nur überwältigend: Ich wagte zwar gerade einmal meine allerersten Schritte in der Wissenschaft, erlebte aber ein unglaubliches Maß an Unterstützung und Zuspruch durch die Fantastik-Community für meine Vorhaben und Ambitionen.

Als ich schließlich nach Deutschland zurückkehrte, sehnte ich mich danach, dieses Gefühl von Rückhalt und Zugehörigkeit mitzunehmen bzw. auch in einem deutschen Kontext erfahren zu können. Als daher 2010 Lars Schmeink das Wagnis einging, in Hamburg eine Konferenz zu organisieren, die Forscher*innen eine Austauschmöglichkeit zur Fantastik in Deutschland bieten sollte, unterstützte ich dieses Vorhaben, so gut ich konnte, um die dortige Gründung der Gesellschaft für Fantastikforschung und ihren darauffolgenden Aufbau zu ermöglichen. Den Einsatz und die Unterstützung, die wir 2010 in Hamburg und in all den Jahren seitdem erfahren haben, war und ist wirklich atemberaubend, und ich fühle mich unglaublich privilegiert, der GFF zehn Jahre lang im Vorstand gedient zu haben! Seit 2019 habe ich nun die Ehre, in der wohl ältesten und etabliertesten wissenschaftlichen Gesellschaft für SF, der Science Fiction Research Association, Landesvertreterin für Deutschland sein und somit gewissermaßen einen Beitrag beim Brückenschlag zwischen deutschem Fantastik-Diskurs und der internationalen Gemeinschaft leisten zu dürfen. Meine Faszination für SF, Fantasy und Horror ist zwar weitaus älter als meine akademische Laufbahn, doch war es wohl die Kombination von kritischer Innovation und kreativer Forschung in diesem Bereich, zusammen mit der Aufgeschlossenheit und Inklusivität der Menschen dort, die mich zum Entschluss bewogen haben, in der Wissenschaft zu bleiben – die Fantastikforschung ist also gewissermaßen meine akademische Heimat.

Heutzutage Fantastikforschung zu betreiben, bedeutet etwas ganz anderes als noch vor fünf, geschweige denn zehn Jahren – zumindest in meiner eigenen Erfahrung. Gerade in der Wahrnehmung von SF, aber vielleicht in etwas geringerem Maße auch von anderen fantastischen Genres wie (Urban) Fantasy oder Horror, hat es eine Verschiebung gegeben. Die Debatte »Science Fiction vs. Speculative Fiction«, die die Grande Dame der kanadischen Literatur Margaret Atwood 2004 entfacht hatte, als sie ihre eigenen Werke vom Genre abheben wollte, indem sie Letzteres doch recht eng und nicht gerade wohlwollend als Geschichten über »talking squids of Saturn« (513) definierte, ist mittlerweile längst zum Klischee geworden. Seitdem hat es die fantastische Literatur ein Stück weit aus dem »literarischen Ghetto« herausgeschafft, das Ursula K. Le Guin ihr anlässlich Atwoods Abgrenzung attestierte. Vielleicht auch nicht zuletzt, weil sich mittlerweile selbst im gesellschaftlichen Mainstream vielfach das eigene Realitätsempfinden durch die schlichtweg nicht mehr zu leugnenden globalen Veränderungen an die fiktiven Dystopien angeglichen hat und damit einhergehend ein bis dato vielfach als selbstverständlich angenommenes Sicherheitsgefühl ins Wanken geraten ist. Die Nachrichten – sei es mit Aufnahmen der ersten Monate der Pandemie oder der Auswirkungen des Klimawandels – beschwören häufig ein ungutes Gefühl von Déjà-vu herauf, bzw. das eines »Doppelbildes«, bei dem sich fiktive und reale Bilder übereinanderlegen und suggerieren, dass die in der SF abgebildete Zukunft längst hier sei.

Konzepte wie der kritische Posthumanismus oder New Materialism sowie Theoriekomplexe wie das Anthropozän lassen sich in der Tat deutlich besser mit verfremdenden und extrapolierenden Darstellungsweisen greifen als mit traditionellen realistisch-mimetischen. Meine eigene Forschung, z. B. im Rahmen meiner Promotion zur Non-Normativität von marginalisierten weiblichen Körpern in nordamerikanischer SF, die mit ihrem verkörperten Wissen Widerstand gegen Unterdrückung leisten, speist sich aus einem betont intersektionalen Theoriediskurs, in dem Feminismus, Critical Race Theory, Postkoloniale Studien, Queer Theory und Crip Theory zusammenkommen. Wenn man sich vorrangig mit historisch unterdrückten Perspektiven wie z. B. mit literarischen Verhandlungen der Middle Passage, über die Sklaven von Afrika in die USA gebracht wurden, oder dem Trail of Tears, der systematischen Enteignung und Auslöschung der indigenen Einwohner Nordamerikas, befasst, wird auch einer westlichen Leserin schnell klar, dass für viele marginalisierte Gruppen die Apokalypse längst stattgefunden hat (vgl. hierzu auch Canavan). Die Fantastik bietet sich somit als passender und naheliegender Modus der Darstellung an, um ein Gefühl der Entfremdung zu transportieren – eine Einschätzung, die mittlerweile immer größere Verbreitung findet. Während ich also noch 2010 mit meinem damaligen SF–Magisterthema auf Widerstand und mangelnde Akzeptanz gestoßen bin, bin ich heute mit meiner Forschung in guter Gesellschaft: Zurzeit entstehen z. B. gerade eine Vielzahl von Promotionsarbeiten, die einen Fantastik-Schwerpunkt haben. Bei der Gründung der GFF war die Schaffung eines Dissertationspreises neben dem Aufbau einer Infrastruktur und eines Netzwerkes aus Forscher*innen ein wichtiger Punkt, um wissenschaftlichen Arbeiten mit einem Fantastik-Fokus Sichtbarkeit und Anerkennung zu verschaffen. Mittlerweile werden einschlägige Dissertationen auch in anderen Gesellschaften mit einiger Regelmäßigkeit gewürdigt. Insgesamt hat die Forschung in diesem Bereich deutlich mehr Sichtbarkeit und Profil gewonnen – auch in den Programmen wissenschaftlicher Tagungen, bei denen dies früher eher eine Seltenheit darstellte: auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien konnte ich dieses Jahr z. B. einen ganzen Workshop zur SF mitorganisieren.

Auf struktureller Ebene wird der Fantastikforschung mittlerweile also deutlich mehr Gewicht und Bedeutung beigemessen. So hatte ich Anfang 2019 das große Glück, mit einer dreijährigen Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem interdisziplinären Drittmittelprojekt »Fiction Meets Science« mit dem Unterprojekt »Science in Postcolonial Speculative Fiction: Nature/Politics/Economies Reimagined« zur Dezentrierung westlicher Perspektiven in der zeitgenössischen anglophonen SF zu forschen. Seit Oktober 2021 arbeite ich nun als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Nordamerikanische Literatur der TU Dresden, der den dezidierten Fokus Critical Future Studies innehat. Diese Stelle erlaubt es mir, SFFH nicht nur als expliziten Teil meiner Forschung, sondern auch meiner Lehre voranzutreiben. Dabei empfinde ich es als großes Privileg, meinen Studierenden jedes Semester Seminare zu Themen wie Afrofuturism, Diverse SF oder Reproductive Justice anbieten zu können und dabei das Potenzial der Fantastik qua Extrapolation zu nutzen, um ihnen etwa das kritische Hinterfragen problematischer Entwicklungen und Machtstrukturen zu vermitteln, die in der Mehrheitsgesellschaft seit jeher normalisiert sind. Mein Eindruck ist, dass meine Studierenden bereits eine inhärente Kompetenz mitbringen, Fantastik als Modus und Filter für Weltinterpretation zu verstehen, sodass eine wissenschaftliche Rahmung ihnen hier das passende analytische Werkzeug liefert, die eigenen Fähigkeiten zum kritischen Denken noch weiter zu schärfen und für den eigenen Alltag tauglich zu machen. Der intersektionale Ansatz, den ich stets verfolge, scheint meine Studierenden besonders stark anzusprechen, da sie seine Relevanz für ihr eigenes Realitätsbewusstsein direkt erkennen und wertschätzen. Durch die Verhandlung von SFFH-Primärwerken marginalisierter Autor*innen werden selbst komplexe Theorieansätze wie Critical Posthumanism, Postcolonial Theory oder Black Feminism für meine Studierenden ungleich greifbarer. Fantastik ist somit für mich nicht nur Forschungsgegenstand, sondern gleichzeitig auch Werkzeug.

Meine Arbeit und Forschung in einem hauptsächlich nordamerikanischen Kontext bringen mich entsprechend mit den dortigen aktuellen Diskursen und Debatten in Kontakt, wobei es verglichen mit dem deutschen Kontext interessanterweise teilweise sehr unterschiedliche Gewichtungen bis hin zu kulturellen Verschiebungen gibt. Seit ihrer Gründung war es ein Bestreben der GFF, den Austausch anzuregen und die Kommunikation zu fördern – mit gutem Erfolg. Auf den Jahrestagungen konnten wir regelmäßig einen großen Anteil internationaler Teilnehmer*innen verzeichnen. Um diesen produktiven gegenseitigen Austausch, gerade nach einer Zeit der pandemiebedingt gefühlt stärkeren Isolation, weiter zu stärken, freue ich mich, nun eine Tagung (vom 15. bis 19. August 2023) an der TU Dresden organisieren zu dürfen, bei der genau dies im Mittelpunkt steht. Ich bin meinem Vorgesetzten Prof. Moritz Ingwersen sowie den Vorständen sowohl der GFF als auch der SFRA zutiefst zu Dank verpflichtet, dass sie sich sofort bereit erklärt haben, mit mir das Experiment einer gemeinsamen Jahrestagung der beiden Gesellschaften zu wagen. In diesen Zeiten, die geprägt sind von globalen Krisen, müssen wir lernen umzudenken, denn business as usual ist keine Option mehr. Wir sehen uns mit gigantischen Herausforderungen konfrontiert, deren Bewältigung es notwendig macht, über den Tellerrand hinauszuschauen. Wir brauchen neue Perspektiven und Blickwinkel, neue Formen der Zusammenarbeit und Kooperation, Kommunikation miteinander über die Trenngräben unserer subjektiven Erfahrungen hinaus. Und mehr als alles andere brauchen wir eine große Portion utopisches Denken! Mit anderen Worten: in diesen Zeiten brauchen wir Fantastikforschung mehr als je zuvor, und je diverser die Stimmen in ihr, umso besser stehen unsere Chancen, die Krisen zu meistern und die Welt zum Besseren zu verändern. Unter dem Titel »Disruptive Imaginations« hoffe ich, eine Vielzahl solcher diverser Stimmen dazu zu hören, wie man produktiv mit Disruptionen umgehen kann, wie man vielleicht sogar den Status Quo aufbrechen muss, welches disruptive Potenzial in der Vorstellungskraft selbst steckt, wo versprochene Disruptionen zu kurz greifen, und wo möglicherweise das eigene Denken eines Bruchs bedarf, um Raum für mehr Gleichberechtigung und wirklich nachhaltiger Innovation zu schaffen. Trotz noch immer bestehender globaler Unsicherheiten hoffe ich, dass wir im August 2023 möglichst viele Teilnehmer*innen zu diesem gemeinsamen Event begrüßen dürfen, um unseren fruchtbaren und dynamischen Austausch noch weiter zu vertiefen und unsere Vernetzung miteinander zu stärken. Unsere Gemeinsamkeiten, aber gerade auch unsere Unterschiede und individuellen Perspektiven sind das, was die SFF-Forschungsgemeinschaft ausmacht, trägt und in die Zukunft bringen kann, und ich bin unglaublich dankbar, ein Teil hiervon sein zu dürfen.

Autorin

Julia Gatermann promoviert in der Amerikanistik an der Technischen Universität Dresden zu Biokolonialismus und nicht-normativem weiblichen embodiment als Schauplatz des Widerstands in zeitgenössischer nordamerikanischer spekulativer Literatur. Ihre bisherigen Publikationen befassen sich mit transhumanistischen ›Post-Disability‹-Bildern in der Kulturproduktion und mit Zukunftsimaginationen posthumanistischer Fortpflanzung, einschließlich eines Kapitels in Technologies of Feminist Speculative Fiction (Palgrave Macmillan, 2022) und einem Artikel in Science Fiction Studies (März 2023). Seit 2021 arbeitet Julia Gatermann als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Nordamerikanische Literatur und Critical Future Studies und war davor Teil des interdisziplinären Forschungsprojekts Fiction Meets Science mit einem Unterprojekt zu postkolonialer SF. Seit der Gründung 2010 bis 2020 hat sie im Vorstand der Gesellschaft für Fantastikforschung (GFF) gedient. Zurzeit ist sie in der Science Fiction Research Association (SFRA) country representative für Deutschland. Julia Gatermann ist Co-Organisatorin der gemeinsamen Jahrestagung der SFRA und der GFF 2023 mit dem Titel »Disruptive Imaginations«.

Zur Rolle der Fantastikforschung

René Reinhold Schallegger

Gerade in so unruhigen und krisenhaften Zeiten, wie sie große Teile der Welt seit einigen Jahren durchleben, ist die Fantastik und die kritische Auseinandersetzung mit ihr durch die Fantastikforschung von so großer Relevanz wie schon lange nicht mehr. Das mag auf den ersten Blick widersinnig erscheinen, denn wenn es an Grundbedürfnissen wie persönlicher und wirtschaftlicher Sicherheit fehlt oder diese je nach individuellen Lebensumständen zumindest bedroht sind oder sein könnten, warum sich dann ausgerechnet etwas zuwenden, das nach landläufigem Verständnis keine realweltliche Existenz hat? Und doch war es immer schon ein menschlicher Impuls, gerade in diesen Momenten Geist und Kreativität schweifen zu lassen – sei es zur bloßen Ablenkung bis hin zur Weltflucht oder zum kritischen oder gar revolutionären Ausspinnen von Alternativen. John Clute baut seine Definition und darauf aufbauend die Unterscheidung von Fantasy und SF auf dem Konzept der (Un-)Möglichkeit einer Erzählung nach dem als konsensual wahrgenommenen Wirklichkeitsmodell einer Gesellschaft auf (Clute, 338), und tatsächlich scheint mir die bewusste, ja spielerische Auslotung des Möglichen und seiner Grenzen auch der Kern nicht nur der Faszination, sondern auch der psychologischen, gesellschaftlichen und kulturellen Schlagkraft der Fantastik in all ihren Formen zu sein.

Schon in meiner Jugend wurde ich durch fantastische Texte – von Captain-Future-Comics bis zur monumentalen Trilogie des Lord of the Rings – sozialisiert, verbrachte meine Zeit regelmäßig im Kreis meiner Freund*innen vor dem Bildschirm mit der neuesten Beute aus öffentlichen und privaten Videotheken (zutiefst beeindruckt vom eigentlich noch verbotenen Alien [Alien – Das unheimliche Wesen aus einer fremden Welt, GB/US 1979, Regie: Ridley Scott]) oder den allwöchentlichen Abenteuern zuerst der Crews von Star Trek (The Original Series [Raumschiff Enterprise, US 1966–1969, Idee: Gene Roddenberry] und Next Generation [Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert, US 1987–1994, Idee: Gene Roddenberry]) und später den über Jahren hinweg gesponnenen epischen Handlungsbögen von Babylon 5 (US 1993–1998, Idee: J. Michael Straczynski). Pen-&-Paper-Rollenspiele, egal ob Das Schwarze Auge, Shadowrun oder Vampire, hielten uns nächte-, ja monatelang gebannt, und als die Hardware erschwinglich wurde, folgte die (damals zumeist noch) eher individuelle Faszination der Videospiele von Civilization bis Ultima. Wie für viele meiner Kolleg*innen, die heute in ähnlichen beruflichen Umfeldern tätig sind, führte mein Weg trotz Absenz von Akademiker*innen in meine Familie (ich bin ein first academic, wie unsere Universitätsmanager*innen neudeutsch zu sagen pflegen) dennoch fast selbstverständlich an die Universität und dort in ein philologisches Studium (in meinem Fall der Anglistik und Amerikanistik und des Französischen), da die literatur- und kulturwissenschaftlichen Studien damals noch als einer der wenigen Orte galten, wo meine amateurhafte Leidenschaft für die Fantastik – wenn auch nur theoretisch – in eine berufliche Existenz münden konnten (über den inzwischen wissentlich politisch herbeigeführten bedauerlichen Zustand der Fächer der Literatur-, Kultur-, und Geisteswissenschaften an unseren Universitäten möchte ich an dieser Stelle kein Wort verlieren).

Wie schwer es sogar noch knapp nach der Jahrtausendwende war, an einer österreichischen Universität – sogar einer jungen und angeblich progressiven –, eine Betreuung für meine Diplomarbeit über Babylon 5 zu finden, öffnete mir die Augen über die Realitäten der prekären Verankerung der Fantastikforschung im Wissenschaftsbetrieb. Dasselbe Schauspiel wiederholte sich (nach einer akademischen Absenz durch Zivildienst und der Hoffnung, mit politischer Arbeit gesellschaftlich etwas zu verändern) bei meiner Dissertation zu Pen&Paper-Rollenspielen, die nur durch den frischen Wind, den eine neue Professur mit sich brachte, möglich wurde. SF-TV-Serien waren ja schon ein abstruses Thema für eine österreichische Universität, aber Rollenspiele?

Aus dieser Erfahrung weitgehenden akademischen Unverständnisses unter den arrivierten Generationen in unseren Institutionen und eines Kampfes gegen anscheinend traditionsbedingte Windmühlen heraus, was eine kritische und qualitätsvolle Auseinandersetzung mit der Fantastik betrifft, war eine meiner ersten Begegnungen als Jungforscher mit dem akademischen Konferenzbetrieb die Gründungskonferenz der GFF 2010 in Hamburg. Einen glücklicheren Zufall hätte ich mir wohl nicht wünschen können. Getragen von einem egalitären Geist der Offenheit, des Respekts und des Willkommens, sowohl auf wissenschaftlicher als auch auf menschlicher Ebene, schuf das Team rund um unseren Gründungspräsidenten Lars Schmeink eine akademische Heimat nicht nur für mich, sondern für Dutzende über die Jahre hinweg wohl Hunderte Akademiker*innen in Deutschland und Europa, denen es ähnlich ging wie mir.

In ihrer Einleitung zum ersten Konferenzband (Collision of Realities)2 skizzieren Lars, Astrid Böger und Hans-Harald Müller die Raison d’Être und die Mission der GFF. Es ging ihnen darum, die notwendigen akademischen Strukturen und Netzwerke zu etablieren, um die Fantastikforschung als eigenes Feld in Europa unabhängig von Nordamerika zu entwickeln und zu stärken, damit unsere Forschungsergebnisse entsprechend ihrer Relevanz in populärkulturellen Diskursen präsentiert werden können (Schmeink et al. 2). Und auch innerhalb der traditionell gewachsenen, starren Disziplinenlogik unserer Universitäten wollten sie eine Verschiebung herbeiführen, systematisch akademische Strukturen und Ressourcen schaffen, um die Fantastikforschung ebenbürtig zu anderen Teilbereichen der Kultur- und Literaturwissenschaften zu entwickeln (1). Für das Feld der Fantastikforschung, aber besonders auch die Fantastikforscher*innen selbst, die dieses ausmachen, sollten akademische Reputation und Selbstbewusstsein gestärkt werden, damit sie innerhalb der bestehenden Disziplinen an unseren Universitäten auch den ihnen gebührenden Platz einzunehmen im Stande sind (3).

Mehr als zehn Jahre danach sind diese Ziele im Kerngebiet der Gesellschaft, den DACH-Ländern Deutschland, Österreich und der Schweiz, durch die Expertise, Beharrlichkeit und auch die menschlichen Qualitäten der Mitglieder der GFF weitgehend erreicht. Netzwerke sind entstanden, die es Fantastikforscher*innen erlauben, sich international in Europa zu bewegen und ihre Qualifikationsarbeiten unter fachkundiger Betreuung zu schreiben. Die Kompetenzen unserer Mitglieder sind gefragt und werden auch gesamtgesellschaftlich rezipiert, besonders wenn es um die eingangs erwähnte Qualität der Fantastik geht, sich in krisenhaften Zeiten mit den verfügbaren und denkbaren Möglichkeiten zu beschäftigen. In meinem Beitrag zur Gründungskonferenz habe ich über die Offenheit der Fantasy gesprochen, die aber dennoch (oder vielleicht gerade deshalb?) tiefere Bedeutungen ermöglicht, indem sie zwischen Freiheit und Konvention oszilliert, eine »literature of emancipation«, die uns nach den kulturellen Verwerfungen der Postmoderne hilft, den scheinbaren Widerspruch zwischen Sinnsuche einerseits und der Unwilligkeit, einen Sinn zu finden, zu ertragen (Schallegger 46). Ausgeweitet auf alle Subgenres der Fantastik möchte ich meine damalige Kernaussage auch nach all den Jahren aufrechterhalten, fußend auf einer Lesart der Fantastik als eine Kulturform des Möglichen: »It can also be a powerful tool to achieve self-knowledge and freedom as an aware, self-sufficient subject ready to engage in successful social relationships« (46). Wenn wir Fantastik jenseits von profitgetriebenen Marktmechanismen und engen, starren Genrekonventionen und Publikumserwartungen denken, die alle notwendigerweise zu einer Fossilisierung des Bestehenden führen, dann wird sie zu einem zugänglichen und wirkungsmächtigen Werkzeug, um Grenzen auszuloten und zu verschieben, neue Wege und Sichtweisen zu eröffnen und schließlich ethisch reflektiert neue Wirklichkeiten aus den bestehenden herauszuschaffen.

In diesem Sinne sehe ich mich persönlich primär als Fantastikforscher, und diese Lesart hat bei mir auch zu einer zunehmenden Verschiebung meiner Aufmerksamkeit und meines Forschungsinteresses weg von linearen Medien (Buch, Film, TV, Comics) und hin zu dynamischen, ludischen Medien geführt, in denen ich die Erkundung eines Möglichkeitsraumes in noch komplexerer Art und unter Einbeziehung der Interaktion zwischen Designer*innen, Spielenden und virtuellen Welten verwirklicht sehe. Aus diesem generellen Fokus sind für mich besonders (derzeit höchst relevante) Fragen der Repräsentation und der Teilhabe, der Ethik und der Citizenship erwachsen, die ich wiederum in nicht-ludische Medien zurückspiele. Innerhalb meiner Mutterdisziplin – ich bin ja immer noch Anglist/Französist und muss im Universitätsbetrieb auch traditionelle Felder bedienen – konnte ich mich durch institutionelle Freiräume gut als Fantastikforscher etablieren, und es haben sich lebhafte und kreative Wechselbeziehungen und Kooperationen mit meinen in herkömmlichen Feldern arbeitenden Kolleg*innen ergeben und verfestigt. Besonders bewährt hat es sich, den Zugang zu Klassikern der englischsprachigen Literatur und Kultur über die Fantastik und die Populärkultur der Gegenwart anzubieten. Durch die Massenmedien sind die Studierenden mit vielen Inhalten und Motiven ja bereits vertraut, ohne deren Ursprünge oder frühere Bearbeitungen zu kennen, und so werden unsere Seminare oft zu spannenden Entdeckungsreisen für sie und mich, in denen wir unsere Denkräume entsprechend gegenseitig erweitern können.

Die Gesellschaft für Fantastikforschung war dabei über die Jahre hinweg meine zentrale akademische Heimat und das Zusammentreffen bei der Jahrestagung nicht nur beruflicher Fixpunkt, sondern auch immer so etwas wie ein intellektuelles Familientreffen. Die großartige Arbeit, die über die Jahre hinweg von Lars und den Vorstandsteams geleistet wurde, hat nicht nur die 2010 selbst gesteckten Ziele weitgehend erreicht, sie hat der Fantastikforschung in Europa auch ein Gesicht und eine Stimme gegeben. Heute reichen unsere Netzwerke weit über den ursprünglichen Raum hinaus, und als ich die Gelegenheit hatte, meinen Teil zum Gedeihen unserer Gesellschaft zu leisten, habe ich die internationale Vernetzung jenseits des deutschsprachigen Raumes auch als Chance wahrgenommen, tatsächlich zu einer gesamteuropäischen Gesellschaft für Fantastikforschung zu wachsen. Die Jahre der Pandemie haben es uns leider unmöglich gemacht, uns physisch zu begegnen – dabei war der menschliche Faktor, gestützt auf die akademische Qualität unserer Arbeit, meiner Meinung nach immer schon das Geheimnis unseres Erfolges. Die Jahrestagung 2022 war unser erstes persönliches Zusammentreffen seit dem 10-Jahre-Jubiläum 2020, und von dort sind sicher wieder neue Impulse der Fantastikforschung ausgegangen, hat sich unser Netzwerk erweitert.

Wie eingangs erwähnt, könnte es wohl keine bessere Zeit für unser verstärktes Hineinwirken in die Gesellschaft und die akademische Landschaft geben, da die Fantastik in ihren mannigfaltigen Formen inzwischen fast schon zum bestimmenden Modus kulturellen Schaffens und Produzierens geworden ist. Wer könnte besser als erklärende, reflektierende, wenn nötig auch mahnende Stimmen in der kritischen Auseinandersetzung mit der Flut an fantastischen Medieninhalten fungieren als die Mitglieder der GFF? Die Kompetenzen, die wir über die Jahre hinweg als Individuen und vernetzt im Kollektiv entwickelt haben, werden jetzt so sehr gebraucht wie selten zuvor: Wir haben die theoretische Kompetenz, die Medienkompetenz, wir haben das Textrepertoire und einen Katalog an wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die es uns erlauben, als glaubhafte und verlässliche Vermittler*innen zwischen Gesellschaft, Kulturindustrien und Bildungsinstitutionen aufzutreten. In diesen Bereichen sehe ich als derzeitiger Vorsitzender der GFF unsere Kernaufgaben. Wir können Entwicklungen und Verbindungen verständlich machen, Ängste mindern, Menschen zusammenführen.

Wenn Kinos, Buchhandlungen, Streamingdienste und Spieleplattformen von Dystopien überschwemmt werden, dann können wir nicht nur dieses Phänomen fundiert erklären, sondern auch bis auf die Ebene einzelner Artefakte hinunter interpretative Kompetenzen vermitteln und Zusammenhänge kritisch beleuchten. Wenn Marvel mit seinem Cinematic Universe jahrelang die westliche Filmwirtschaft dominiert und sich Streamingdienste mit Milliardenbudgets in einer Renaissance der Fantasy zu überbieten versuchen, dann sind es die Fantastikforscher*innen der GFF, die Potentiale und Gefahren auf kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Ebene ausloten. Wenn Serien wie Stranger Things (US 2016–, Idee: Matt Duffer und Ross Duffer) zu massenkulturellen Phänomenen und Echokammern der Nostalgie werden, dann sind es die akademisch geschulten und gleichzeitig auch durch ihre Offenheit zugänglichen und allgemein verständlichen Mitglieder der GFF, die erfolgreich differenzierte Lesarten und bewussten Genuss vermitteln. Hier ergibt sich auch für mich persönlich die Überschneidung zwischen meiner individuellen Perspektive als Fantastikforscher einerseits und Vorsitzender der Gesellschaft für Fantastikforschung andererseits: Dem derzeitigen Vorstand ist es ein zentrales Anliegen, auf den Errungenschaften unserer Vorgänger*innen aufbauend die GFF weiterhin zu einem attraktiven und aktiven europäischen Netzwerk und Kompetenzzentrum für eine kritische Auseinandersetzung mit der Fantastik zu entwickeln, auf globaler Augenhöhe mit etablierteren und akzeptierteren Formen kulturellen Ausdrucks in unseren Mutterdisziplinen.

Ursula Le Guin hat einmal die Fantasy als Gegenkraft zu den Alpträumen der Politiker*innen dargestellt (zit. in Wood 1), weil sie wirkungsmächtig bestehende Strukturen hinterfragen und – für die Herrschenden bedenklich – andere Möglichkeiten aufzeigen kann. Umgekehrt formuliert sehe ich die Fantastik lieber als die Träume verantwortungsvoller und kritischer Bürger*innen. In der differenzierten, fundierten und respektvollen Auseinandersetzung mit diesen Träumen und der gesellschaftlichen Vermittlung ihrer Inhalte und Ideen liegt für mich die Rolle der Fantastikforschung und damit auch die Rolle der GFF als Organisation und Gemeinschaft von Forschenden und Lehrenden.

Autor

René Reinhold Schallegger studierte Anglistik, Amerikanistik und Französisch mit dem Schwerpunkt Literatur- und Kulturkritik an der Universität Klagenfurt (Österreich) und der Anglia Ruskin University (Cambridge/UK). Nach einem Forschungsaufenthalt an der Birmingham City University (Birmingham/UK) für seine Habilitationsschrift Choices and Consequences: Videogames, Virtual Ethics, and Cyber-Citizenship ist er derzeit Assoc.-Prof. für British, Canadian und Game Studies an der Universität Klagenfurt. Seine jüngsten Veröffentlichungen sind »Only Human After All? – Das überraschende (und vermeidbare) Scheitern von Mass Effect: Andromeda« (Zeitschrift für Kanada-Studien 70, 2020), »Virtual Voices in the Wilderness? – The Media Ecology of Videogames in Canada« (in A. Boller, A. Krewani, and M. Kuester (Hg.): Canadian Ecologies Beyond Environmentalism – Culture, Media, Art, Ethnicities, 2020), und »Light My (Camp-)Fire: Affect and Incitement in Firewatch« (in L. Joyce und V. Navarro-Remesal (Hg.): Culture at Play – How Video Games Influence and Replicate Our World, 2021).

Phantastikforschung – Beruf, Berufung oder pures Glück? Bericht eines Vertreters der »Pionier-Generation«

Dieter Petzold

Der Begriff »Pionier-Generation« taucht in der Mail auf, mit der ich um einen Beitrag für die vorliegende Nummer der Zeitschrift für Fantastikforschung gebeten wurde. Ob er berechtigt ist, ob er auf mich zutrifft, und ob es sich dabei vielleicht gar um einen Ehrentitel handelt, mögen die Leser*innen der folgenden sehr persönlichen Erinnerungen selbst entscheiden.

Wie bin ich zur Phantastikforschung gekommen?

Da muss ich ziemlich weit zurückblicken, denn vor der Forschung steht ja erst einmal das Interesse. Und das wurde wohl schon von meiner Mutter geweckt, die (was für eine Angehörige der Arbeiterklasse in der Nachkriegszeit schon bemerkenswert ist) einen Zug zur Romantik hatte und mir Märchen nicht etwa nur vorlas, sondern mit ihren eigenen Worten lebhaft erzählte. Tatsächlich könnte man meinen Weg zur Phantastik auch als eine Abfolge von phantastischen Glücksfällen betrachten.

Der nächste glückliche Zufall kam ins Spiel, als ich mein Anglistik- und Germanistikstudium an der Universität Würzburg begann. In der Germanistik gab es die Unterabteilung »Volkskunde«, und so finden sich in meinem Studienbuch fürs 1. und 2. Fachsemester auch zwei Vorlesungen über »Die Legende« und »Die Sage«. Man sieht: Ganz so tabu war die akademische Beschäftigung mit phantastischer Literatur auch in den 1960er-Jahren nicht; schließlich kamen da ja Vorlesungen zu »Walther von der Vogelweide« und »Epik des Spätmittelalters« hinzu und später in Erlangen Lehrveranstaltungen zu »Wolfram von Eschenbach«, »Tristan und Isolde«, »Märchen der Romantik« – und natürlich zu Shakespeare …

Wozu dieses Vorspiel? Um daran zu erinnern, dass die Literatur seit ihren frühesten Überlieferungen, vom Gilgamesh-Epos über Homer und Vergil, die mittelalterliche Epik, Dante, Spenser und Milton usw. sich ja noch nie mit der Abbildung banaler Erfahrungswirklichkeit begnügte. Ob man all diese Fiktionstexte unter den Begriff ›Phantastik‹ zusammenfassen darf, ist eine der spannenden akademischen Fragen, die in den letzten dreißig Jahren immer wieder diskutiert worden ist (auch von mir) und die wohl trotzdem nie abschließend beantwortet werden wird. In den Geisteswissenschaften haben wir es nun einmal nicht mit lupenrein definierten Begriffen zu tun.

Also kehren wir zum persönlichen Erfahrungsbericht zurück. Als nächster Glücksfall ist die Tatsache anzusehen, dass mein akademischer Betreuer in Erlangen, Professor Erwin Wolff, mir viel Freiheit ließ: bei der Suche nach einem Thema für die Zulassungsarbeit, bei der Ausweitung derselben zur Dissertation, bei der Themenwahl für die Habilitationsschrift und bei den eigenen Lehrveranstaltungen.

Dass mir beim Herumstöbern in der Institutsbibliothek ausgerechnet Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland (1856) in die Hände fiel, ist wiederum ein glücklicher Zufall: Gegenstand des regulären Studiums waren dergleichen Texte jedenfalls nicht. Aber zum Glück ließ die Studienordnung einem eifrigen Studenten damals noch genügend Zeit, auch mal einfach ein paar Bücher in die Hand zu nehmen, zu deren Lektüre er nicht verpflichtet war. Dass Carrolls phantastische Geschichte in der angeblich so staubtrockenen viktorianischen Zeit so ein Riesenerfolg war, kam mir erstaunlich genug vor – richtig spannend aber war die Frage, die sich mir daraufhin stellte: Gab es von dieser so ganz und gar nicht ›realistischen‹ Nonsense-Literatur damals eigentlich noch mehr? Edward Lear war schnell gefunden, aber meine anschließenden Forschungen an der British Library in London förderten tatsächlich noch eine Menge weiterer Texte zutage, die in der Zwischenzeit völlig in Vergessenheit geraten waren, und so erschloss meine Dissertation mit dem Titel Formen und Funktionen der englischen Nonsense-Dichtung im 19. Jahrhundert, so möchte ich frech immer noch behaupten, 1972 in mancher Hinsicht tatsächlich Neuland.

Phantastisches (und weitere Glücksfälle) im Universitätsbetrieb

Dass das Erlanger Institut für Anglistik und Amerikanistik (pardon, damals hieß es noch Seminar für Englische Philologie) dringend Personal für sprachwissenschaftliche Grundkurse brauchte, mich dafür einsetzte und mir trotzdem die Option ließ, meine literaturwissenschaftlichen Forschungen weiterzuführen, ist der nächste Glücksfall. Und ebenso, dass ich nach der Promotion als frischgebackener Wissenschaftlicher Assistent bei der Wahl meiner Proseminar-Themen viel Freiheit hatte und in den 1970er-Jahren meine Student*innen nicht nur über Shakespeare, Dickens und Shaw, sondern auch über Nonsense-Literatur, Utopie und Satire bei More, Swift und Butler, englische Volks- und Kunstballaden und moderne Anti-Utopien aufklären durfte. Nicht zu vergessen ein Proseminar zur englischen Kinderliteratur im Sommersemester 1975 – ein Nebenprodukt meiner Forschungen für die Habilitationsschrift über das englische Kunstmärchen im 19. Jahrhundert, bei denen ich erneut das Gefühl hatte, Neuland zu betreten. In der Germanistik waren die »Kunstmärchen« der Romantiker (Novalis, Tieck, Fouqué, Hoffmann, Brentano, Hauff etc. etc.) ja schon lange ein ganz großes Thema – aber gab es so etwas eigentlich auch in der englischen Literatur des 19. Jahrhunderts? Auch hier war die einschlägige Sekundärliteratur äußerst dünn, und wieder konnte ich, dank eines DFG-Forschungsstipendiums – dass man bei der DGF ein so abseitiges Thema für förderungswürdig hielt, war noch so ein Glücksfall – der British Library eine ganze Menge phantastischer Geschichten entlocken.

Bei der Publikation der Habilitationsschrift hielt ich noch an der klassischen Bezeichnung ›Kunstmärchen‹ fest, aber im Verlauf meiner Recherchen begann sich schon der Begriff ›Fantasy‹ zu etablieren.3 Im Übrigen entdeckte ich während meiner Studien, dass die Tradition des Erfindens von ›Märchen‹ im 20. Jahrhundert munter weiterging, ja überhaupt erst so richtig Schwung aufnahm. Die Habilitationsschrift wäre damit zu umfangreich geworden; auch so brauchte der Verlag eine ganze Weile für die Produktion des Buches, und so kam es, dass mein Büchlein J. R. R. Tolkien: Fantasy Literature als Wunscherfüllung und Weltdeutung (gewidmet »meinen wackeren Mitstreitern vom Hauptseminar SS 1979«) sogar noch ein Jahr vor der Habilitationsschrift erschien, nämlich 1980.

Dass sich bei all diesen Tätigkeiten ein weiteres Forschungsgebiet auftat, nämlich das der Kinder- und Jugendliteratur, war dabei schier unvermeidlich: Schließlich überlagern sich die beiden Bereiche mindestens seit dem späten 18. Jahrhundert großflächig, und mindestens seit dem Erscheinen der Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm gelten Kinder weithin als das Publikum für Märchen und dergleichen. Wobei sich auch hier bei genauerem Hinsehen die Begrifflichkeit als problematisch erweist: Definiert sich die Kinderliteratur über den vom Autor (oder seinem Verleger) intendierten Leser? Was ist dann, wenn sich die tatsächliche Leserschaft von solchen Einschränkungen nicht beeindrucken lässt? Man denke nur an die großen Fantasy-Klassiker Alice’s Adventures in Wonderland, Peter Pan (1904), The Wind in the Willows (1908), The Hobbit (1937), die Harry-Potter-Reihe – alles all-age literature.

Dass solche ›entlegenen‹ Texte im Laufe der 1970er-Jahre immer mehr ins Blickfeld der Literaturwissenschaft gelangten, ist Teil eines noch viel größeren Umbruchs, der sich in diesen Jahren unter dem Dachbegriff ›Literaturtheorie‹ vollzog. Er kann und soll hier natürlich nicht näher beschrieben werden; es mag genügen, einige einschlägige Forschungsrichtungen und -begriffe zu benennen, wie z. B. Rezeptionsästhetik, Literaturpsychologie, Literatursoziologie, New Historicism, Strukturalismus, Poststrukturalismus usw. Unter den zahlreichen einschlägigen knallroten UTB-Bänden, die noch immer mein Bücherregal zieren, befinden sich auch etliche Auflagen der Einführung in das Studium der englischen Literatur (ab 1974), die ich zusammen mit einigen etwas älteren Kollegen gestalten durfte (dass wir in Erlangen einen recht breiten Mittelbau ohne Konkurrenzdruck hatten, ist noch so ein Glücksfall) und die von der vierten Auflage an auch ein Kapitel von mir über nicht-mimetische Erzählformen enthielt. Außerdem entwickelte einer meiner Kollegen, Eberhard Späth, ein lebhaftes Interesse an Unterhaltungsliteratur (ein Begriff, der die im Bildungsbürgertum etablierte, wertende Unterscheidung zwischen ›ernster‹ und ›leichter‹ oder gar ›seichter‹ Literatur mit sich herumschleppt – und der schwammig genug ist, um sowohl Krimis als auch Phantastik und Kinderliteratur aufzusaugen) und veranstaltete zusammen mit mir vom Ende der 1980er-Jahre an insgesamt drei Tagungen in Erlangen, bei denen es neben theoretischen Überlegungen vor allem um Krimis, aber auch um Formen der phantastischen Literatur ging.4

Doch kehren wir nach diesem Vorgriff in die frühen 1980er-Jahre zurück. Der nächste zu erwähnende Glücksfall betrifft weit mehr als nur meine Forschungsinteressen, aber eben auch diese. Die Rede ist von einem privat organisierten Dozentenaustausch, der es mir ermöglichte, ein ganzes Jahr lang an der renommierten University of North Carolina in Chapel Hill zu unterrichten und zu forschen. Dem riesigen English Department war eine Folklore-Abteilung angeschlossen, die mich mit offenen Armen aufnahm und mich ermunterte, im Herbst 1983 den Kurs English 195: English Fairy Tales and Legends anzubieten. Schon zu dieser Zeit fieberte die journalistisch/akademische Öffentlichkeit des ganzen Landes dem Jahr 1984 entgegen und damit der Frage, wie sich George Orwells dystopische Visionen zur realen Weltsituation verhielten. Ich durfte mit einem öffentlichen Vortrag meinen Beitrag dazu leisten und in der Folge auch einige wissenschaftliche Konferenzen besuchen. Bei der wichtigsten, der Fifth International Conference on the Fantastic in Literature and the Arts, die Ende März 1984 in Boca Raton (Florida) stattfand, gab ich zwar nur einen Ausschnitt aus meiner Habilitationsschrift zum Besten; wichtiger im Rückblick war das Erlebnis einer so großen Organisation, die sich Gastredner wie Leslie Fiedler und Stephen King leisten konnte.

Die Existenz solcher wissenschaftlichen Vereinigungen wie der International Association for the Fantastic in the Arts (gegründet 1979) ließ keinen Zweifel mehr zu: Fantastikforschung war ›in‹. Ob dies auch für die akademische Welt in Deutschland galt, schien mir allerdings noch etwas zweifelhaft, als mein Vortrag über »Fantasy Fiction and Related Genres« beim Anglistentag 1985 ganz in die letzte zeitliche Ecke gedrängt und danach auch nicht im Tagungsband publiziert wurde.

Macht nichts, ich brachte ihn anschließend in den renommierten Modern Fiction Studies unter; und außerdem hatte ich inzwischen eine Einladung zum Beitritt in die Deutsche Inklings-Gesellschaft erhalten, die ein neues Kapitel in meiner Entwicklung zum Fantastik-Spezialisten eröffnete.

Fantastik-Fans, Vorträge und Veröffentlichungen, und akademischer Alltag

Dieses Kapitel über die weitere Entwicklung umfasst beinahe vierzig Jahre, dennoch kann ich mich nun kurz fassen, denn im Verlauf dieser Zeit hat die Phantastikforschung (jedenfalls in meiner Wahrnehmung) den Ruch des Außergewöhnlichen, der ›Spinnerei‹, mehr und mehr verloren. Das hängt natürlich vor allem mit der zunehmenden Popularität der Werke von Tolkien & Co. zusammen, die nach und nach zu einem Anwachsen von einschlägiger Sekundärliteratur führte und zum Entstehen von literarischen Gesellschaften zu diesem Themenbereich, auch in Deutschland. Die erste dieser Art war wohl der Science Fiction Club Deutschland, gegründet 1955; mit einigem zeitlichen Abstand folgten diesem der Deutsche Fantasy Club (1978) und die Inklings-Gesellschaft für Literatur und Ästhetik (1983). Mit ihrem hybriden Charakter (halb wissenschaftliche Gesellschaft, halb Fan-Club) nahmen diese in der Landschaft der altehrwürdigen etablierten literarischen Gesellschaften, die sich schon seit dem 19. Jahrhundert dem Studium der großen Klassiker gewidmet hatten (die erste war übrigens die Deutsche Shakespeare-Gesellschaft, gegründet 1864) freilich eine etwas zweifelhafte Sonderstellung ein.

Mit Abstrichen gilt diese Charakterisierung auch für die Inklings-Gesellschaft, die für mich ein wesentliches Betätigungsfeld werden sollte. Im Jahr 1983 von dem überaus rührigen Gymnasialprofessor und (Privat-)Gelehrten Dr. Gisbert Kranz in Aachen gegründet, widmete sie sich einerseits, dem ersten Teil ihres Namens entsprechend, dem Studium der Werke der Inklings-Autoren, daneben aber auch, laut Selbstdarstellung im Internet, »der Analyse des Phantastischen in Literatur, Film und Kunst allgemein« (s. Anm. 5). Jemandem wie mir, der den religiös gefärbten Fantastereien von Tolkien, Lewis, Sayers, Williams und ihren Vorläufern MacDonald und Chesterton mit großem Interesse, aber auch einer gewissen Distanz gegenüberstand, war diese Offenheit der Gesellschaft wichtig, die sich auch in den weitgespannten Interessen der vielen Mitglieder, die ich nach meinem Eintritt kennenlernen konnte, manifestierte.

Das Changieren zwischen Fan-Interessen und dem Anspruch auf wissenschaftliche Seriosität kann jeder unschwer erkennen, der eine der frühen Inklings-Jahrbücher in die Hand nimmt – was für viele Interessenten allerdings nicht ganz einfach sein mag, da nur wenige Universitätsbibliotheken Inklings-Jahrbücher besitzen.5 So enthalten z. B. die Bände 3 und 4 neben wissenschaftlichen Aufsätzen auch Übersetzungen von Dichtungen und Texten von Charles Williams und George MacDonald aus der Feder von Gisbert Kranz und Berichte über den Stand der Tolkien-Rezeption in verschiedenen europäischen Ländern und einen Bericht über die Verleihung der Inklings-Medaille an den österreichischen Fantasy-Autor Peter Marginter. Zugleich richtete sich die Inklings-Gesellschaft dezidiert international aus, sowohl was die behandelten Autoren und Werke betrifft als auch hinsichtlich ihrer Mitglieder. Besonders deutlich zeigte sich dies 1992 beim Internationalen Tolkien-Symposion zu Aachen, bei dem 15 Beiträger*innen aus neun Ländern Vorträge hielten.

Mein eigener Beitrag zu dieser Tagung ist auch im Kontext dieses Rückblicks nicht uninteressant, denn er beschäftigt sich mit »Zwölf Jahre[n] Tolkien-Rezeption in Deutschland, 1980–1991«. U. a. stellte ich damals fest, dass in diesem Zeitraum lediglich zwei Aufsätze zu Tolkien »in etablierten anglistischen bzw. allgemein-literaturwissenschaftlichen Fachzeitschriften erschienen sind« (246).6 Ansonsten aber, so mein damaliger Befund, fand die Tolkien-Forschung ganz überwiegend über das Inklings-Jahrbuch und, in geringerem Maß, die Zeitschrift Fantasia des Ersten Deutschen Fantasy Clubs den Weg in eine (sicherlich sehr eng begrenzte) Öffentlichkeit. Immerhin gab es aber auch bereits vier Dissertationen zum Thema ›Fantasy‹.7

Auch die wissenschaftlichen Verlage verhielten sich nach meiner Erfahrung eher zögerlich gegenüber den neuen Entwicklungen. So beantwortete z. B. der Schwann Bagel Verlag 1987 meinen Vorschlag, seinen Bänden über die Utopie und die Science Fiction in der angloamerikanischen Literatur (1984 und 1986) einen ähnlichen zur Fantasy-Literatur folgen zu lassen, nur hinhaltend und schließlich ablehnend. Was im Übrigen den Eindruck verstärkt, dass zu dieser Zeit die deutlicher zeitkritisch motivierten Formen der Phantastik im wissenschaftlichen Bewusstsein der Zeit besser etabliert waren als die allzu sehr nach ›bloßer‹ Unterhaltung riechende Fantasy Fiction.

Dass sich diese Atmosphäre im Verlauf der 1990er-Jahre allmählich änderte, muss hier nicht im Detail gezeigt werden. Ein Beleg dafür ist die Einladung der Redaktion der Zeitschrift anglistik & englischunterricht an mich, einen Band über Fantasy in Film und Literatur herauszugeben (er erschien 1996). Und so regte sich auch kein Protest unter den Inklings-Mitgliedern, als ich nach meiner Übernahme der Herausgeberschaft des Jahrbuchs von 1993 an Stück für Stück bemüht war, das Jahrbuch stärker an die bei anderen wissenschaftlichen Zeitschriften üblichen Prinzipien und Regeln anzupassen. Dass ich in den mehr als 25 Jahren Herausgebertätigkeit mit vielen hochinteressanten Forscher*innen aus der ganzen Welt in Kontakt kam und mit unzähligen Aufsätzen zu den unterschiedlichsten Formen von Phantastik, sehe ich im Rückblick als einen weiteren Glücksfall – auch wenn dabei jede Menge ganz un-phantastischer Basisarbeit anfiel, von Argumentationskritik über Stil- und Grammatikfragen und Kontrolle von Quellenverweisen bis hin zu Rechtschreibung und Interpunktion. Und dass ich hierfür, zumindest während meiner aktiven Uni-Zeit, auf die Unterstützung durch studentische Hilfskräfte zurückgreifen durfte, ist der letzte zu erwähnende Glücksfall – nicht nur für mich, sondern (so hoffe ich) auch für die Hilfskräfte, die auf diese Weise nicht nur mit den verschiedensten Arten von phantastischer Literatur in Berührung kamen, sondern auch das ABC des wissenschaftlichen Arbeitens lernten und für ihre eigenen Phantastik-Forschungen (bis hin zu Dissertationen und anderen selbständigen Veröffentlichungen) nutzen konnten.

Schlussbetrachtung

Zu meinen weiteren wissenschaftlichen Tätigkeiten bleibt hier nicht viel zu erwähnen: Beitritte zu weiteren wissenschaftlichen Gesellschaften (Deutscher Anglistentag, Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendliteraturforschung, Children’s Literature Association, International Research Society for Children’s Literature), Teilnahme an (und gelegentlich auch Organisation von) Konferenzen im In- und Ausland, Publikationen in diversen Zeitschriften und Sammelbänden, (mehr und mehr auch auf Einladung der Veranstalter bzw. Herausgeber) und natürlich Lehrveranstaltungen. Wobei es in all diesen Bereichen vorwiegend, aber nicht ausschließlich, um fantastische Literatur ging.

Bleibt die Kernfrage: Bin ich denn nun tatsächlich so etwas wie ein Pionier der Phantastikforschung? Die Antwort kann nur ein donnerndes »Naja!« sein. Wie mein kurzer Bericht erkennen lässt, habe ich mich während meines ganzen akademischen Lebens mit Phantastik beschäftigt, was zumindest in der Anfangsphase im akademischen Betrieb in der Tat etwas Außergewöhnliches war – aber niemals ausschließlich damit. Insbesondere in der akademischen Lehre habe ich ständig auch große Teile des etablierten englischsprachigen Kanons zu vermitteln versucht. Weit wichtiger noch: Ich habe mich weitgehend (und weise?) auf die Literaturwissenschaft beschränkt und die anderen riesigen Felder der Phantastik lediglich aus der Ferne wahrgenommen. Wie viele es davon gibt – von der Bildenden Kunst über Architektur, Film, Comics/Graphic Novels, Rollen- und Computerspiele bis zu Design und Mode – mag der interessierte Leser z.B. dem »interdisziplinären Handbuch« Phantastik entnehmen, das von Hans Richard Brittnacher und meinem früheren Hauptseminar-Studenten Markus May 2013 herausgegeben wurde.

Ob Phantastik jemals als ein fest umrissenes Forschungs- oder gar Studienfach etabliert werden wird? Gut möglich, dass es dazu nicht einer stringenten Definition des Begriffes bedarf. Doch innerhalb des Hochschulbetriebs, scheint mir, wird es wohl immer nur als ein Schwerpunkt innerhalb eines größeren Bereichs (Literatur-, Kultur-, Theaterwissenschaft etc.) existieren können. Nur ein/e Privatgelehrte/r ohne jegliche Verpflichtungen könnte sich ausschließlich in diesem riesigen Gebiet8 ohne jegliche Beschränkungen bewegen – ohne es freilich jemals in seiner Gänze zu durchdringen, denn dafür reicht ein menschliches Leben nicht aus. Und er/sie wird gut aufpassen müssen, damit es ihm/ihr dabei nicht schlimmer ergeht als Hänsel und Gretel im großen finsteren Wald …

Autor

Dieter Petzold (Jg. 1945) studierte Anglistik und Germanistik in Würzburg, Amherst College (USA) und Erlangen. Er lehrte bis Herbst 2007 englische Literatur an der Universität Erlangen-Nürnberg; zwischenzeitlich außerdem als Gastprofessor an der University of North Carolina at Chapel Hill (1983–84) und an der University of British Columbia at Vancouver (1992–93). Buchveröffentlichungen zur englischen Nonsens-Literatur des 19. Jahrhunderts (1972), zum englischen Kunstmärchen im 19. Jahrhundert (1981), zu Robinson Crusoe (1982) und zu J. R. R. Tolkien (1980 und 2003). Herausgeber diverser Sammelbände sowie, von 1996 bis 2020, des Inklings-Jahrbuchs. Zahlreiche Fachartikel, vor allem zu verschiedenen Gattungen der fantastischen Literatur und zur Kinderliteratur.

Science Fiction Studies an der UC Riverside

Sherryl Vint

Das Speculative Fictions and Cultures of Science Program (SFCS) an der UC Riverside (UCR) hat seinen Ursprung in der Eaton Collection, dem größten Science-Fiction-Archiv der Welt, das seit Ende der 1960er-Jahre auf unserem Campus beheimatet ist. Diese Sammlung zieht seit jeher Forscher:innen an, die auf dem Gebiet der SF tätig sind – unter anderem auch mich, bevor ich meine Stelle hier antrat. Allerdings gab es lange keinen dezidierten Arbeitsbereich für die Erforschung von SF respektive dem weiteren Feld der Speculative Fiction. Vor rund einem Jahrzehnt entschied sich der damalige Dekan des College of Humanities and Social Sciences (CHASS) schließlich dazu, Wissenschaftler:innen aus dem Bereich der Science Fiction Studies anzustellen. Dies geschah mit dem erklärten Ziel, auf akademischer Ebene eine Expertise zu entwickeln, die der Führungsrolle der UCR im Archivbereich entspricht.

Obwohl die Eaton Collection Forschenden seit mehr als fünfzig Jahren offensteht, werden SF und verwandte Genres an nordamerikanischen Hochschulen erst seit etwa zwanzig Jahren breit unterrichtet. Nach wie vor bieten zwar nur wenige Universitäten spezialisierte SF-Studiengänge an, fast überall kann man nun aber Kurse belegen, die Speculative Fiction als eine zentrale Form zeitgenössischen Kulturschaffens verstehen. Tatsächlich ist die Hinwendung zur Speculative Fiction insgesamt eine relativ neue Erscheinung. Der Zeitpunkt, an dem man sich an der UCR dazu entschied, diesen Bereich aufzubauen, ist somit einerseits Ausdruck einer größeren Verschiebung in der akademischen Kultur Nordamerikas, anderseits aber auch der Weitsicht unseres CHASS-Dekans zu verdanken, die spezifischen Stärken unserer Universität zu nutzen. Mit dem Einzug kontinentaler und insbesondere französischer Philosophie – im angelsächsischen Raum oft einfach unter dem Label »theory« zusammengefasst – in die nordamerikanischen Geisteswissenschaften hat sich das Studium und die Erforschung von Literatur an den Anglistik-Instituten (und damit meiner Heimdisziplin) mehr und mehr verschoben; von der textimmanenten Analyse zu Fragen des kulturellen Einflusses von Texten sowie Untersuchungen dazu, wie sich in diesen unsere Vorstellungen von sozialer Organisation, geschlechtlicher, sexueller und ethnischer Identität und ähnlichem ausdrücken. Im Zuge dieses Umbruchs weichte auch die Grenze zwischen vermeintlicher Hoch- und Populärkultur, die bislang das Erforschen von Genre-Werken insgesamt erschwert hatte, zusehends auf und wurde schließlich vollends hinfällig. Was ich damit sagen will, ist, dass die breitere Akzeptanz von Speculative Fiction nicht nur die Folge einer größeren Offenheit gegenüber verschiedenen stilistischen Traditionen ist, sondern vor allem daraus folgt, dass wir mit neuen Fragen an Texte herantreten. Unsere Rolle als Wissenschaftler:innen besteht immer weniger darin, die künstlerische Qualität eines Textes offenzulegen; vielmehr untersuchen wir ihn darauf hin, wie sich in ihm die politischen und ideologischen Bedingungen unseres Alltags ausdrücken und zugleich auch von ihm kritisch reflektiert werden. Das bedeutet im Umkehrschluss freilich nicht, dass keine Beispiele für Speculative Fiction existieren, die es verdienten, als Kunstwerke gewürdigt zu werden (auch wenn in manchen geisteswissenschaftlichen Enklaven immer noch das Vorurteil herrscht, mimetische Literatur sei genuin ernsthafter). Aber ich möchte hier vor allem betonen, dass die breite Akzeptanz von Speculative Fiction das Ergebnis zweier unterschiedlicher Entwicklungen ist; die eine hängt mit einer Erweiterung des Kanons zusammen, also dem Material, das von der Literaturwissenschaft und verwandten Disziplinen überhaupt als einer Untersuchung würdig erachtet wird, die andere mit veränderten Ansätzen und Methoden in der Literaturwissenschaft und den Geisteswissenschaften im Allgemeinen.

Insbesondere die zweite Verschiebung ist in meinen Augen maßgeblich dafür verantwortlich, dass SF und verwandte Genres heute breit akzeptiert werden. Die ästhetischen Konventionen von Speculative Fiction machen diese zu einem idealen Genre, um die spezifischen Erfahrungen und Herausforderungen unserer Gegenwart zu reflektieren – vom Klimawandel über die Auswirkungen von Biotechnologie und Robotik auf unser Leben bis zu einer weit verbreiteten Sorge um die Zukunft, die sowohl den politischen wie auch den künstlerischen Diskurs antreibt, was sich unter anderem in der Etablierung von Studiengängen wie Innovation Studies und Futury Studies zeigt. Je mehr sich die Wissenschaft neuen medialen Formen wie Games, digitalen Medien und Jugendliteratur (im englischen »YA literature«) zuwendet, umso deutlicher zeigt sich, wie wichtig SF-Themen und -Settings für diese Bereiche sind.

Der Name des Speculative-Fictions-and-Cultures-of-Science-Programms soll diesem Kontext Rechnung tragen. Auf unserer Website beschreiben wir unser Vorhaben folgendermaßen:

Das SFCS-Programm beschäftigt sich mit der Schnittstelle zwischen Speculative Fiction, Science and Technology Studies (STS) und Traditionen spekulativen Denkens. Wir untersuchen die allgegenwärtige Rolle spekulativer Diskurse in der öffentlichen Kultur sowie den komplexen gegenseitigen Austausch zwischen futuristischem Denken, Forschungsprogrammen, politischen Entscheidungen, medialen Erscheinungen und dem Alltagsleben in hochtechnologischen Gesellschaften. Die Zusammenschau von Kulturwissenschaften und STS soll den Studierenden dabei helfen, kritische Fähigkeiten in einer medial geprägten Gesellschaft zu entwickeln und so die ihr zugrundeliegenden Vorstellungen von Wissenschaft und Zukunft zu verstehen. Der Dialog zwischen Speculative Fiction und STS ermöglicht unseren Forschenden, sich auf den technischen Wandel in spezifischen Kontexten zu konzentrieren – etwa durch die Analyse von Texten und Praktiken, die auf die Art und Weise, wie Wissenschaft die kulturellen, materiellen und wirtschaftlichen Bedingungen unserer Gesellschaft prägt, reagieren, diese kritisieren und darauf aufbauen. Spekulatives Denken und Speculative Fiction sind für zahlreiche der drängendsten Forschungsfragen der Gegenwart von zentraler Bedeutung, z. B. für das Anthropozän, den Klimawandel, die Gentechnologie oder den Posthumanismus. Die Fähigkeit, die Zukunft zu beschreiben und damit auch zu gestalten, ist für soziale Bewegungen wie Black Lives Matter, dem Kampf um soziale Gerechtigkeit sowie Bemühungen um Nachhaltigkeit ebenfalls von herausragender Bedeutung.

Nachdem eine kritische Menge von Wissenschaftler:innen engagiert werden konnte sowie nach Rücksprache mit verschiedenen Kolleg:innen, die sich an der UCR in anderen Disziplinen bereits mit ähnlichen Fragen beschäftigten – selbst wenn dies nicht in einem spezifischen SF-Kontext geschah –, wurde das SFCS-Programm 2017 offiziell lanciert. Wir sind in der Anglistik angesiedelt, arbeiten aber eng mit Kolleg:innen aus anderen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen zusammen. Der Austausch mit Wissenschaftler:innen, die sich nicht primär als SF-Forschende verstehen, hat produktive Brückenschläge zu anderen Fachdisziplinen ermöglicht. Zum Beispiel rücken mittlerweile Forschende in Feldern wie den Indigenous oder Latinx Studies vermehrt spekulative Texte ins Zentrum, und umgekehrt mussten auch wir unsere Vorstellung von der Bandbreite der Texte, die wir in unser Fachgebiet einbeziehen, überdenken respektive erweitern.

Ein weiteres wichtiges Kapitel in der Geschichte unseres Programms ist eine Förderung, die uns 2015 zugesprochen wurde. Diese ermöglichte es uns, während eines Jahres unter dem Label »Alternative Futurism« eine Reihe von Podiumsdiskussionen, Konferenzen und ähnlichen Veranstaltungen mit geladenen Gästen auszurichten. Beim Zusammenstellen dieser Reihe waren wir darum bemüht, Praktiker:innen und Theoretiker:innen aus den unterschiedlichen Traditionen multikultureller Speculative Fiction, die zu dieser Zeit boomten, zusammenzubringen. Wir orientierten uns dabei am bereits etablierten Gebiet des Afrofuturismus. Unsere Veranstaltungen stellten vergleichbare Traditionen in indigenen, Latinx und asiatisch-amerikanischen Kulturen in den Vordergrund; alles Felder mit einer bedeutenden und stetig wachsenden SF-Produktion. Die Vertreter:innen dieser Traditionen machen sich die auffälligen Parallelen zwischen SF und utopischer Literatur zunutze, die sich in zahlreichen historischen Beispielen zeigen, bei denen sich aktivistische Gemeinschaften der SF bedienten, um die bestehende Gesellschaft zu kritisieren und Begeisterung für ihre Visionen einer besseren Welt zu wecken. Das florierende Feld der SF nährt sich somit einerseits aus utopischen Projekten, Bildern und Vorstellungen, derer sich frühere Generationen von Aktivist:innen bedienten; andererseits setzt es sich aber auch kritisch mit der Art und Weise auseinander, mit der Teile der SF in der Vergangenheit eine kolonialistische und westzentrierte Weltsicht gestützt haben.

Unser Programm hat zweifellos davon profitiert, dass Speculative Fiction zusehends in das Zentrum wissenschaftlichen Interesses rückt, vor allem aber trägt die innovative Forschung unserer Promovierenden dazu bei, unserem Feld neue Gebiete zu eröffnen. Deshalb beende ich diesen kurzen Beitrag mit den Titeln der Dissertationen einiger der jüngsten Absolvent:innen des Studiengangs, die hoffentlich einen Eindruck von der Lebendigkeit vermitteln, die ein Programm im Bereich der SF-Studien heute bieten kann.

Aktuelle und laufende Dissertationen umfassen

  • Stina Attebery, Refuse Ecologies: Indigenous Posthuman in Polluted Futures

  • Leslie Fernandez, Asiandroid: Techno-Orientalism and the Android Imaginary in Science Fiction

  • Jasmine Moore, Disaster and Possibility: Radical Reclamations of Time in Black Horror Aesthetics

  • Brittany Roberts, Being-With Ecological Ethics and the More-Than-Human Worlds of Russian and American Horror

  • Summer Sutton, Feral Creatures: Domestication, Conquest, and the Humanist Imaginary

  • Sang-Keun Yoo, Speculative Orientalism: Zen and Tao in American New Wave Science Fiction

 

Aus dem Englischen übersetzt von Simon Spiegel.

Autorin

Sherryl Vint ist Professorin für Media and Cultural Studies und Vorsitzende des Anglistik-Departments an der University of California, Riverside, wo sie das Programm Speculative Fictions and Cultures of Science leitet. Sie ist Mitbegründerin der Zeitschrift Science Fiction Film and Television und Mit-Herausgeberin der Science Fiction Studies sowie der Buch-Reihe Science in Popular Culture. Sie hat zahlreiche Publikation zu Science Fiction veröffentlicht, darunter zuletzt Biopolitical Futures in Twenty-First Century Speculative Fiction (2021) und Programming the Future: Speculative Television and the End of Democracy (2022, gemeinsam Jonathan Alexander).

Notes

  1. Siehe dazu Spiegel, »Wovon«. [^]
  2. Als Anglist beziehe ich mich hier auf den englischsprachigen Tagungsband, in dem auch mein Beitrag erschienen ist. Sein deutschsprachiger Schwesterband erschien unter dem Titel der Konferenz selbst, Fremde Welten: Wege und Räume der Fantastik im 21. Jahrhundert (2012). [^]
  3. Zeugnisse dafür sind vor allem: C. N. Manlove, Modern Fantasy (1975) und Stephen Prickett, Victorian Fantasy (1979). [^]
  4. Die Bände Unterhaltungsliteratur, Unterhaltung und Unterhaltungsliteratur der achtziger und neunziger Jahre legen davon Zeugnis ab. [^]
  5. Doch sind immerhin die Inhaltsverzeichnisse aller Inklings-Jahrbücher leicht auf der Homepage der Inklings-Gesellschaft zu finden (www.inklings-gesellschaft.de/?Jahrbuecher). [^]
  6. Nämlich von Raimund Borgmeier, in Anglia (1982), und von Wilfried Keutsch, in Literatur in Wissenschaft und Unterricht (1982). [^]
  7. Von Helmut W. Pesch, 1982; Hannspeter Bauer 1983; Marli Schütze, 1986; und Barbara Einhaus, 1986. [^]
  8. Das oben erwähnte Phantastik-Handbuch mag eine Ahnung von dessen Größe vermitteln. Wobei anzumerken bleibt, dass auch seine 65 Autoren auf über 600 Seiten nicht alle Bereiche abdecken – nicht einmal Donald Duck und die anderen Disney-Figuren, die Freunde aus meiner Kindheit, kommen darin vor … [^]

Konkurrierende Interessen

Simon Spiegel ist Mitherausgeber der Zeitschrift für Fantastikforschung. Die übrigen Autor:innen haben keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Filmografie

ALIEN (ALIEN – DAS UNHEIMLICHE WESEN AUS EINER FREMDEN WELT). Regie: Ridley Scott. GB/US 1979.

BABYLON 5. Idee: J. Michael Straczynski. US 1993–1998.

GAME OF THRONES. Idee: David Benioff und D. B. Weiss. US 2011–2019.

STAR TREK: NEXT GENERATION (RAUMSCHIFF ENTERPRISE – DAS NÄCHSTE JAHRHUNDERT). Idee: Gene Roddenberry. US 1987–1994.

STAR TREK: THE ORIGINAL SERIES (RAUMSCHIFF ENTERPRISE). Idee: Gene Roddenberry. US 1966–1969.

STRANGER THINGS. Idee: Matt Duffer und Ross Duffer. US 2016–.

TRUE BLOOD. Idee: Alan Ball. US 2008–2014.

THE BAMPIRE BIARIES. Idee: Kevin Williamson und Julie Plec. US 2009–2017.

Zitierte Werke

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